menu +

Nachrichten



Berlin/Kopenhagen (Dänemark). Vom 6. bis zum 9. Oktober fand in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen die Jahrestagung 2023 der Parlamentarischen Versammlung der NATO (NATO Parliamentary Assembly, NATO-PA) statt. Im Mittelpunkt der Konferenz sollte ursprünglich der Ukrainekrieg mit seinen mittel- und langfristigen Folgen stehen, deren Auswirkungen auf die geopolitische Gesamtlage sowie die Weiterentwicklung und Stärkung der NATO. Dann überholten die schrecklichen Ereignisse in Israel – der Terrorangriff der Hamas auf israelische Ortschaften und Kibbuze vom 7. Oktober – die Tagesordnung im Folketing, dem Parlament Dänemarks, wo die Jahrestagung stattfand. Dort waren mehr als 250 Abgeordnete aus dem 31 Nationen umfassenden Verteidigungsbündnis sowie aus 20 Partnerländern und parlamentarischen Gremien zusammengekommen.

Die deutsche Parlamentarierdelegation wurde geleitet vom schleswig-holsteinischen Bundestagsabgeordneten Johann Wadephul (CDU/CSU). Stellvertretende Delegationsleiterin war die niedersächsische Bundestagsabgeordnete Marja-Liisa Völlers (SPD). Der Bundesrat war vertreten durch Staatsminister Rainer Robra (Bundesland Sachsen-Anhalt) und Senator Ulrich Mäurer (Bundesland Bremen).

(Anm.: Leider konnten beziehungsweise wollten weder der Bundestag noch die Abgeordnetenbüros Wadephul und Völlers dem bundeswehr-journal die Namen der sonstigen Delegationsmitglieder nennen. Als Grund wurde der Datenschutz genannt. Irritierend nur, dass der Bundestag in der Vergangenheit bei ähnlichen Versammlungen jeweils die Namen der teilnehmenden Parlamentarier veröffentlicht hat – aber vielleicht ist der Datenschutz hinsichtlich der parlamentarischen Arbeit der Volksvertreter ja inzwischen verschärft worden.)

Kapazitäten der NATO-Mitgliedstaaten künftig immer stärker gefordert

Wadephul äußerte sich nach seiner Rückkehr aus Kopenhagen gegenüber den Online-Diensten des Bundestages in einem Interview über den Verlauf und die zentralen Inhalte der Jahreskonferenz der Parlamentarischen Versammlung der NATO. Wie der CDU-Politiker berichtete, brauche es jetzt angesichts der neuen Lage im Nahen Osten politische Kraft, um in der Solidarität mit der Ukraine „nicht zu wanken“. Dies sei der einhellige Tenor bei der Jahresversammlung in Dänemark gewesen, so Wadephul. Die politischen, militärischen und finanziellen Kapazitäten der NATO-Mitgliedstaaten würden künftig immer stärker gefordert, meinte der Christdemokrat. Die Bündnismitglieder müssten deshalb nun politisch geeint auftreten, die vereinbarten finanziellen Mittel zur Verfügung stellen und die Modernisierung der militärischen Fähigkeiten „ernsthaft in Angriff“ nehmen.

Wadephul ist Fachanwalt für Medizin- und Sozialrecht. Als Bundestagsabgeordneter ist er unter anderem Stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und im Verteidigungsausschuss. Von 1982 bis 1986 war der CDU-Politiker, dessen politische Basis der Wahlkreis Rendsburg-Eckernförde ist, übrigens Zeitsoldat der Bundeswehr mit letztem Dienstgrad Major der Reserve.

Wir veröffentlichen das Interview mit Johann David Wadephul, das zunächst im Internetangebot des Parlaments erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung der Abteilung „Information und Kommunikation“ des Bundestages. Unser besonderer Dank für die Nachdruckerlaubnis gilt dem Autor Lucas Lypp.

Übrigens: Wir haben in der Vergangenheit immer mal wieder über die Parlamentarische Versammlung der NATO und deren Tagungen berichtet, letztmalig am 17. Mai 2023 und am 17. Oktober 2023.

