Berlin. Die aktuelle Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages kennt vier parlamentarische Instrumente der Regierungskontrolle: die Große Anfrage, die Kleine Anfrage, die Schriftliche Frage und die Mündliche Frage. In fast sieben Jahrzehnten Bundestag wurden so mehr als 230.000 Anfragen und Einzelfragen von den Abgeordneten gestellt. Denn wenn die Volksvertreter nicht kritisch nachhaken würden, könnten sie nicht die neben der Gesetzgebung wichtigste Aufgabe des Parlaments erfüllen: die Kontrolle der Regierung. Und dies geht nur mit Hilfe von Informationen, die durch das Fragerecht der Abgeordneten beschafft werden. So weit die Theorie. Die Praxis jedoch verärgert die Opposition. Wie die Bundesregierung jetzt gegenüber den Grünen eingestehen musste, wird jede dritte Kleine Anfrage von den Bundesministerien verspätet beantwortet. Offiziell beträgt die gesetzte Frist für die Bundesregierung zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage 14 Tage, sie kann allerdings verlängert werden. Spitzenreiter auf der Negativliste der Opposition ist das Verteidigungsministerium!
Das Bundesministerium der Verteidigung braucht demnach am längsten, um auf eine Kleine Anfrage zu reagieren. Wie aus einer Regierungsantwort an die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hervorgeht, beantragte Von der Leyens Ressort in der Vergangenheit in 61 Prozent der Fälle eine Fristverlängerung für die erbetene Auskunft. In der Rangfolge der „Bummler“ schließt sich mit 51 Prozent Verlängerungsquote das Auswärtige Amt an, gefolgt vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit 49 Prozent.
Das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hingegen bewegen sich mit ihren Antworten zu Kleinen Anfragen der Bundestagsabgeordneten fast immer im vorgeschriebenen Zeitrahmen (beide Ministerien haben eine Verlängerungsquote von lediglich 11 Prozent).
In dieser Legislaturperiode (seit dem 22. Oktober 2013) bis zum Stichtag 3. November 2016 wurden insgesamt 2930 Kleine Anfragen von den Bundesministerien beantwortet, 175 davon vom Verteidigungsministerium.
Beschafft hat die Zahlen Oliver Krischer, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen. Gegenüber der BILD-Zeitung äußerte er seinen Unmut: „Jeder Schüler wäre bei dieser verspäteten Abgabe seiner Hausaufgaben bereits akut versetzungsgefährdet. Doch die Bundesregierung macht dies zur Regel.“ Die von der Regierung praktizierte „Aushöhlung des parlamentarischen Fragerechts durch Nicht-Beantworten und Fristüberschreitung“ gefährde zunehmend die Kontrollfunktion des Parlaments. Die Große Koalition müsse künftig „frist- und sachgerecht“ liefern, forderte Krischer mit Nachdruck.
Aber es sind nicht nur die Verspätungen bei den Regierungsantworten, die die Opposition nerven. Es sind auch die teilweise inhaltsleeren Antworten, die die Fragesteller erzürnen. Im September vergangenen Jahres befasste sich bereits Thorsten Jungholt in seinem Welt-Beitrag „Die Komiker im Berliner Verteidigungsministerium“ mit der heißen Luft vom Feldherrnhügel.
Monate zuvor, im Juli, hatte die Grünen-Fraktion eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, um sich über die „Überprüfung der Neuausrichtung der Bundeswehr und aktuelle Strukturentscheidungen vor dem Hintergrund des Weißbuches“ zu informieren. Nach zwei Wochen hatte das Verteidigungsministerium um eine erste Fristverlängerung gebeten. Gewährt! Zwei Wochen später dann die nächste Bitte um Verlängerung. „Die Beamten im Ministerium schienen sich Mühe zu geben, eine gewisse Detailtiefe zu recherchieren“, kommentierte Jungholt die enorme Verspätung.
Sechs Wochen nach Versand ihrer Kleinen Anfrage erhielt die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen schließlich die langersehnte Antwort. Absender: Ralf Brauksiepe, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung.
