Liebe Leserin, lieber Leser,
Freunde des bundeswehr-journal!
Seit dem 24. Februar 2022 erschüttert Putins Expansionskrieg gegen die Ukraine die europäische Sicherheitsordnung; die Folgen und Eskalationsgefahren dieses Überfalls auf ein friedliches Nachbarland sind inzwischen von globaler Tragweite. Nach dem Terroranschlag der Hamas auf israelische Siedlungen am 7. Oktober 2023, bei der rund 1200 Menschen ermordet und 240 Geiseln aus Israel entführt wurden, marschierten israelische Truppen in den Gaza-Streifen ein und zerstörten dort nahezu die gesamte Infrastruktur; die Luftangriffe und Bodenoperationen gegen Hamas führten zu einer anhaltenden humanitären Katastrophe. Militärputsche und dschihadistische Gewalt in Afrika forderten im vergangenen Jahr weitere Tausende Opfer.
Die Auswirkungen von Konflikten und Kriege besonders auf Kinder weltweit haben 2024 ein wohl beispielloses Ausmaß erreicht. Dies geht aus einer Analyse der neuesten verfügbaren Daten sowie globalen Trends hervor, die das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations Children’s Fund, UNICEF) jetzt kurz vor dem Jahreswechsel veröffentlicht hat.
Laut der Daten für das Berichtsjahr 2023 attestierten die Vereinten Nationen einen Rekord von 32.990 schweren Kinderrechtsverletzungen gegen insgesamt 22.557 Kinder und Jugendliche. Dies ist die höchste Opferzahl seit Beginn der durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen angeordneten statistischen Erfassung.
Auch wenn für 2024 noch nicht alle Zahlen vorliegen, so rechnet UNICEF angesichts der aktuellen Entwicklungen doch mit einem weiteren Anstieg der Fälle. In Gaza beispielsweise wurden bisher Tausende von Kindern getötet und verletzt. In der Ukraine verifizierten die Vereinten Nationen in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 mehr Opfer unter Kindern als im gesamten Jahr 2023.
Laut UNICEF werden mittlerweile etwa 80 Prozent des gesamten humanitären Bedarfs weltweit durch Konflikte gebunden. Durch diese ist – neben Verwundung und Tod – auch der Zugang zu lebensnotwendigen Grundleistungen wie sauberes Wasser, Nahrungsmittel und medizinische Versorgung beeinträchtigt oder vollständig unterbrochen.
Etwa jedes sechste Kind weltweit, geschätzt rund 473 Millionen Kinder, stammen mittlerweile aus Konfliktgebieten. Laut dem aktuellen Global Peace Index des im australischen Sydney ansässigen Institute for Economics and Peace (IEP) ist dabei die Anzahl der kriegerischen Auseinandersetzungen die höchste seit dem Zweiten Weltkrieg. Dadurch hat sich auch der Anteil der Kinder weltweit, die in Konfliktgebieten leben, verdoppelt – von etwa zehn Prozent in den 1990er-Jahren auf heute fast 19 Prozent.
