Berlin. „Ein Vierteljahrhundert des Schrumpfens der Bundeswehr ist vorbei.“ Es war fast schon eine historisch anmutende Ankündigung, die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am 10. Mai vergangenen Jahres in Berlin vor der Presse formulierte. Und in der Tat: die damalige Präsentation ihres neuen Konzepts „Trendwende Personal“ bedeutet eine tiefe Zäsur für die deutschen Streitkräfte. Nach mehr als 25 Jahren des Personalabbaus soll und wird die Truppenstärke wieder zunehmen. Am Dienstag dieser Woche (21. Februar) gab die Ministerin nun bekannt, dass sich „der Zielumfang der Bundeswehr bis 2024 auf insgesamt 198.000 Soldatinnen und Soldaten und der haushälterische zivile Zielumfang auf rund 61.400 Haushaltsstellen“ erhöhen werden. Denn: „Mit ihren Aufgaben muss auch die Bundeswehr wachsen dürfen“, argumentiert von der Leyen.
Am Tag der Deutschen Einheit – am 3. Oktober 1990 – hatte die Bundeswehr in den alten und neuen Bundesländern rund 585.000 Soldaten. Der Personalumfang der Uniformträger sank danach in den nächsten Jahren rapide: von 335.000 im Jahr 1994 über 277.000 im Jahr 2000 bis hin zum historischen Tiefstand von 176.015 Aktiven im Juni 2016.
Von der Leyen hat mit der „Trendwende Personal“ auch einen grundlegenden Kulturwandel in der Bundeswehr eingeleitet: statt wie in der Vergangenheit üblich an starren Obergrenzen, orientieren sich die Planer jetzt an einem „atmenden“ Personalkörper, um „flexibler und agiler auf aktuelle Herausforderungen reagieren zu können“ (so das Ministerium). Eine jährliche Überprüfung des Personalbedarfs und gegebenenfalls rasche Anpassung an neue Gegebenheiten soll helfen, den optimalen Personalumfang unserer Streitkräfte zu bestimmen.
Diese Aufgabe der Feinjustierung hat das sogenannte „Personalboard“ übernommen, das jeweils im Februar unter Leitung der Ministerin tagt. Seine Bedarfsermittlung fließt als Empfehlung mit ein in die aktuelle parlamentarische Haushaltsplanung. Über die Arbeit des Personalboards, die mittelfristige Personalplanung, heißt es im ministeriellen Tagesbefehl: „[Diese Personalplanung] erfasst und analysiert in einem jährlichen Zyklus die Bedarfe der Bundeswehr. Hierbei wird eine Realisierbarkeitsprüfung der Einzelmaßnahmen in den Bereichen Organisation, Personal, Infrastruktur, Wehrmaterial, IT-Services und Haushalt mit einem Betrachtungszeitraum von sieben Jahren vorgenommen.“
Das Personalboard bilden – neben der Bundesministerin der Verteidigung – die vier Staatssekretäre des Ressorts, der Generalinspekteur und dessen Stellvertreter sowie zuständige Spitzenkräfte des Ministeriums, beispielsweise die Abteilungsleiter „Personal“ und „Planung“.
Das erste Personalboard hatte im Vorjahr bereits einen geplanten Aufwuchs bis zum Jahr 2023 von rund 7000 zusätzlichen militärischen Dienstposten sowie rund 4400 Haushaltsstellen für Zivilbeschäftigte vorgeschlagen. Darüber hinaus weitere 500 Stellen für Reservedienst Leistende (RDL) plus eine Erhöhung des Fixanteils bei den Freiwilligen Wehrdienst Leistenden (FWDL) auf 8500 Dienstposten unter Erhalt der Gesamtzahl von maximal 12.500.
