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Berlin. Zehn lange Jahre hat es kein neues Weißbuch zur sicherheitspolitischen Lage der Bundesrepublik Deutschland mehr gegeben. Zehn lange Jahre musste die Bundeswehr – bereits über alle Maßen beansprucht mit Transformation und Neuausrichtung – ohne den Generalkurs eines solchen Grundsatzdokuments deutscher Außen- und Wehrpolitik auskommen. Wie die Fahrt durch die Zeit ohne Kompass endete, beschrieb schonungslos Chefkommentator Jacques Schuster im Mai dieses Jahres für die Welt. „Jede Regierung […] strich und kürzte, ließ Kasernen verrotten und verscherbelte Material, das wenigstens zur Abschreckung notwendig gewesen wäre, von der Verteidigung [ganz] zu schweigen.“ Mit diesen Folgen, so Schuster in seinem Debattenbeitrag, mit „dieser Ruine Bundeswehr“, habe es nun Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zu tun. Anders als bei ihren beiden Vorgängern Thomas de Maizière (CDU) und davor Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) habe man den Eindruck, dass sie die Notlage nicht nur erkannt habe, sondern endlich auch Maßnahmen ergreife, diese zu lindern. Hier nun passt ins Bild, dass Ministerin von der Leyen am Mittwoch dieser Woche (13. Juli) in Berlin das „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ vorstellen konnte. Mit berechtigtem Stolz wies sie dabei auch darauf hin, dass diese Basispublikation in einem „breiten, transparenten und offenen Prozess“ entstanden sei. Das letzte Weißbuch war 2006 unter dem damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) veröffentlicht worden.

„Die Werte unserer Bundeswehr sind universell: das Recht und die Freiheit tapfer zu verteidigen und dem Frieden in der Welt zu dienen. Aber die Rahmenbedingungen haben sich seit dem Weißbuch von 2006 dramatisch verändert.“ Dies sagte Ursula von der Leyen am 29. Oktober 2014 bei der damaligen Bundeswehrtagung in Berlin. Und sie appellierte: „Wir müssen beides schaffen: Unser Engagement bei der Bewältigung von Krisen und unsere Partner- und Bündnisfähigkeit aufrechterhalten und zugleich den Materialerhalt und die Rüstungsbeschaffung kräftig optimieren und uns als Dienstherr und Arbeitgeber modernisieren. Die sicherheitspolitischen Realitäten lassen uns nicht die Wahl, das eine zu tun und das andere zu lassen.“

Vor diesem Hintergrund sei es zwingend erforderlich, strategische Linien immer wieder auf Aktualität zu überprüfen und anzupassen. Gemeinsam mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sei sie deshalb zu dem Ergebnis gekommen, so die Verteidigungsministerin vor gut zwei Jahren, dass es wieder an der Zeit sei, ein neues Weißbuch zu erarbeiten. „Mit einem angepassten Weißbuch gewinnen wir ebenso Selbstvergewisserung wie programmatisches Denken nach vorne. Mir geht es darum, von Anfang an – ganz im Sinne der Vernetzten Sicherheit – alle betroffenen Ressorts aktiv einzubeziehen und den Prozess auch darüber hinaus zu öffnen“, lauteten damals in der Bundeshauptstadt von der Leyens Zielvorgaben.

Immer auch eine behutsame Annäherung an die Realität

Mit dem Thema „Das Weißbuch zur Verteidigungspolitik“ hatten sich im Februar vergangenen Jahres – gut vier Monate nach der Ankündigung der Ministerin – ausführlich Hilmar Linnenkamp und Christian Mölling befasst. In ihrem Gemeinschaftsbeitrag für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) erinnerten sie daran, dass alle bisherigen deutschen Bundeswehr-Weißbücher im „typischen ministeriellen Abstimmungsverfahren, bei dem Widersprüche geglättet und Dilemmata ausgespart werden“, entstanden seien.

Weißbücher bezeichnen die SWP-Autoren „als vorsichtige Annäherung an die Realität“. Keine Regierung werde darin eine Bedrohung erwähnen, auf die sie keine Antwort habe, oder einen Erstellungsprozess initiieren, der scheitern könnte.

Weißbücher vermittelten zudem „einen objektiv-sachlichen Eindruck“. Linnenkamp und Mölling: „Sie werfen einen Blick in die Zukunft, benennen sicherheitsrelevante Risiken, definieren darauf bezogene Interessen und Ziele des Staates und leiten aus ihnen geeignete Instrumente und Mittel ab.“ Gleichzeitig seien Weißbücher „programmatische Dokumente“, die sich auf das aktuelle politische Geschehen bezögen. „Gegenüber Öffentlichkeit und Partnern rechtfertigt die Regierung in ihnen ihr Vorgehen. Sie begründen Umstrukturierungen, Kürzungen, auch künftige Rüstungsprojekte. Schließlich liefern sie Begründungen für neue Konzepte und Schwerpunkte der Regierungsarbeit.“