Lesen wir bei Thorsten Jungholt nach, von welcher Qualität dieses Schreiben an die Abgeordneten war. Der Journalist schrieb in der Welt: „Genau genommen gibt es […] keine Antworten. Stattdessen hat das Ministerium sechs Wochen daran gearbeitet, mit vielen Worten nichts zu sagen. In einer Vorbemerkung führt Brauksiepe prosaisch aus: ,Sicherheitspolitische, gesellschaftliche, ökonomische und technologische Rahmenbedingungen unterliegen heute mehr denn je dynamischen und sich stets beschleunigenden Veränderungsprozessen. Diese kontinuierlich zu analysieren, ist Aufgabe einer vorausschauenden Sicherheitspolitik.‘ Tja, wer hätte das gedacht?“
Die weiteren Antworten aus dem Ministerium bewertete damals die Abgeordnete Agnieszka Brugger, Mitglied des Verteidigungsausschusses, empört so: „[Sie sind] eine dreiste Unverschämtheit und zeugen von einer unerträglichen Arroganz dem Parlament gegenüber. Hier wird das Informationsbedürfnis der Abgeordneten mit Füßen getreten.“
Das parlamentarische Fragerecht leitet sich vor allem aus dem in Artikel 38 des Grundgesetzes verankerten Abgeordnetenstatus und dem in Artikel 20 festgeschriebenen Demokratieprinzip ab. Genauer ausgestaltet ist das Fragerecht in der Geschäftsordnung des Bundestages. Sie unterscheidet – wie eingangs bereits erwähnt – zwischen vier Frageformen: der Großen Anfrage, der Kleinen Anfrage, der Schriftlichen Frage und der Mündlichen Frage.
Die Große Anfrage als Kontrollinstrument wird von den Abgeordneten bereits seit Jahren immer seltener genutzt. So wurden beispielsweise in der 16. Legislaturperiode (2005 bis 2009) nur 63 solcher Anfragen gestellt. Die Kleine Anfrage hingegen ist den letzten Jahren immer wichtiger geworden: In der 16. Legislaturperiode erreichte ihre Zahl mit 3299 Vorgängen ein erstes Rekordhoch. Forciert wurde diese Entwicklung ab 1983 zunächst durch die Grünen, zuletzt aber vor allem durch die Linksfraktion.
Der Kommunikationsforscher Hans Mathias Kepplinger (Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz) vertrat bereits 2007 in seinem Beitrag „Kleine Anfragen: Funktionale Analyse einer parlamentarischen Praxis“ die Meinung, dass aufgrund der gewachsenen Mediatisierung diese Form des parlamentarischen Fragerechts für Abgeordnete eine besondere Rolle spiele, um Medienresonanz zu erzielen.
Ähnlich sieht dies der Politikwissenschaftler Sven T. Siefken (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). Der Zuwachs bei den Kleinen Anfragen beweise, dass dieses Instrument den Anforderungen eines Abgeordneten am ehesten entspreche. Auf diesem Weg lasse sich „Aktivität demonstrieren“, denn im Ergebnis liege ein Dokument vor, das an Medien und Öffentlichkeit im Wahlkreis weitergeleitet werden könne.
Die gestiegene Anzahl von Kleinen Anfragen hat in der Wissenschaft allerdings auch die Frage aufgeworfen, ob Anfragen tatsächlich noch in erster Linie die Funktion eines Kontrollinstruments haben – oder ob sie zunehmend nur einer Symbolpolitik dienen.
Hierzu bezieht Siefken eindeutig Position: Auch wenn Anfragen hauptsächlich von der Opposition genutzt würden, sei es nicht angebracht, sie als „reines politisches Showgeschäft“ zu kritisieren. Im Gegenteil! Der Politikwissenschaftler sieht die kontrollierende Wirkung der Kleinen Anfrage besonders in ihrer „Zufälligkeit“. Siefken erläutert dies: „Ihre herausragende Wirkung entfalten Anfrageverfahren gerade daraus, dass sie kaum vorhersehbar und in ihrer Detailliertheit jegliche Themen ansprechen können, die im Verantwortungsbereich der Bundesregierung liegen.“ Sie zögen ihre Bedeutung daraus, dass die betroffenen Fachleute in der Verwaltung nur schwer mit ihnen rechnen könnten und sie sich häufig ad hoc ergäben, sie aber zugleich kurzfristig und mit hoher Priorität in einem formalen Verfahren zu beantworten seien.
Zum Bildmaterial dieses Beitrages:
1. Die Infografik zeigt die Fristverlängerungen (Verlängerungsquote) der einzelnen Bundesministerien. Das Verteidigungsministerium ist mit seinen 61 Prozent unrühmlicher Spitzenreiter dieses Negativrankings. Das Hintergrundbild vom 22. Oktober 2013 zeigt die konstituierende Sitzung des Bundestages für die 18. Wahlperiode.
(Foto: Achim Melde/Lichtblick/Deutscher Bundestag, Infografik © mediakompakt 12.16)
2. Oliver Krischer, stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, kritisiert heftig, dass die Bundesregierung auf jede dritte Anfrage der Opposition verspätet reagiert.
(Foto: Abgeordnetenbüro Krischer)
Kleines Beitragsbild: Unser Symbolbild zeigt das beleuchtete Reichstagsgebäude kurz vor Weihnachten.
(Foto: Studio Kohlmeier/Deutscher Bundestag)