Die Kommission, die am Dienstag dieser Woche tagte, hat sich jetzt schwerpunktmäßig mit Personallücken in den verschiedenen Bereichen der Truppe befasst. Verteidigungsministerin von der Leyen hatte dies bereits am 20. Januar während einer Bundestagsdebatte zum „Jahresbericht 2015“ des Wehrbeauftragten angedeutet: „Nicht überall ist es [bei der Bundeswehr personell] knapp. Zum Teil gibt es einige seltene Ausnahmen, wo wir gut aufgestellt sind und genug, wenn nicht sogar zu viel haben. Wir werden gezielt deutlich machen, wo die Lücken sind.“
Im Ergebnis prognostiziert das Personalboard 2017 nun für die kommenden sieben Jahre einen Bedarf von weiteren 5000 militärischen, 1000 zivilen Dienstposten sowie 500 zusätzlichen Stellen für Reservisten. Der Zielumfang der Bundeswehr bis 2024 wird sich somit auf insgesamt 198.000 Soldatinnen und Soldaten und rund 61.400 Haushaltsstellen für zivile Beschäftigte erhöhen. Von der Leyen dazu in ihrem Tagesbefehl: „Diese zusätzliche Erhöhung ergänzt die Planungen des zurückliegenden Jahres.“
Wie nun der Aufwuchs realisiert werden soll, erläutert ein Pressetext des Ministeriums: „Der Aufwuchs des zivilen Personals bis 2024 wird hauptsächlich durch Erhöhung der Einstellungsquoten erreicht. Zudem soll vorhandenes qualifiziertes Personal herangezogen werden, indem Personal im Rahmen des ursprünglich vorgesehenen sozialverträglichen Personalabbaus nunmehr wieder dauerhaft wahrzunehmende Aufgaben übertragen wird. Unterstützt wird die Erhöhung des Umfangs der zivilen Mitarbeiter durch die gezielte Ansprache ausscheidender Zeitsoldaten im Rahmen des Binnenarbeitsmarktes für Tätigkeiten im zivilen Bereich der Bundeswehr.“
Zum personellen militärischen Aufwuchs erfahren wir folgende Details: „Der weitere personelle militärische Aufwuchs bis 2024 wird maßgeblich durch die Verschiebung des anzustrebenden durchschnittlichen Zurruhesetzungsalters (unter Beibehaltung des bisherigen gesetzlichen Rahmens der besonderen und allgemeinen Altersgrenzen), die spürbare Erhöhung der Übernahmequoten zum Berufssoldaten sowie die Anhebung der durchschnittlichen Verpflichtungszeit bei den Fachunteroffizieren erreicht. Somit kann vermehrt bewährtem Personal eine längerfristige Perspektive beim Arbeitgeber Bundeswehr aufgezeigt werden. Dieser kann im Gegenzug dauerhaft auf die gewonnenen Erfahrungen zurückgreifen. Dies stärkt zugleich die Demografiefestigkeit des militärischen Personalkörpers. Dazu dient auch die Erhöhung des Anteils der Berufssoldaten um 6000 auf 56.000.“
Insgesamt sind 99 Einzelmaßnahmen geplant, um – so das Ministerium – „die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr zu steigern“. Dazu gehören unter anderen Spezialisten für den neuen Organisationsbereich Cyber- und Informationsraum, Besatzungen für die Korvetten K130 (zweites Los), Stärkung der Unterstützungskräfte der Streitkräftebasis (Bereiche Logistik und ABC-Abwehr), Aufstellung eines 6. Panzerbataillons, Ausbau der Bundeswehr-Sanitätsversorgung im In- und Ausland sowie weitere Schritte, mit denen der Dienstherr die Auswirkungen der EU-Arbeitszeitrichtlinie abfedern will.