UNICEF nennt weitere Zahlen. In einer Pressemitteilung heißt es: „Bis Ende 2023 wurden 47,2 Millionen Kinder aufgrund von Konflikten und Gewalt vertrieben. Die [vorläufigen Zahlen] für 2024 weisen auf einen weiteren Anstieg von Vertreibungen hin, weil sich verschiedene Konflikte weiter zuspitzen – unter anderem in Haiti, im Libanon, in Myanmar, in Palästina und im Sudan.“
Kinder und Jugendliche seien überproportional von Flucht und Vertreibung betroffen, so UNICEF weiter. Sie machten rund 30 Prozent der Weltbevölkerung aus, im Durchschnitt seien jedoch rund 40 Prozent der geflüchteten Menschen und 49 Prozent der im eigenen Land vertriebenen Menschen Minderjährige. Und: „In Ländern, die von Konflikten betroffen sind, ist im Durchschnitt mehr als ein Drittel der Bevölkerung verarmt (34,8 Prozent) – verglichen mit etwas mehr als zehn Prozent in jenen Ländern, die nicht von Konflikten heimgesucht werden.“
Catherine Russell, geschäftsführende Direktorin von UNICEF sagte kurz vor Weihnachten gegenüber Medienvertretern: „In fast jeder Hinsicht war 2024 eines der schlimmsten Jahre für Kinder in Konfliktsituationen in der langen Geschichte unserer Organisation – sowohl was die Zahl der Betroffenen als auch die Auswirkungen auf ihr Leben betrifft. Ein Kind, das in einem Konfliktgebiet aufwächst, geht mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht zur Schule, ist mangelernährt und wird aus seinem Zuhause vertrieben – und das häufig mehrfach. Das darf nicht zur neuen Normalität werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Generation von Kindern zum Kollateralschaden der ungebremsten Kriege in der Welt wird.“
Russell erklärte weiter: „Kinder in Kriegsgebieten sind mit einem täglichen Überlebenskampf konfrontiert, der sie ihrer Kindheit beraubt. Ihre Schulen werden bombardiert, ihre Häuser zerstört, ihre Familien auseinandergerissen. Sie verlieren nicht nur ihre Sicherheit und den Zugang zu überlebensnotwendigen Dingen, sondern auch die Möglichkeit zu spielen, zu lernen und einfach nur Kinder zu sein. Die Welt lässt diese Kinder im Stich. Mit Blick auf 2025 müssen wir mehr tun, um das Blatt zu wenden und das Leben von Kindern zu retten und zu verbessern.“
Was nun hält das Jahr 2025 für die Welt bereit? Jedes Jahr zeigt die Emergency-Watchlist der in New York ansässigen Nichtregierungsorganisation International Rescue Committee (IRC), welche Länder voraussichtlich von eskalierenden humanitären Krisen am stärksten betroffen sein werden. Die Liste umfasst 20 Regionen. Die IRC-Prognosen für 2025 lauten:
Platz 10 – Somalia
Das ostafrikanische Land gehört zum dritten Mal in Folge zu den zehn Hochrisikoländern auf der Emergency-Watchlist. Die Gruppe al-Shabaab verübte in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 mehr als 120 Terrorangriffe. Gleichzeitig verstärkten Clan-Konflikte die Instabilität im Land. Somalia steht vor enormen Herausforderungen durch den Klimawandel mit seinen Extremen. Etwa 1,6 Millionen Kinder leiden an akuter Mangelernährung. 20 Prozent der Somalier haben kaum Zugang zu Lebensmitteln und grundlegenden Ressourcen.
Platz 9 – Mali
Der Hunger in Mali nimmt weiter zu, da der seit zwölf Jahren andauernde Konflikt eskaliert. Die malische Militärregierung und die russische Wagner-Gruppe bekämpfen Gruppierungen wie die Tuareg oder islamistische Kräfte. Dies Auseinandersetzungen blockiert oft auch den Zugang zu Lebensmitteln, Wasser und humanitärer Hilfe für Hunderttausende. Mali ist stark vom Klimawandel betroffen. 2024 haben katastrophale Überschwemmungen mehr als 350.000 Menschen vertrieben. Es zeichnen sich auch für 2025 düstere Aussichten ab.
Platz 8 – Haiti
In Haiti organisieren sich kriminelle Gruppen und verbreiten Angst und Schrecken – vor allem durch Entführungen, Erpressungen, Vergewaltigungen, Mord und Vertreibungen. Erdbeben und Hurrikane haben die Lage zusätzlich verschlimmert. Die Hälfte der Bevölkerung verfügt nicht über genügend Nahrung und andere lebenswichtige Ressourcen. Die Übergangsregierung schafft es nicht, die Sicherheit im Land zu garantieren. Banden unterbinden die Lieferung von Hilfsgütern und damit den Zugang zu Gesundheitsdiensten ein. Hunger und Krankheiten nehmen zu.