Grundlagendokument mit breiter gesellschaftlicher Beteiligung

Das „Weißbuch 2016“ unterscheidet sich zumindest in seiner Entstehungsgeschichte grundlegend von den bislang zehn in Deutschland aufgelegten Weißbüchern zur Verteidigung, Sicherheit und Bundeswehr. Von der Leyen und Steinmeier haben Wort gehalten, es war ein offener Findungsprozess! Es ist das erste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands, das auf einer inklusiven Beteiligungsphase aufbaut. Nationale und internationale Experten konnten sich in die Diskussion über die Zukunft deutscher Sicherheitspolitik einbringen. In zehn Workshops wurden dabei so zentrale Themen wie „Krisenfrüherkennung“, „Hybride Kriegführung“ oder „Cybersicherheit“ behandelt. Mehr als 500 Experten-und Fachgespräche ergänzten diese Veranstaltungen. Es gab dabei vielfältige Impulse – unter anderem von Akteuren aus dem politisch-parlamentarischen Raum, aus der Wirtschaft und Industrie sowie aus der Wissenschaft. Auch Vertreter von Gewerkschaften und Verbänden, aus dem Bereich der Stiftungen, der Religionsgemeinschaften oder der Medien meldeten sich zu Wort. Interessierte Bürger konnten sich ebenfalls auf unterschiedliche Weise am Entstehen dieses neuen „Leitfadens für die sicherheitspolitischen Entscheidungen und Handlungen Deutschlands“ beteiligen. Auch Partnernationen und internationale Organisationen waren in den Partizipationsprozess eingebunden.

Das Dokument wurde schließlich in einem Redaktionsprozess vom Verteidigungsministerium und in enger Zusammenarbeit mit den Ressorts – insbesondere dem Auswärtigen Amt – erstellt. Es ist, wie ursprünglich von den Initiatoren auch vorgesehen, ausdrücklich ein Weißbuch der Bundesregierung geworden. Ehe Verteidigungsministerin von der Leyen dieses „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ der Öffentlichkeit vorstellte, war das Grundlagendokument vom Bundeskabinett verabschiedet worden.

Verheerende Kriege und dramatische Konflikte direkt vor Europas Haustüre

Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich im Vorwort zum „Weißbuch 2016“ über das tiefgreifend veränderte Umfeld Deutschlands. Sie schreibt besorgt: „Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass wir die Errungenschaften der europäischen Nachkriegsordnung nicht für selbstverständlich halten dürfen. Dass Grenzen völkerrechtswidrig mit militärischer Gewalt verschoben werden, hatten wir im Europa des 21. Jahrhunderts nicht mehr für möglich gehalten. Direkt vor unserer europäischen Haustür wüten Kriege und Konflikte, die bereits Hunderttausenden Menschen das Leben gekostet und Millionen entwurzelt haben. Gleichzeitig werden schwache und scheiternde Staaten zum Nährboden für den islamistischen Terrorismus, der auch uns in Deutschland und Europa direkt bedroht. Mehr und mehr werden Konflikte auch im Cyberraum ausgetragen; das Internet ist nicht nur eine Kraft für das Gute, dort machen sich auch Hass- und Gewaltideologien breit.“

Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht verpflichte unser Land dazu, so die Kanzlerin weiter, im Verbund mit den europäischen und transatlantischen Partnern Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen, um gemeinsam Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht zu verteidigen.

Das „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ beschreibe dabei die Grundlagen und den Rahmen deutscher Sicherheitspolitik. Das Dokument identifiziere für die gesamte Bundesregierung Gestaltungsfelder deutscher Sicherheitspolitik und lege die Basis der künftigen Ausrichtung der Bundeswehr als eines der sicherheitspolitischen Instrumente des Landes.

Merkel an die Adresse der Streitkräfte: „Unsere Bundeswehr hat in den vergangenen Jahren in zahlreichen Auslandseinsätzen gemeinsam mit unseren Verbündeten, Partnern und zusammen mit den Polizistinnen und Polizisten sowie zivilen Helferinnen und Helfern einen wichtigen Beitrag zum Frieden in der Welt geleistet. Sie wird auch künftig gefordert sein. In jedem ihrer Einsätze drückt sich unsere Bereitschaft aus, Frieden und Sicherheit zu bewahren und unsere Freiheit entschlossen zu verteidigen. Die Bundesregierung hat daher die Verantwortung und Verpflichtung, die Bundeswehr mit den erforderlichen Ressourcen auszustatten.“

Deutschlands sicherheitspolitischer Horizont ist jetzt global

Die Verteidigungsministerin ging bei ihrer Pressekonferenz am Mittwoch in Berlin auch kurz auf die Kernpunkte des neuen obersten sicherheitspolitischen Grundlagendokuments Deutschlands ein (Anm.: Einen Großteil des Ministerstatements dokumentiert das phoenix-Video am Schluss unseres Beitrages).

