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Berlin/Teheran. Beim Absturz einer ukrainischen Boeing 737-800 NG am 8. Januar über iranischem Hoheitsgebiet starben 176 Menschen – Passagiere und neun Besatzungsmitglieder. Die Maschine war in Teheran in Richtung Kiew gestartet. Nach tagelangen Dementis räumte der Iran schließlich doch ein, für das Unglück verantwortlich zu sein. Das Militär habe die Maschine „unbeabsichtigt“ abgeschossen, es handele sich um einen „menschlichen Fehler“, hieß es am Samstagmorgen (11. Januar) in einer Presseerklärung im Staatsfernsehen.

In einem Leitartikel, der am gestrigen Sonntag unter anderem in der Berliner Morgenpost erschienen ist, befasst sich Miguel Sanches mit dem Abschuss der Boeing und dem mühsamen Weg der Wahrheit ans Licht. Er nimmt auch Stellung zu der Diskussion um eine Entsendung der Bundeswehr in diese Krisenregion.


Miguel Sanches, Berliner Morgenpost: Mit Lügen kommt man selten weit, sie haben die sprichwörtlich kurzen Beine. Die Halbwertzeit der offiziellen Version des Flugzeugabsturzes bei Teheran betrug nur wenige Tage. Dann ließ sich die objektive Wahrheit nicht länger verdrängen. Fotos, Videos, Zeugenaussagen, Radarbilder, Erkenntnisse der Geheimdienste – die Indizien waren erdrückend: Die Maschine wurde abgeschossen.

Die iranische Führung hat zwei Mal die Unwahrheit gesagt. Sie hat nicht nur den Abschuss geleugnet, sondern auch behauptet, Flugschreiber und Cockpit-Rekorder seien beschädigt. Die zweite Lüge war der Stützpfeiler der ersten. Es sieht so aus, als habe man tagelang versucht, alle Spuren zu beseitigen. Da beide Geräte doch ausgelesen werden können, hätte spätestens danach die Absturzursache zweifelsfrei festgestanden. Die Führung verhielt sich dumm. Denkbar ist, dass sie selbst zeitweise nicht die volle Wahrheit kannte. Die Revolutionsgarden könnten versucht gewesen sein, ihre Schuld auch intern zu vertuschen.

Dass es ein „versehentlicher“ Abschuss war, ist glaubhaft. Es machte keinen Sinn, eine ukrainische Maschine abzuschießen, in der sich auch noch viele iranische Studenten befanden. Der Vorgang ist auch die Folge eines gefühlten Ausnahmezustands, nachdem die USA den iranischen General Qasem Soleimani umgebracht hatten. Die USA setzen die iranische Führung unter Dauerstress. Jetzt kommt es auf den Umgang mit der Ukraine und mit den Angehörigen der Opfer des Absturzes an, auf die Menschen und ihre Herkunftsländer. Der „Fehler“ wird der Führung viel Demut abverlangen. Der erste Schritt ist getan: das Eingeständnis. Die nächsten Schritte lauten: Entschuldigung, Entschädigung, Aufklärung.

Hinter dem Mullah-Regime liegt eine desaströse Woche, weil es mit Soleimani einen wichtigen Militär verloren hat. Und weil das Momentum der nationalen Einigkeit – beim Protest gegen den Drohnenangriff der USA – schon wieder verpufft ist. Bei der Internationalen Staatengemeinschaft war nicht viel Glaubwürdigkeit zu verspielen. Einige Staaten waren in der Lage, sich ein eigenes Bild vom Vorfall zu machen und Irans Version in Zweifel zu ziehen. Hinters Licht wurde gerade das iranische Volk geführt. Seit Monaten gab es Proteste gegen Unterdrückung und wegen der Versorgungslage. Nachdem der Iran den Abschuss des ukrainischen Flugzeuges zugegeben hat, flammt erneut Unmut auf. Die Dimension kann man nicht mit den Protesten gegen die USA vergleichen, als Hunderttausende auf die Straße gingen. Aber die Proteste zeigen: Die Unzufriedenheit ist groß. Dem Regime droht auch ein politischer Absturz.