Platz 7 – Burkina Faso
Brutale Kampagnen bewaffneter Gruppen zerstören Gemeinschaften in ganz Burkina Faso. Durch die Isolation von Ortschaften sind etwa zwei Millionen Menschen vom Rest des Landes abgeschnitten, die Versorgung wurde gekappt. Angriffe auf Krankenhäuser und Schulen sind an der Tagesordnung. Anfang 2024 wurden mehr als 1800 Menschen getötet, auch das Militär soll sich an Massakern beteiligt haben. Burkina Faso wird in diesem Jahr wahrscheinlich unter Extremklima mit schweren Überschwemmungen leiden. Das Dengue-Fieber wird sich weiter ausbreiten – 2024 wurden in Burkina Faso mehr als 90.000 Dengue-Fälle registriert, darunter 91 Todesfälle. Die Armutsrate im Land liegt jetzt schon bei 43 Prozent.
Platz 6 – Libanon
Die schiitische Hezbollah-Miliz und Israel schlossen im November 2024 einen Waffenstillstand. Dieser brachte nach intensiven Kämpfen, Luftangriffen und langen grenzüberschreitenden Gefechte relative Ruhe. Der Konflikt verursachte enorme Zerstörungen und zwang 1,4 Millionen Menschen zur Flucht. Ein erneutes Aufflammen würde die 3,7 Millionen Libanesen, die bereits auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, noch mehr gefährden. Die Wirtschaft insgesamt sowie das Gesundheitssystem stehen vor dem Kollaps. 80 Prozent der Bevölkerung sowie die vielen syrischen Flüchtlinge im Land lebten bereits vor der jüngsten Eskalation in bitterer Armut.
Platz 5 – Südsudan
Der Binnenstaat in Ostafrika leidet vor allem unter den Auswirkungen des Konflikts im benachbarten Sudan und unter eigener politischer Instabilität. Landesweite Gewalt und eine schwere wirtschaftliche Krise verschärfen die Situation zusätzlich. Ein fragiles Friedensabkommen, das den Bürgerkrieg in Südsudan beendete, läuft im Februar 2025 aus, es droht ein erneuter Konflikt. Verheerende Überschwemmungen haben die Nahrungsmittelproduktion zerstört. Experten schätzen, dass mehr als 2,1 Millionen Kinder in Südsudan 2025 von Unterernährung betroffen sein werden. Schon jetzt hat das Land Schwierigkeiten, die rund 878.000 sudanesischen Geflüchteten zu versorgen.
Platz 4 – Syrien
Ende November 2024 stürzten Rebellen das diktatorische Regime Syriens. Staatspräsident Baschar al-Assad floh nach Moskau. Die Gewalt der letzten Jahre hat zu einer Vertreibungskrise mit 13,8 Millionen Menschen geführt und die Bevölkerung insgesamt in große Armut gestürzt. Ob die aktuellen Veränderungen es den Syrern ermöglichen werden, ihr Leben neu aufzubauen, ist fraglich. In der Vergangenheit kämpften bewaffnete Gruppen auch untereinander – diese Kämpfe könnten wieder ausbrechen. Zusätzliche türkische Militäraktionen im Norden Syriens könnten die Lage weiter verschärfen. Zudem könnten Gruppen wie der „Islamische Staat“ (IS) das entstandene Chaos zur weiteren Destabilisierung nutzen. Dürre wird wohl auch 2025 den Zugang zur Wasserversorgung einschränken, schon jetzt breitet sich die Cholera weiter aus.
Platz 3 – Myanmar
Seit der Machtübernahme durch das Militär im Jahr 2021 hat die Gewalt im südostasiatischen Myanmar (früher Burma) zugenommen. Langjährige Aufstände haben sich ausgeweitet und zu einem größeren Konflikt geführt, der mehr als drei Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat. Zyklone und Überschwemmungen zerstören weiterhin die Lebensgrundlagen von Gemeinschaften. Das Wasser- und Gesundheitssystem kann die steigenden Grundbedürfnisse nicht mehr decken. Die landesweite Gewalt zwischen Regierungskräften und Regierungsgegnern wird anhalten, nachdem ein kurzer Waffenstillstand gescheitert ist.
