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Berlin. Die NATO will ihre Verteidigungsfähigkeiten massiv ausbauen. Doch damit Deutschland seinen Anteil an diesen Zielen tragen kann, braucht die Bundeswehr laut Verteidigungsminister Boris Pistorius bis zu 60.000 zusätzliche aktive Soldaten. Dies sagte der SPD-Politiker jetzt im Vorfeld des anstehenden NATO-Gipfels (am 24. und 25. Juni im niederländischen Den Haag). In der gestrigen ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ äußerte sich Pistorius unter anderem zum Personalumfang der deutschen Streitkräfte, zu einem Freiwilligendienst bei der Bundeswehr und zur möglichen Wiedereinführung der Wehrpflicht. Er nahm auch Stellung zum umstrittenen „Manifest“-Grundsatzpapier der „SPD-Friedenskreise“.

In dem „Manifest“ fordern mehr als 100 SPD-nahe Personen – allen voran der frühere Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, der Außenpolitiker Ralf Stegner, Ex-Parteichef Norbert Walter-Borjans sowie Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel – einen radikalen Kurswechsel in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie parallel dazu Gespräche mit Russland beziehungsweise Wladimir Putin. Gefordert wird in dem Papier „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“ der Genossen um Mützenich auch ein Stopp der Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland.

Zunächst jedoch sprach Moderatorin Anna Engelke am gestrigen 15. Juni im „Bericht aus Berlin“ mit Minister Pistorius jedoch über die Truppenstärke und Personallage der Bundeswehr. Mit Stand 30. April 2025 sichern momentan mehr als 263.000 Männer und Frauen – 182.496 in Uniform und 80.770 in Zivil – die personelle Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte. Im Einzelnen dienen derzeit 112.789 Zeitsoldaten, 57.688 Berufssoldaten, 11.818 freiwillig Wehrdienst Leistende sowie 201 freiwillig Wehrdienst Leistende im Heimatschutz.

Wir dokumentieren Teile des Pistorius-Interviews mit Genehmigung des ARD-Hauptstadtstudios/Sendeformat „Bericht aus Berlin“. Der Text wurde von uns leicht redigiert.

Investitionen in die Infrastruktur seit 2023 „um 20 bis 25 Prozent“ erhöht

Anna Engelke, Chefredakteurin Radio im ARD-Hauptstadtstudio: Es kann ernst werden. 180.000 Soldatinnen und Soldaten hat die Bundeswehr. Übernächste Woche ist NATO-Gipfel und dann kommen die neuen NATO-Anforderungen. Herr Minister – Sie haben bereits gesagt, dass die Bundeswehr wahrscheinlich 260.000 Soldaten stark werden müsste. Wie soll das ohne Wehrpflicht gehen? Vor allen Dingen, wenn man drauf schaut, dass sich ja die Experten auch für eine Wehrpflicht aussprechen und nicht nur für einen freiwilligen Dienst?
Boris Pistorius: Die Experten können sich gerne alle für eine Wehrpflicht aussprechen. Ich will nur noch mal darauf hinweisen: Eine Wehrpflicht eines ganzen Männerjahrgangs – und wir reden angesichts der Grundgesetzlage bislang nur von Männern – würde bedeuten, dass wir jedes Jahr etwa 360.000 Männer, die 18 werden und dann eingezogen werden müssten, hätten. Selbst wenn ich diejenigen, die die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht erfüllen, abziehe oder diejenigen, die verweigern, blieben wahrscheinlich immer noch 150.000 oder mehr Kandidaten übrig. In welchen Kasernen sollen die wann ausgebildet werden? Wir haben die Kasernen nicht mehr, und wir haben die Unterkünfte nicht mehr. Die bauen wir aber wieder mit Nachdruck auf. Wir haben unsere Investitionen in die Infrastruktur seit meinem Amtsantritt Jahr für Jahr um 20 bis 25 Prozent erhöht. Das heißt, wir nehmen Tempo auf. Jetzt geht es zunächst darum: Wir steigen mit einem Wehrdienst ein – einem erweiterten freiwilligen, attraktiven Wehrdienst – und beobachten sehr genau die Lage. Und ja, ich gebe allen Recht, die sagen: Es müssen Vorkehrungen getroffen werden für den Zeitpunkt X, zu dem die Freiwilligen nicht mehr reichen. Das werden wir im Gesetzgebungsverfahren miteinander diskutieren.

