Berlin/Moskau. Viele Jahrzehnte lang lagen die Historie und die gegenwärtigen Aktivitäten des sowjetisch-russischen Militärgeheimdienst GRU völlig im Dunkeln (GRU = Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije/„Hauptverwaltung für Aufklärung“). 1984 hatte Wladimir Bogdanowitsch Resun unter dem Pseudonym „Viktor Suworow“ das Buch „GRU – die Speerspitze“ veröffentlicht. Resun war Offizier der damaligen Sowjetarmee und im militärischen Gemeindienst gewesen; 1978 war er nach Großbritannien geflüchtet (und geriet dafür erstaunlicherweise nie wirklich ins Fadenkreuz Moskaus). 1992 erschienen die Erinnerungen von Juri Puschkin „GRU –Aktivitäten des sowjetischen Geheimdienstes nach der Wende“. Puschkin war ehemaliger Offizier der GRU-Dienststelle Magdeburg. Das war es dann auch schon mit (westlicher) Fachliteratur über einen der effektivsten Dienstes des Kreml. Bis jetzt! Jetzt ist die mehr als 750 Seiten umfassende Forschungsarbeit des Historikers Matthias Uhl über die „unbekannte Geschichte des sowjetisch-russischen Militärgeheimdienstes GRU von 1918 bis heute“ erschienen. Die Studie bezeichnete Sven-Felix Kellerhoff, Leitender Redakteur „Geschichte“ der Tageszeitung DIE WELT als „eine mittlere Sensation“, da Autor Uhl darin unter anderem die Topquelle „Murat“ enttarnt habe.
Über Matthias Uhl schreibt Kellerhoff in seinem am Mittwoch (16. Oktober) erschienenen WELT-Beitrag: „Der Autor […] dürfte der beste deutsche Kenner russischer Archive sein – er hat unter anderem 2020 mit sechs Kollegen den ,Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943 bis 1945‘ herausgegeben, eine lange verschollene Quelle über die NS-Führung, die in Podolsk bei Moskau unter Verschluss lag. Aber ebenso wie den Zweiten Weltkrieg kennt Uhl den Kalten Krieg – das zeigen seine Editionen über ,Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer‘ und ,BND contra Sowjetarmee‘ […] sowie seine Studie ,Krieg um Berlin?‘ [2012].“
Uhl (Jahrgang 1970) studierte von 1990 bis 1995 Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Osteuropäische Geschichte in Halle an der Saale und in Moskau.
Von 1996 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg.
Nach seiner Promotion im Jahr 2000 zum „Dr. phil.“ (Thema: „Stalins V-2. Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die Sowjetunion und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945 bis 1959“) folgten die Jahre 2000 bis 2005 als wissenschaftlicher Projektmitarbeiter der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte, kurz IfZ (Forschungsschwerpunkte waren hier unter anderem: „Sowjetische Militär- und Sicherheitspolitik in der zweiten Berlinkrise“; „Rüstungs-, Technologie- und Reparationspolitik der UdSSR nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges“; „Die DDR im östlichen Militärbündnis“ oder „Sowjetische Geheim- und Nachrichtendienste im Kalten Krieg“).
In den Jahren 2005 bis 2023 war Uhl wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau, DHI.
Seit Februar 2024 ist der Experten für die Geschichte des Kalten Krieges sowie der sowjetischen und russischen Geheim- und Nachrichtendienste als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig im „Max Weber Netzwerk Osteuropa“.
Der Dienst GRU ist einer der geheimsten und zugleich wirkmächtigsten Nachrichtendienste weltweit. Bis heute gibt es im Westen kaum gesicherte Informationen über ihn (Ausnahmen – siehe Resun und Puschkin – wurden zu Beginn genannt). Zudem war jahrzehntelang kaum ein Dokument aus den GRU-Archiven zugänglich.
Uhls Sachbuch stellt erstmals für einen breiten Leserkreis die Geschichte der GRU von ihrer Gründung 1918 bis heute dar. Der Autor kann dabei auf Dokumente aus dem Archiv des Militärgeheimdienstes zurückgreifen. Zudem beleuchtet er Operationen und Spionageaktionen während des Kalten Krieges und des heutigen Russlands – bis hin zu Mordanschlägen in Westeuropa sowie zum Einsatz der GRU bei der Besetzung der Krim und im Ukrainekrieg. Über die massiven GRU-Aktivitäten im Cyber-Raum haben wir bereits mehrfach berichtet, so beispielsweise hier.
Der Verlag Herder führte vor der offiziellen Einführung des Buchtitels „GRU – die unbekannte Geschichte des sowjetisch-russischen Militärgeheimdienstes von 1918“ mit dem Autor und Geheimdienstexperten ein Interview, das wir mit freundlicher Genehmigung des Verlages übernehmen.