Ursula von der Leyen erläuterte in Berlin die Hintergründe, die zu dieser Personalempfehlung beigetragen haben. Sie sagte: „Die Bundeswehr ist gefordert wie selten zuvor. Etwa im Kampf gegen den Terror des ,Islamischen Staates‘, bei der Stabilisierung Malis, der anhaltenden Unterstützung Afghanistans, gegen den Menschenschmuggel im Mittelmeer und in der Ägäis oder mit unserer erheblichen Präsenz für die NATO im Baltikum.“ Die Analysen des aktuellen Weißbuchs legten nahe, so die Ministerin, dass das Anforderungsprofil an die Truppe eher noch breiter werde – etwa bei der Abwehr von Gefahren aus dem Cyberraum. Dafür brauche man ausreichend qualifiziertes Personal. „Wir setzen alles daran, hohle Strukturen – auch beim Material – aufzufüllen. Wir gehen jetzt den im vergangenen Jahr mit der ‚Trendwende Personal‘ eingeschlagenen Weg konsequent weiter. Mit ihren Aufgaben muss auch die Bundeswehr wachsen dürfen“, forderte die CDU-Politikerin.
Die Reaktionen in der Bundeshauptstadt auf die Schaffung zusätzlicher neuer Stellen bei der Bundeswehr fielen unterschiedlich aus. Eine große Rolle spielte dabei auch die Tatsache, dass es dem Ministerium zum Jahresende 2016 immer noch nicht gelungen war, das gesetzte Personalstärkeziel bei den Zeit- und Berufssoldaten – die magische „170.000“ – zu erreichen.
Im BMVg kommuniziert man diesen Umstand allerdings trotzig positiv: „Nach dem historischen Tiefstand von rund 166.500 [Berufs- und Zeitsoldaten] im Juni 2016 konnte der Bestand bis Jahresende auf rund 168.300 erhöht werden. Erreicht wurde dies vor allem durch eine herausragende Personalgewinnung und durch eine erhöhte Personalbindung. Zum Beispiel konnte die Zahl der Weiterverpflichtungen im Vergleich zum Vorjahr um 13 Prozent gesteigert werden.“ Jedoch mussten die Planer einräumen: „Ungeachtet der positiven Zahlen bleibt der Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt um die besten Köpfe weiterhin eine Herausforderung – sowohl was die Personalgewinnung als auch was die Personalbindung angeht.“
Agnieszka Brugger (Bündnis 90/Die Grünen) hält den eingeschlagenen Kurs der Verteidigungsministerin für bedenklich. Die Fraktionssprecherin für Sicherheitspolitik und Abrüstung kritisiert: „Das ist so typisch für Ursula von der Leyen. Ihre Etappenziele der ersten groß angekündigten Personalaufstockung hat sie verfehlt, nun schraubt sie einfach die unrealistischen Versprechen noch weiter nach oben. Probleme lassen sich doch nicht durch immer neue Ankündigungen und Schlagzeilen lösen.“
Grundsätzlich sei nichts dagegen einzuwenden, qualifiziertes Personal länger in der Bundeswehr zu halten. Es gebe vor dem Hintergrund des demografischen Wandels jedoch so gut wie nur eine Möglichkeit, mit der die „übereifrige Ankündigungsministerin“ ihre Ziele erfüllen könne, die Absenkung der Anforderungen. Aber, so warnte Brugger: „Es braucht Menschen mit der entsprechenden Qualifikation, hohem Reflexionsvermögen und Verantwortungsgefühl und nicht jeden Beliebigen, nur damit die Ministerin am Ende Erfolg vermelden kann. Statt dauernd leere Versprechen nach mehr Personal zu geben, braucht es klare Prioritäten, Entbürokratisierung und eine Reduzierung der Aufträge.“
Auch bei SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann fanden die Pläne von der Leyens zur Aufstockung der Bundeswehr keine ungeteilte Zustimmung. Das ganze Vorhaben zeige zunächst, dass die gesamte Bundeswehrreform verschiedener CDU-Verteidigungsminister „komplett gescheitert“ sei. „Erst hieß es radikale Verschlankung, jetzt heißt es schnelle Expansion“, rügte Oppermann im Interview mit der Saarbrücker Zeitung. Notwendig sei dagegen eine Definition, welche Fähigkeiten die Bundeswehr benötige, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. „Und das müssen wir in Abstimmung mit unseren europäischen Partnern machen, um gemeinsam mehr Effizienz und Qualität zu erzielen“, so der Sozialdemokrat.