Engelke: Das „Handelsblatt“ berichtet, dass Sie die Wiedereinführung der Wehrpflicht vorbereiten. Ist das so?
Pistorius: Ich kommentiere keine Berichte, die auf irgendwelchen Papieren beruhen, die aus meinem Haus nach außen gedrungen sind.

Engelke: Sie sind ja derjenige, der gesagt hat: Russland ist 2029 theoretisch in der Lage, einen NATO-Staat anzugreifen. Und wenn jetzt Deutschland hergeht und einen freiwilligen Wehrdienst einführt – was ist das für ein Signal?
Pistorius: Es ist zunächst einmal ein gutes Signal.

Engelke: Es ist freiwillig. Und es ist nicht eine Pflicht. Es ist nicht: Wir nehmen die Bedrohung durch Russland ernst?
Pistorius: Aber worauf kommt es an – die Leute zu gewinnen? Oder kommt es nur darauf an, die Pflicht, das Pflichtelement zu haben? Wir haben gerade steigende Bewerbungs- und Einstellungszahlen.

Neues Gesetz zur Beschleunigung von Beschaffung und Planung im Sommer

Engelke: Es ist ja auch ein Symbol beziehungsweise Signal, das Sie aussenden.
Pistorius: Symbole helfen mir aber nicht bei der Verteidigung. Was mir hilft, sind Soldatinnen und Soldaten, die zur Bundeswehr kommen – idealerweise freiwillig – die gut ausgebildet werden, die gut bezahlt werden – so, wie es angemessen ist für den Job, den sie machen. Wir versuchen alles, damit das gelingt. Und wenn es nicht gelingt, werden wir sofort gegensteuern – das habe ich immer gesagt.

Engelke: Das Sofort-Gegensteuern – wird sich das im Gesetzentwurf wiederfinden?
Pistorius: Das werden Sie dann sehen, wenn der Gesetzentwurf fertig ist.

Engelke: Wir haben das gerade schon erwähnt mit Russland – 2029 theoretisch in der Lage, einen NATO-Staat anzugreifen. Jetzt können ja Russland und Putin einfach hergehen und früher angreifen. Ist die Bundeswehr auch früher verteidigungsbereit?
Pistorius: Die Bundeswehr ist eingebettet als größter NATO-Partner in Europa in das Bündnis in Europa. Und von daher ist die NATO verteidigungsfähig. Natürlich ist sie das. Und was Russland jetzt könnte, wenn es sich das überlegen wollte, wissen wir alle nicht genau. Deswegen kommt es darauf an, dass wir Tempo vorlegen, dass wir die Kasernen ausbauen, dass wir Infrastruktur schaffen, dass wir Material beschaffen, dass wir schneller werden. Und auch dazu wird es im Sommer noch ein Gesetz geben, was die Beschleunigung von Beschaffung und Planung bei der Bundeswehr regelt.