So befasste sich Ursula von der Leyen mit der gewachsenen Verantwortung Deutschlands in der Welt und erinnerte an die Münchner Sicherheitskonferenz von 2014, bei der Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Steinmeier und sie bereits eine entsprechende neue Linie skizziert hätten (wir hatten darüber berichtet). Deutschland beweise in den aktuellen Krisen, dass es zu seiner sicherheitspolitischen Verantwortung stehe. „Und auch, dass wir bereit sind, zu führen“, so die Ministerin. Gegenwärtig habe man an es mit einer „nie da gewesenen Parallelität und Größenordnung von Krisen und Konflikten“ zu tun. Deutschland stehe aufgrund seiner wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bedeutung und angesichts seiner Verwundbarkeit deshalb jetzt und künftig in der Verantwortung, „die globale Ordnung aktiv mitzugestalten“. Im Weißbuch wird dieser neue Anspruch so formuliert: „Deutschlands sicherheitspolitischer Horizont ist global.“

Dieser Gestaltungsanspruch und die gestiegenen Erwartungen an die außen- und sicherheitspolitische Rolle Deutschlands verlangten auch – nach den Kürzungen und Schrumpfungen der vergangenen Jahre – eine spürbare Trendwende, so von der Leyen weiter. Vor dem Hintergrund der wachsenden Aufgaben soll die Bundeswehr mehr Personal und eine bessere Ausrüstung erhalten. Nach dem „Eckwertebeschluss 2017“ des Bundeskabinetts vom 23. März 2016, der auf einem Verteidigungsetat für das Jahr 2016 in Höhe von 34,287 Milliarden Euro beruht, soll der Wehretat in den kommenden Jahren stetig steigen. Für das Jahr 2017 sind 36,611 Milliarden Euro veranschlagt, danach 36,859 Milliarden (2018), 37,850 Milliarden (2019) und schließlich 39,176 (2020). Diese Größenordnungen liegen immer noch unter dem von allen NATO-Mitgliedern akzeptierten Ziel der „zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die Verteidigung“. Derzeit investiert Deutschland etwa 1,2 Prozent seines BIP.

NATO, Europa und Aspekte der Inneren Sicherheit

Ein weiterer Kernpunkt betrifft die NATO. Wie es im Weißbuch heißt, müsse der „europäische Pfeiler“ des Bündnisses gestärkt werden. Wörtlich: „Deutschland ist hier bereit, in Vorleistungen zu treten und in einer erheblichen Breite als Rahmennation zu wirken.“ Zugleich will sich Deutschland auch stärker in Friedensmissionen der Vereinten Nationen engagieren und dort ebenfalls mehr Führungsverantwortung übernehmen.

Langfristig strebt Deutschland auch eine gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion an. Ebenfalls ein „Fernziel“ ist ein ständiger Sitz Deutschlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.

Zu den neuen Aufgaben der Bundeswehr soll – so schlägt es das Weißbuch vor – die Unterstützung im Innern bei massiven Terroranschlägen kommen. In solchen Fällen sollen Soldaten den Polizei- und Katastrophenschutzkräften helfend zur Seite stehen. Entsprechende Übungen werden jetzt vorbereitet.

Das Weißbuch sieht auch vor, dass sich einmal die deutschen Streitkräfte für „EU-Ausländer“ öffnen sollen. Verteidigungsministerin von der Leyen machte in Berlin allerdings klar, dass dies nicht „in Kürze“ passieren werde. (Anm.: Wir werden einige zentrale Punkte des neuen Weißbuches in kommenden Beiträgen näher beleuchten.)

DBwV spricht von einer „seit langer Zeit überfälligen Klarstellung“

Der Deutsche Bundeswehr-Verband (DBwV) zeigte sich nach der Vorstellung des „Weißbuches zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ zufrieden. Oberstleutnant André Wüstner, Bundesvorsitzender der Interessenvertretung, meinte am Mittwoch: „Das neue Weißbuch ist ein gutes, wichtiges und notwendiges Dokument. Deutlicher als je zuvor werden darin die sicherheitspolitischen Herausforderungen beschrieben und die Aufgaben der Bundeswehr abgeleitet. Angesichts eines dramatisch veränderten und enorm komplexen Gefährdungsspektrums hat der DBwV diese Klarstellungen lange eingefordert.“

Aber es gab auch heftige Kritik – vor allem aus den Reihen der parlamentarischen Opposition. Statements, Stimmen und einige repräsentative Medienkommentare zum neuen „Leitfaden für die sicherheitspolitischen Entscheidungen und Handlungen Deutschlands“ haben wir im zweiten Teil unseres Beitrages für Sie zusammengestellt.


Video-Hinweis: Das Video des YouTube-Kanals von phoenix, dem Ereignis- und Dokumentationskanal der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, zeigt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am 13. Juli 2016 bei der Präsentation des neuen Weißbuches vor der Presse in Berlin.
(Video: phoenix)

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Zu unserem Bildmaterial:
1. Bei seiner Sitzung am 13. Juli 2016 befasste sich das Bundeskabinett auch mit dem neuen „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“. Im Bildvordergrund die Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen.
(Foto: Christian Thiel/Bundeswehr)

2. Ministerin von der Leyen bei der Vorstellung des neuen Weißbuches am 13. Juli 2016 in Berlin.
(Foto: Christian Thiel/Bundeswehr)


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