Platz 2 – Gaza und Westjordanland
Nach mehr als einem Kriegsjahr ist die Infrastruktur in Gaza fast komplett zerstört. Die Eskalation begann im Oktober 2023, als Hamas und andere Terrorgruppen den Süden Israels angriffen, rund 1200 Menschen töteten und viele Geiseln nahmen. Israel reagierte mit Luftangriffen und Bodenoperationen im Gaza-Streifen. Laut dem United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) wurden dabei zwischen Oktober 2023 und Dezember 2024 mehr als 44.000 Palästinenser getötet. Auch im Westjordanland erlebten Palästinenser 2024 Gewalt durch israelische Militäroperationen und Siedler. Ohne einen dauerhaften Waffenstillstand werden die zivilen Opfer 2025 weiter steigen.
Platz 1 – Sudan
Der Bürgerkrieg in Sudan dauert an und verschärft dort die Krise. Das nordostafrikanische Land verzeichnet heute die größte humanitäre Krise weltweit. Der Krieg zwischen den regulären sudanesischen Streitkräften und islamischen, paramilitärischen Gruppierungen trifft die Zivilbevölkerung extrem hart. Internationales humanitäres Recht wird offen missachtet. Sexuelle Gewalt und die Rekrutierung von Kindersoldaten gehören zum Alltag. Immer wieder gibt es Berichte über ethnische Säuberungen. 2024 litten rund 750.000 Menschen in Sudan unter extremer Nahrungsmittelknappheit, täglich verhungern Menschen. Wenn der Konflikt kein Ende findet, wird sich die Hungersnot landesweit ausbreiten. Der Krieg hat das Gesundheitssystem in Sudan völlig zerstört. 2025 werden vor allem Cholera-Ausbrüche extrem zunehmen.
Liebe Freunde des bundeswehr-journal,
… Es brennt noch Licht am Horizont
Das Böse hat noch nicht gewonnen
Doch ich bin nur einer, einer von vielen
Und diese Welt ist wunderschön …
… Immer wieder glaube ich daran
Dass auch das Gute gewinnen kann
Der stete Tropfen höhlt den Stein
Und bald werden wir ganz viele sein
Der stete Tropfen höhlt den Stein
Und bald werden wir ganz viele sein …
Mit diesen Zeilen des Liedes „Liebe kann uns retten“, geschrieben von Daniel Faust, Peter Plate und Ulf Leo Sommer (Musikgruppe „Rosenstolz“), gesungen von Roland Kaiser, darf ich daran erinnern, dass es immer wieder auch strahlendes Licht am Ende eines jeden irdischen Jammertals gibt. Humanitäre Organisationen wie UNICEF oder das International Rescue Committee/IRC, im Jahre 1933 als International Relief Association auf Anregung von Albert Einstein gegründet, glauben fest daran. Bleiben auch wir im Jahre 2025 in unserer Grundstimmung nach wie vor optimistisch – diese Welt ist wunderschön!
Ihr
Christian Dewitz
(Herausgeber)
Zu unserem Bildangebot:
1. Der elf Jahre alte Illya wartet in einer notdürftig mit Sandsäcken geschützten Bahnhofshalle im westukrainischen Cherson auf seinen Zug, der ihn evakuieren soll. Besonders die Kinder in der Ukraine sind den russischen Terrorangriffen auf die Zivilbevölkerung hilflos ausgeliefert.
(Foto: Aleksey Filippov/UNICEF)
2. Der elf Jahre alte Ali in Gaza-Stadt vor den Ruinen des völlig zerstörten Hauses seiner Familie; die Aufnahme stammt vom 11. Januar 2024.
(Foto: Omar Al-Qattaa/UNICEF)
Kleines Beitragsbild: Myanmar – die 14 Jahre alte Naw Nee aus der Region Bago trägt die bleibenden Narben einer Landminenexplosion. Das Unglück ereignete sich, als der Bruder des Mädchens vor dem Haus der Familie das Kampfmittel fand und es für Spielzeug hielt. Der Junge wurde getötet, seine Schwester Naw Nee schwer verletzt.
(Foto: Minzayar Oo/UNICEF)