Was den benachbarten Irak betrifft, so hatte der Drohnenangriff auf Soleimani den Effekt, dass er die proiranischen Kräfte im Land gestärkt hat. Seit Freitag gibt es kaum Zweifel, dass die irakische Regierung den Beschluss ihres Parlaments umsetzen will, zumindest die US-Truppen rauszuwerfen. Es ist klar, wer das Vakuum nutzen würde: in jedem Fall der Iran, vielleicht die IS-Terroristen. Der Abschuss von mehreren Raketen gegen einen US-Stützpunkt im Irak gestern Abend könnte ein Fingerzeig sein. Er zeigt, wie angespannt die Lage ist. Die Amerikaner wollen denn auch von einem Abzug nichts wissen.

Ohne die USA als Anlehnungspartner macht die Präsenz der Bundeswehr in der Region keinen Sinn, genauso wenig ohne die zweifelsfreie Zustimmung von Parlament und Regierung in Bagdad. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich am Wochenende vornehmlich zum Atomabkommen mit dem Iran geäußert. Sie schuldet uns noch mehr Orientierungshilfe: Was ist der deutsche Entwurf für eine Befriedung der Region? Gerade die Bundeswehrsoldaten wollen wissen, woran sie sind!


Randnotiz                                  

Die Berliner Morgenpost ist eine deutsche regionale Tageszeitung im Großraum Berlin. Sie wurde 1898 gegründet und gehört seit 2014 zur Funke-Mediengruppe. Zur Mediengruppe gehören auch die Bergedorfer Zeitung, die Braunschweiger Zeitung, das Hamburger Abendblatt, der Harz Kurier, die Neue Ruhr Zeitung, die Ostthüringer Zeitung, die Thüringer Allgemeine, die Thüringische Landeszeitung, die Westdeutsche Allgemeine Zeitung, die Westfälische Rundschau und die Westfalenpost.
Chefkorrespondent all dieser Zeitungen und auch der Online-Plattformen der Funke Mediengruppe ist Miguel Sanches. Der in Portugal geborene aber im Ruhrgebiet aufgewachsene Sanches kam im April 1990 zur Neuen Ruhr Zeitung (am Niederrhein erscheint das Blatt als Neue Rhein Zeitung), arbeitete zunächst in der Politikredaktion in Essen und wechselte 1991 als Korrespondent nach Bonn, später dann nach Berlin. Als Sanches 2015 „für besondere journalistische und redaktionelle Leistungen“ den Dietrich-Oppenberg-Preis der Neuen Ruhr Zeitung erhielt, würdigte Herausgeber Heinrich Meyer den Preisträger mit den Worten: „Unsere Leser kennen Sanches als pointierten Kommentator der politischen Ereignisse in der Hauptstadt. Herausragend sind seine verständlichen Analysen selbst kompliziertester Zusammenhänge. Bei den Politikern in Regierung und Opposition genießt er – quer durch alle Parteien – große Wertschätzung.“


Zu unserem Bildmaterial:
1. Symbolbild „Presselandschaft“ aus dem Bildangebot von Pixabay.
(Foto: Michael Gaida/freie kommerzielle Nutzung, kein Bildnachweis erforderlich)

2. Symbolbild „Iran“.
(Foto: Nick Youngson/Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz CC BY-SA 3.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de;
und: https://www.picserver.org/highway-signs2/i/iran.html)

Kleines Beitragsbild: Symboldarstellung „Zeitungen“ aus dem Bildangebot von Pixabay.
(Foto: kalhh/freie kommerzielle Nutzung, kein Bildnachweis erforderlich; grafische Bearbeitung mediakompakt)


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