Herr Uhl, die GRU, den russischen Militärgeheimdienst, kennt – dem Namen nach – fast niemand. Dabei ist dies einer der größten, gefährlichsten Geheimdienste der Welt. Für welche Aktionen war die GRU in jüngerer Zeit federführend verantwortlich?
Matthias Uhl: Im Westen bekannt wurde die GRU eigentlich erst durch die Besetzung der Krim 2014 durch die sogenannten „grünen Männchen“, Spezialeinheiten der GRU ohne Hoheitsabzeichen an den Uniformen.
Aber natürlich war dann der Giftanschlag auf den ehemaligen GRU-Oberst Sergej Skripal in Salisbury 2018 besonders spektakulär. Der sollte dafür bestraft werden, dass er gegen einen der wichtigsten Grundsätze der GRU verstoßen hat: „Rede nicht mit dem Gegner!“
Ansonsten ist der russische Militärgeheimdienst dafür bekannt, dass er aller Hochtechnologie zum Trotz immer noch intensiv auf den Einsatz menschlicher Quellen setzt. Erst [kürzlich] stellte sich heraus, dass offenbar der Generalstabschef der Republik Moldau ein Agent der GRU gewesen sein soll. 2022 wurde ein [deutscher] Oberstleutnant der Reserve zu einer knapp zweijährigen Haftstrafe verurteilt, weil er seit 2014 zahlreiche vertrauliche Unterlagen der Bundeswehr an seinen russischen Führungsoffizier übergeben hatte. Dass dieser zugleich Verteidigungsattaché an der Russischen Botschaft in Berlin war, verweist eindeutig auf die Handschrift der GRU.
Aber auch im Cyberspace ist man aktiv unterwegs, wie die jüngsten Angriffe auf Server der SPD und deutscher IT- und Rüstungsunternehmen beweisen.
Wieso ist dieser Geheimdienst dann – anders als die CIA in den USA, der israelische Mossad oder der britische MI6 – so unbekannt?
Uhl: Der Hauptgrund hierfür ist wohl, dass die GRU jahrzehntelang im Schatten des übermächtigen KGB stand.
Während Dienste wie die CIA oder der Mossad, ja selbst der MI6, offensiv mit ihrer geheimen Tätigkeit umgehen und sich als erfolgreiche Institutionen präsentieren, wohl um auch jederzeit Nachwuchs und Agenten zu gewinnen, setzt die GRU hier auf eine andere Taktik. Sie lässt so gut wie nichts über ihre Aktivitäten nach außen dringen und umgibt sich gerne mit dem Nimbus des Geheimen.
Die GRU wurde, nach Vorläufern im Zarenreich, in den Revolutionswirren 1918 gegründet. Spielte der Geheimdienst für die Geschichte – insbesondere des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs – eine wichtige Rolle?
Uhl: Im Zweiten Weltkrieg spielte die GRU eine zentrale Rolle während der blutigen Schlachten um Moskau, Stalingrad und Kursk. Die Informationen des GRU-Agenten Richard Sorge (1895–1944) im Frühherbst 1941 bestätigten Erkenntnisse des Nachrichtendienstes, dass Japan die Sowjetunion im Osten nicht angreifen werde. Dies ermöglichte es Josef Stalin, seine im Fernen Osten konzentrierten Reserve an die Front vor der sowjetischen Hauptstadt zu werfen und so der Wehrmacht eine schwere Niederlage zuzufügen.
Bei Stalingrad sorgte die Funkaufklärung der GRU dafür, dass die Achillesferse der deutschen Truppen, die unzureichende Flankensicherung durch die Verbündeten, erkannt wurde und so der Plan für die Einschließung der 6. Armee in der Stadt reifte. Von dieser Katastrophe sollte sich die Militärmaschinerie des Deutschen Reiches nicht mehr erholen. Bei Kursk wiederum lagen die deutschen Angriffspläne schon lange vor dem Beginn der letzten Offensive der Wehrmacht an der deutsch-sowjetischen Front auf den Schreibtischen der Militärführung der Roten Armee. Aus der Defensive heraus konnten dann die sowjetischen Truppen zum Angriff übergehen und Hitler endgültig die Initiative entreißen.
Im Kalten Krieg sorgte zunächst die Technikspionage der GRU dafür, dass das Geheimnis der Atombombe nur für kurze Zeit allein in den Händen der Amerikaner lag. Das machte die Sowjetunion endgültig zur Supermacht.