In der Solidarität mit der Ukraine keinesfalls nachlassen

Herr Wadephul, unmittelbar vor ihrer Haustür hat die NATO durch die russische Invasion der Ukraine ein anhaltendes, gravierendes Sicherheitsproblem. Viele fragen sich: Warum kann das stärkste Militärbündnis der Welt – das freilich militärisch nicht direkt angegriffen wurde und nicht in den Krieg involviert ist – dieses Problem nicht rasch lösen? Welche neuen Vorschläge kursieren unter den Parlamentariern? Was ist der Plan?
Johann David Wadephul: Die NATO beziehungsweise ihre Mitgliedstaaten haben schon sehr viel getan, um die Ukraine zu unterstützen. Machen wir uns nichts vor: Es ging über Monate darum, den russischen Ansturm zu stoppen. Da haben die vielen Lieferungen aus dem Westen der Ukraine definitiv sehr geholfen. Worum es jetzt geht, ist der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Das ist schon sehr viel komplexer und ein Vorhaben über einen längeren Zeitraum. Hier gilt es, dass der Westen, die NATO nicht wankt. Angesichts der neuen Lage im Nahen Osten braucht es jetzt politische Kraft, in der Solidarität mit der Ukraine nicht nachzulassen. Das war auch Thema und dann einhelliger Tenor in Kopenhagen.

Zwei-Prozent-Ziel der NATO neu definiert – vom Ziel jetzt zum Ausgangspunkt

Der NATO-Gipfel in der litauische Hauptstadt Vilnius im Juli wollte ein starkes Signal Richtung Moskau und für eine Modernisierung des Bündnisses senden. Ist das gelungen?
Wadephul: Das ist definitiv gelungen. Vilnius hat letztendlich in drei Fragen eine starke Nachricht ausgesandt: in der Frage der Verteidigung, der Abschreckung und hinsichtlich der sicherheitspolitischen Zukunft der Ukraine. Die NATO ist geschlossen geblieben und konnte sich auf wegweisende Entschlüsse einigen. Allein der Beschluss, die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung zukünftig nicht als Ziel, sondern als Ausgangspunkt zu sehen, hat sicherheitspolitisch langfristige Folgen. Denn damit ist klar, dass das Bündnis seine Modernisierung und den Wiederaufbau seiner militärischen Fähigkeiten, nach den Jahrzehnten des Sparens und Schrumpfens, ernsthaft in Angriff nimmt. Und Fähigkeiten sind nun mal das A und O von Verteidigung und Abschreckung.

Eine von der Versammlung angenommene Resolution befasst sich im Nachgang zu den Vilnius-Beschlüssen der Staats- und Regierungschefs damit, die NATO „an die neuen Gegebenheiten“ anzupassen. Was für Schritte wird das konkret bedeuten?
Wadephul: Grundsätzlich ging es in Vilnius darum, das neue Strategische Konzept vom Sommer 2022 operativ umzusetzen. Mit dem neuen Konzept ist es der NATO im letzten Jahr gelungen, in weniger als sechs Monaten strategisch eine Antwort auf die neue Bedrohung durch Russland, die fortbestehenden Herausforderungen durch vielfältige Krisen an der Peripherie des Bündnisses und den Aufstieg Chinas zu finden. In Vilnius ging es natürlich primär um Russland und damit um die Ostflanke. Simpel gesagt steuert die NATO nach 20 Jahren der Priorität der Einsätze „out of area“ wieder um auf Verteidigung des Bündnisgebietes. Dafür braucht es neue Strukturen und neue Pläne. Alles das wurde über Monate vorbereitet und in Vilnius von den Mitgliedern beschlossen.

Künftige Kräftestruktur und regionale Abwehrpläne der Allianz

Eine weitere Resolution wurde angenommen zur „neuen Abschreckung und Verteidigung der NATO“. Was sind dabei die wichtigsten Punkte?
Wadephul: Zentral ist hier das „New Force Model“ des Bündnisses. Kern dieser künftigen Kräftestruktur ist die Bereitstellung von 800.000 Soldaten für die NATO mit umfangreichen Fähigkeiten in verschiedenen, jedoch grundsätzlich höheren Einsatzbereitschaften als jetzt. Sehr praktisch mit klarer Zuweisung von regionalen Verantwortlichkeiten und Unterstellungen. Ferner hat die NATO eine Reihe von regionalen Abwehrplänen entwickelt, um vor allem an der Ostflanke – vom Norden Lapplands bis zum Schwarzen Meer – jederzeit handeln zu können. Mit dem Beschluss in Vilnius haben die Mitgliedstaaten die Bereitschaft erklärt, die Pläne mit Fähigkeiten zu unterfüttern.