SPD-„Manifest“ – Urheber verdrehen laut Pistorius Ursache und Wirkung

Engelke: Zum heftig diskutierten „Manifest“ und damit auch Gesprächsangebot an Putin. Herr Pistorius, Sie haben Ihren Genossen bereits Realitätsverweigerung vorgeworfen. Aber was sagt das aus, wenn der ehemalige SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und der aktive Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner ein solches Manifest vorlegen?
Pistorius: Das sagt vor allen Dingen eben genau das aus, dass sie einen anderen Blick auf die Realität haben, wenn sie in ihr Manifest schreiben, es hätten sich Kräfte in Westeuropa und in Deutschland durchgesetzt, die die Zukunft in einer Konfrontationsstrategie sehen. Dann ist das schlicht eine Verdrehung von Ursache und Wirkung. Nicht wir fahren diesen Kurs, sondern diesen Kurs hat Wladimir Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine und all seinen Drohungen gegen das Baltikum und andere eingeschlagen. Von daher muss man an der Stelle schon mal ansetzen. Und zum anderen sagt es aus, dass eine weitere Schlussfolgerung falsch ist: Es geht nicht darum, dass wir nicht mit Putin oder mit Russland reden wollen – insbesondere über eine Waffenruhe und alles, was danach kommen könnte. Bewiesen – ganz klar bewiesen durch Reden, durch Taten und Handeln – ist, dass Putin es nicht will. Putin will es nicht nur nicht, er tut es nicht. Und gleichzeitig bombardiert er weiter zivile Bereiche in der Ukraine mit massiver Härte. Eine klarere Antwort darauf, was er von Gesprächen hält – mit wem auch immer, mit Stegner oder Mützenich – kann es ja kaum geben. Und der letzte Punkt ist – und das muss ich auch noch mal sagen: Auch dieser Vergleich von damals mit heute geht in vielerlei Hinsicht völlig daneben. Putin ist nicht Breschnew und ist nicht Podgorny und ist nicht Jelzin oder wer da sonst noch so war. Damals ging es darum, dass die Sowjetunion genauso wie das NATO-Gebiet das Bedürfnis und den Wunsch hatte, zur Stabilisierung und nebeneinander irgendwie leben zu können. Putin ist auf Imperialismus-Kurs. Das zeigt er sehr eindringlich. Und deswegen kann es nur darum gehen, sich dem zu wappnen und gleichzeitig nie die Türen zuzuschlagen. Aber noch mal: Die Türen haben wir nie zugeschlagen.

Engelke: Stegner hat sich mit Putin-Vertrauten in Aserbaidschan getroffen. Das wird Putin freuen. Wie ist das bei Ihnen?
Pistorius: Ich weiß nicht, warum er das tut. Fragen Sie ihn selbst. Ich würde es gegenwärtig nicht tun, um es deutlich zu sagen, weil: Wir wissen doch, dass Putin dieses Spiel auch gerne spielt – Zuckerbrot und Peitsche, Annäherung, Distanzierung, wieder ein Wort in die eine Richtung, um die anderen gegen die anderen auszuspielen. Das ist exakt seine Strategie, die er insbesondere im Umgang mit Deutschland immer wieder anwendet, weil er Deutschland so gut kennt.


Randnotiz                                  

Interview mit Verteidigungsminister Boris Pistorius am 15. Juni 2025 ab 18 Uhr im ARD-Fernsehmagazin „Bericht aus Berlin“.
Das Video (2 Minuten) mit dem Minister finden Sie unter dem Link:
https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-1476900.html
Das ausführliche Video (36 Minuten) mit Minister Pistorius, dazu Bundeskanzler Friedrich Merz zum Israel-Iran-Konflikt und zum Veteranentag sowie dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jens Spahn zur Allgemeinen Wehrpflicht und früheren Maskenbeschaffung in der Coronavirus-Pandemie gibt es hier:
https://www.ardmediathek.de/video/bericht-aus-berlin/bericht-aus-berlin/ard/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2JlcmljaHQgYXVzIGJlcmxpbi8yMDI1LTA2LTE1XzE4LTAwLU1FU1o
Alle Angaben ohne Gewähr.


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Zu unserem Bildmaterial:
1. Das ARD-Interview mit Verteidigungsminister Boris Pistorius am 15. Juni 2025 führte Moderatorin Anna Engelke.
(Bildschirmfoto: Quelle ARD; Bildbearbeitung: mediakompakt)

2. Minister Pistorius am 15. Juni 2025 in der Sendung „Bericht aus Berlin“.
(Bildschirmfoto: Quelle ARD; Bildbearbeitung: mediakompakt)

Kleines Beitragsbild: Studiografik der Sendung „Bericht aus Berlin“.
(Bild: ARD-Hauptstadtstudio; Bildbearbeitung: mediakompakt)


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