Rainer Arnold, verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, bezeichnete von der Leyens Initiative als „Korrektur der fehlgeleiteten Reformen ihrer Vorgänger“. Er gab zusätzlich zu bedenken: „Schlüssig wird der Personalaufwuchs erst dann, wenn ihn die Ministerin mit einer veränderten Struktur unterlegt und die Infrastrukturmängel behebt.“
Dazu erklärte Arnold: „Zurzeit fehlt es noch an fast allem – an Ausrüstung, an Ausstattung, insbesondere aber an verfügbaren Unterkünften. Theoretisch ist für jeden Soldaten – unabhängig der Altersgrenzen oder Verpflichtungszeiten – ein Bett innerhalb der Kaserne vorzuhalten. Diese Maxime gilt für eine Wehrpflichtarmee ebenso wie für eine Freiwilligenarmee.“
Der SPD-Bundestagsabgeordnete wies in diesem Zusammenhang auf ein Papier der Arbeitsgruppe „Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ seiner Fraktion hin, in dem Lösungen für die desolate Situation bei den Bundeswehrunterkünften unterbreitet werden. Arnold: „Die Versäumnisse bei der Infrastruktur bestehen seit langer Zeit und sind eine ständige Frustrationsquelle für die Bewohner der teilweise maroden Liegenschaften. Zudem wird die Steigerung von verfügbaren Pendlerunterkünften für Soldaten eine entscheidende Stellschraube für mehr Attraktivität in der Bundeswehr bedeuten.“
Der außen- und sicherheitspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe, Florian Hahn, begrüßt die Empfehlung des Personalboards 2017 ausdrücklich: „Die Verteidigungsministerin verfolgt mit der erneuten Personalerhöhung konsequent die Stoßrichtung der ,Trendwende Personal‘. Klar ist, dass die Aufgaben an die Armee auch im kommenden Jahr nicht weniger werden. Die jährliche Bewertung ist daher ein wichtiger Schritt, um nicht nur den Einsatzrealitäten, sondern vor allem auch den Bedürfnissen der Truppe gerecht zu werden.“
Um einen richtigen Wandel einzuleiten, müsse diese Entscheidung aber im zweiten Schritt mit noch mehr Mitteln hinterlegt werden, forderte Hahn. „Denn nur mit einem soliden Verteidigungsetat können wir langfristig angemessen und flexibel auf das veränderte sicherheitspolitische Umfeld reagieren.“
Unsere Infografik zeigt die Personalumfänge der Bundeswehr in den zwölf Monaten des vergangenen Jahres. Dabei wird sofort deutlich, dass 2016 weder beim Gesamtumfang (aktive Soldaten insgesamt) noch im Bereich der Zeit- und Berufssoldaten noch bei den Freiwilligen Wehrdienst Leistenden – kurz FWDL – die festgeschriebenen Ziele erreicht werden konnten. Dies führt natürlich zu der Frage, wie der zusätzliche Personalaufwuchs realisiert werden soll.
Das Hintergrundbild entstand am 20. Juli 2011, dem 67. Jahrestag des Attentats auf Hitler. Rund 470 Soldaten legten an diesem Mittwoch in Berlin auf dem Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude im Rahmen eines feierlichen Appells ihr Gelöbnis ab.
(Foto: Sebastian Wilke/Bundeswehr; Infografik © mediakompakt 02.17)
Kleines Beitragsbild: 20. Juli 2015, Paradeplatz am Bendlerblock in Berlin – Einmarsch der Rekruten zum Feierlichen Gelöbnis.
(Foto: Jane Hannemann/Bundeswehr)