Die NATO hat in den letzten Jahren, über das rein Militärische und über die reine Landesverteidigung hinaus, einen immer umfassenderen Sicherheitsbegriff verinnerlicht. Welche Gefahren muss die Allianz vorrangig in den Blick nehmen?
Wadephul: Das ist zum einen die schon länger von der NATO „beackerte“ Dimension des Cyber-Raums. Hier ist viel passiert, gerade auch in der NATO und von der NATO vorangetrieben, doch das reicht nicht aus. Hier müssen alle Staaten am Ball bleiben. Das zweite Feld ist das der hybriden Bedrohungen. Da hat der russische Angriff auf die Ukraine, der begleitet war von hybriden Maßnahmen, nochmals unterstrichen, wie wichtig es ist, hier Antworten parat zu haben. Und dann ist da auch die Dimension „Weltraum“. Außer den USA spielt hier eigentlich kein weiteres NATO-Mitglied in der Oberliga der Weltraummächte Russland, China, Indien wirklich mit. Die Komplexität und die Kosten von Weltraumprogrammen laden dazu ein, sehr viel gemeinsam zu machen.

Europäer müssen mehr Fähigkeiten aufbauen und so mehr Lasten schultern

Wie stark steigen die Belastungen für Deutschland als großem Bündnispartner?
Wadephul: Sehr, sehr viele Augen richten sich derzeit auf Deutschland. Als Land in der geographischen Mitte Europas, als größte Volkswirtschaft Europas und bevölkerungsreichstes Land erwarten unsere Bündnispartner, dass wir dementsprechend unseren Beitrag in der NATO leisten. Derzeit tun wir das nicht, das muss man selbstkritisch attestieren. Weder erreichen wir das von uns 2014 zugesagte Zwei-Prozent-Ziel, noch ist es so, dass wir eine angemessen große und ausgestattete Bundeswehr unterhalten. Mit der Verkündung der „Zeitenwende“ durch Bundeskanzler Olaf Scholz ist diese Erwartung noch gestiegen. In Deutschland muss uns klar sein, dass wir „liefern“ müssen, um uns nicht politisch völlig zu blamieren.

Hat der russische Angriff auf die Ukraine bei der NATO Überlegungen zu weiteren Integrationsschritten ausgelöst?
Wadephul: Schon seit Gründung der Allianz gibt es die Diskussion um eine faire Lastenteilung, was im Grunde heißt, dass die Europäer mehr tun müssen, um die Vereinigten Staaten zu entlasten. In den 1980-Jahren waren wir da schon recht gut, derzeit aber tragen die USA deutlich mehr als den Löwenanteil. Das ist nicht nur nicht fair, sondern angesichts der Frage, ob die USA zukünftig sich mehr dem indo-pazifischen Raum widmen müssen, auch von imminent strategischer Bedeutung für uns Europäer. Wir müssen mehr Lasten schultern, indem wir mehr Fähigkeiten aufbauen. Das kann nur gelingen, wenn wir europäischen NATO-Staaten wirklich einen europäischen Pfeiler bilden. Dazu müssen wir mehr kooperieren und unsere vielen einzelnen Investitionen besser bündeln.

Die Zukunft der Ukraine liegt im Atlantischen Bündnis

Welche Bestandteile der Ukraine-Unterstützung sollten von den einzelnen Mitgliedsländern, ob koordiniert oder unkoordiniert, geleistet werden und wo sollte das Bündnis als Organisation stärker auf den Plan treten?
Wadephul: Die NATO ist nicht am Krieg in der Ukraine beteiligt und keiner ihrer Mitgliedstaaten. Die militärische Hilfe, die geleistet wird, erfolgt national durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Die NATO wirkt nur koordinierend. Zugleich aber gibt das Bündnis natürlich den einzelnen Mitgliedstaaten die nötige Sicherheit, um die völkerrechtliche Unterstützung der Ukraine leisten zu können, ohne sich von Russland erpresst oder unter Druck gesetzt zu fühlen. Wo die NATO aber als Gesamtorganisation eine Rolle spielt, stellt sich die Frage nach der zukünftigen Sicherheit der Ukraine. Hier hat die NATO in Vilnius ein wichtiges Signal gesendet: Die Zukunft der Ukraine liegt in der NATO.