Während der Berlin- und Kubakrise konnte der sowjetische Militärgeheimdienst dann beispielsweise über seine Agenten im NATO-Hauptquartier die Kriegspläne der westlichen Allianz auf den Schreibtisch von Ministerpräsident Nikita Chruschtschow legen, dies lies den impulsiven Politiker in den entscheidenden Momenten der Krise besonnen handeln, so dass sich der Konflikt nicht zum Nuklearkrieg ausweitete.
Kann man sagen, dass die GRU heute ein bedeutsamer Bestandteil des Systems Putin ist?
Uhl: Was die GRU gegenüber den meisten anderen Nachrichtendiensten auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie – bedingt durch die Vielzahl der ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu Beschaffung und Auswertung von klandestinen Informationen – auf ein geheimdienstliches Instrumentarium zurückgreifen kann, von dem andere Dienste wohl nur träumen können.
Ob es um das Abfangen von elektronischer Kommunikation geht, den Einsatz von militärischen Spezialkräften oder die Aufklärung aus dem Weltraum: Auf all diese Mittel vermag der russische Militärgeheimdienst bei der Planung und Durchführung seiner geheimen Operationen zurückgreifen, ohne hierfür andere Partner ins Boot holen zu müssen.
Selbst Wladimir Putin dürfte der Militärgeheimdienst überleben. Zu wichtig ist seine Rolle als strategisches und operatives Aufklärungsinstrument des russischen Militärs. Weil die GRU hierfür auf eine höchst umfangreiche Palette von Techniken zur Gewinnung von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen zurückgreifen kann, nimmt sie einen Platz als tragende Säule in der russischen Sicherheitsarchitektur ein.
Mit Sicherheit werden wir auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts immer wieder mit Geheimdienstoperationen der GRU konfrontiert sein.
Das „Max Weber Netzwerk Osteuropa“ ist Teil einer Infrastruktur von insgesamt zehn geisteswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen im Ausland (Rom, Paris, Warschau, London, Istanbul, Beirut, Delhi, Tokio, Washington), die unter dem Dach der in Bonn ansässigen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Max Weber Stiftung stehen und in ihren jeweiligen Gastländern ähnliche Zielsetzungen verfolgen.
Die Mitarbeiter des Netzwerks koordinieren Projekte aus dem Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte (16. bis 21. Jahrhundert). Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen die imperiale und sowjetische Geschichte Russlands, die Geschichte der nichtrussischen Völker des Zarenreichs, der Sowjetunion und der nachsowjetischen Zeit, die Kontaktzonen dieser Völker und Staaten mit anderen Nachbarn sowie deren Einbettung in globale Strukturen.
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Unser Bildmaterial:
1. Uhls Sachbuch „GRU“ ist unbestritten die erste Gesamtdarstellung über den weltweit agierenden russischen Dienst. Die Arbeit entstand nach Auskunft des Autors „unter Verwendung geheimer Dokumente aus dem GRU-Sonderarchiv“.
(Buchcover: Andreas Heilmann/für wbg Theiss, ein Imprint der Verlag Herder GmbH; Bildmontage: mediakompakt)
2. Russlands Präsident Wladimir Putin (rechts im schwarzen Anzug) am 8. November 2006 bei der Eröffnung der neuen GRU-Zentrale im Norden Moskaus. Diese Aufnahme bildet zugleich den Hintergrund unseres kleinen Beitragsbildes, das ebenfalls den Buchumschlag „GRU“ zeigt.
(Bild: Pressedienst des Präsidenten der Russischen Föderation/Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz CC BY 4.0 – vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)
3. GRU-Emblem im Eingangsbereich der Moskauer Geheimdienstzentrale.
(Bild: Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz CC BY 4.0 – vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)
4. Autor Matthias Uhl.
(Foto: nr)
5. Umschlag des 1984 erschienenen Sachbuchs von Wladimir Bogdanowitsch Resun (alias Viktor Suworow). In einer damaligen Buchbesprechung über dieses mittlerweile als Rarität gehandeltes Werk hieß es: „Der Autor [beschreibt in dieser Arbeit] äußerst sachkundig und zugleich verständlich den Aufbau, die Geschichte, die Ziele, die Wirkungsweise und die Aktivitäten des nach dem früheren KGB zweitmächtigsten Geheimdienstes der Welt.“ Und weiter: „Da die GRU die Sowjetunion unbeschadet ,überlebte‘ und somit heute der Russischen Föderation dient, ist vieles in diesem Buch auch heute noch sehr aktuell. Wer immer sich für den sowjetische und russische Militärischen Nachrichtendienst interessiert, sollte dieses Buch unbedingt lesen.“ Zur Erinnerung: Diese Zeilen wurden vor rund 40 Jahren geschrieben!
(Foto: Christian Dewitz, mediakompakt)