Wurde der Ukraine, die eine Mitgliedschaft in der NATO anstrebt, kurzfristig ausreichend Unterstützung zugesprochen, die über Symbolhaftes hinausgeht?
Wadephul: Mit dem NATO-Ukraine-Rat hat die Allianz ein Gremium geschaffen, dessen Bedeutung man nicht unterschätzen sollte. Denn in diesem Gremium sitzen nicht 31 Vertreter von NATO-Staaten der Ukraine gegenüber, sondern die Ukraine sitzt gleichberechtigt mit am Tisch. Das gibt der Ukraine ganz andere Möglichkeiten, ihre Punkte zu adressieren – und der gegenseitige Austausch kann eine ganz andere Tiefe und Vertrautheit erlangen. Ferner wurden – und das ist kurzfristig militärisch von Relevanz – der Ukraine durch eine Vielzahl von Mitgliedstaaten umfangreiche militärische Hilfspakete zugesagt, nicht zuletzt von Deutschland. Angesichts der Intensität der Gefechte mit russischen Truppen bereits seit Monaten braucht die Ukraine diese materielle Unterstützung dringender denn je.

In der NATO künftig politisch noch stärker geeint agieren

Russland und dessen nach Europa getragener Krieg erhält momentan die volle Aufmerksamkeit der NATO. Geraten da nicht andere globale Herausforderungen aus dem Blick?
Wadephul: Während der Tagung der NATO-Parlamentarierversammlung in Kopenhagen kamen die Nachrichten vom großangelegten Terrorangriff der Hamas auf Israel. Und plötzlich drohten die wichtigen Fragen zur Ukraine völlig aus dem Blickwinkel zu geraten. Also eher war der Effekt umgekehrt als Sie ihn in Ihrer Frage vermuten. Aber es deutet sich mehr und mehr an, dass die politischen, militärischen und finanziellen Kapazitäten der NATO-Mitgliedstaaten immer weiter gefordert werden. Quasi in allen Himmelsrichtungen. Das könnte absehbar zu einer Überforderung führen. Deswegen müssen wir in der NATO alles unternehmen, um so schnell wie möglich unsere militärischen Fähigkeiten zu verbessern und auszubauen und politisch mehr denn je geeint zu agieren.


Besuchen Sie uns auf https://twitter.com/bw_journal


Zu unserem Bildmaterial:
1. Jahreskonferenz der Parlamentarischen Versammlung der NATO vom 6. bis zum 9. Oktober 2023 in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen – Blick ins Plenum der Versammlung, die im Parlament von Dänemark, dem Folketing, tagte.
(Foto: NATO PV)

2. Neuer Präsident der Parlamentarischen Versammlung der NATO ist der Pole Michal Szczerba (Platforma Obywatelska, PO/Bürgerplattform). Die bisherige Präsidentin, die Französin Joëlle Garriaud-Maylam, war nicht mehr zu den Senatswahlen in ihrem Heimatland angetreten und hatte damit auch ihr Mandat als Präsidentin der Versammlung aufgegeben.
(Foto: NATO PV)

3. Mitglieder der deutschen Delegation im großen Folketing-Sitzungssaal.
(Foto: NATO PV)

4. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Johann David Wadephul, Leiter der deutschen Delegation bei der Jahrestagung 2023 der Parlamentarischen Versammlung der NATO in Kopenhagen. Das Symbolbild zeigt den Abgeordneten am 15. Januar 2014 im Paul-Löbe-Haus des Bundestages bei der konstituierenden Sitzung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung. Wadephul hatte damals den Ausschussvorsitz übernommen.
(Foto: Achim Melde/Deutscher Bundestag)

Kleines Beitragsbild: Das Symbolbild zeigt im Vordergrund die Flagge der Parlamentarischen Versammlung der NATO, dahinter die blaue Flagge der Allianz.
(Foto: nr)


Kommentieren

Bitte beantworten Sie die Frage. Dies ist ein Schutz der Seite vor ungewollten Spam-Beiträgen. Vielen Dank *

OBEN