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Kabul (Afghanistan)/Osnabrück/Eberswalde. Neue Zahlen legen offenbar einen entscheidenden Fehler der Bundesregierung bei der Evakuierung von Ortskräften aus Afghanistan offen: Bei der Luftbrücke der Bundeswehr im August gab die Regierung den meisten Betroffenen erst während der Evakuierung oder sogar danach eine Zusage zur Aufnahme. Das geht aus einer Antwort des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat auf eine Schriftliche Frage der Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut (Linke) hervor, über die am heutigen Mittwoch (17. November) die Neue Osnabrücker Zeitung (NOZ) berichtete. Dadurch konnten viele Ortskräfte und schutzbedürftige Afghanen die Chance nicht mehr nutzen, das Land mit deutschen Militärmaschinen zu verlassen.

Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden von den 18.619 Zusagen für Ortskräfte und Werkvertragsnehmer sowie deren Familien, die die Bundesregierung von Mitte Mai bis Ende August erteilte, 11.866 erst während der militärischen Evakuierung ab Mitte August gegeben. Dies bedeute, so die NOZ, dass fast zwei Drittel (64 Prozent) aller Zusagen innerhalb der elf Tage von Mitte bis Ende August, in denen die Luftbrücke unter extrem unsicheren und unklaren Bedingungen gestanden habe, erfolgt sei. Besonders erstaunlich sei, dass man weitere 4119 Aufnahmezusagen sogar erst nach Beendigung der Evakuierungsflüge ausgesprochen habe.

Ein Grund dafür war laut Linksfraktion, dass das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bis Ende August daran festgehalten hatten, dass nur solche afghanischen Ortskräfte berücksichtigt werden sollten, die in den vergangenen beiden Jahren als Ortskräfte gearbeitet hätten. Andere Ministerien hätten diese Auflage schon Monate zuvor aufgehoben.

„Bundesregierung hat sich vor ihrer Verantwortung viel zu lange gedrückt“

Die Migrationsexpertin der Linken, Gökay Akbulut, sagte der NOZ: „Die Zahlen zeigen: Die Bundesregierung hat sich vor ihrer Verantwortung viel zu lange gedrückt.“ Viele Ortskräfte hätten sich nun seit Monaten bereits in Angst und Schrecken vor den Taliban verstecken müssen, doch lange würden diese Menschen das nicht mehr durchhalten. Akbulut forderte daher: „Die Bundesregierung muss alles tun, um diese Menschen schnell zu retten. Das ist sie den Betroffenen auch schuldig.“

Nach der Machtübernahme durch die radikal-islamischen Taliban in Afghanistan hatte die Bundeswehr im August in elf Tagen mehr als 5300 Deutsche, Afghanen und Staatsbürger anderer Länder mit ausgeflogen. Kurz vor dem Abzug der letzten US-Soldaten aus Afghanistan endete die Aktion.

Patenschaftsnetzwerk tief besorgt über Lage der Ortskräfte in Afghanistan

Einen Eindruck von der verzweifelten Lage der Menschen in Afghanistan vermittelt unter anderem das deutsche „Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte“. Dort ist man „zutiefst besorgt“ über die Lage der in Afghanistan verbliebenen Ortskräfte und ihrer Angehörigen. Marcus Grotian, Vorsitzender der in Eberswalde (Brandenburg) ansässigen Initiative, sagte vor Kurzem der Heilbronner Stimme: „Insgesamt gehen wir von 5000 bis 6000 Seelen aus – Ortskräfte und ihre Familienangehörige –, von denen wir zu über 1000 direkten Kontakt haben.“

Die wirtschaftliche und psychologische Lage dieser ehemaligen Ortskräfte verschlechtere sich ständig, warnte Grotian. Es würden weiterhin gezielte Hausdurchsuchungen und Verhaftungen durch die Taliban gemeldet. Er kritisierte: „Viele Ortskräfte haben noch nach Monaten, in denen sie nur ,auf Listen‘ geführt werden, keinerlei konkrete Aufnahmezusagen. Man vertröstet sie mit dem Hinweis, sie seien ja ,auf einer Liste‘ erfasst.“

Der Vorsitzende des Netzwerks, das nach eigenen Angaben die volle Unterstützung von Generalinspekteur Eberhard Zorn hat, ärgerte sich auch über die in Umlauf gebrachten Zahlen. Grotian gegenüber der Heilbronner Stimme: „Die Zahlen, die noch im September in den Ministerien genannt worden sind, waren und sind für uns nicht nachvollziehbar. So ging man zu Beginn der Evakuierungsoperation von 176 Ortskräften aus. Alleine auf den Listen der Bundeswehr müssen sich aber zu dem Zeitpunkt bereits mehr als 800 Ortskräfte und Familienangehörige befunden haben. Tausende haben sich vorher schon bei der Internationalen Organisation für Migration – IOM – mit Gefährdungsanzeigen gemeldet. Warum dies alles zu Beginn der Evakuierung im Auswärtigem Amt anscheinend völlig unbekannt war, erschließt sich uns nicht immer noch nicht.“ Das Ganze sei „ein sichtbarer weiterer Beweis dafür, wie die bürokratischen Räder sich zwar alle überall gedreht, aber nie ineinander gegriffen“ hätten.

Redaktionelle ERGÄNZUNG I

Nach Angaben der Bundesregierung (beziehungsweise des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) vom 22. März 2022 wurden für den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis zum 11. Februar 2022 insgesamt 2894 Aufnahmezusagen für afghanische Ortskräfte (ohne Familienangehörige) der deutschen Entwicklungszusammenarbeit über das Ortskräfteverfahren erteilt.

Zu diesen Ortskräften zählen laut Regierungsantwort (auf eine Kleine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion) nationale Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit/GIZ, der KfW Entwicklungsbank, der deutschen Nichtregierungsorganisationen („die mit Wissen und Wollen der Bundesregierung Projekte der Entwicklungszusammenarbeit durchgeführt haben“) sowie nationale Mitarbeiter von deutschen Consulting-Unternehmen in Vorhaben der finanziellen oder technischen Zusammenarbeit.

Über wie viele Ortskräfte die deutsche Entwicklungszusammenarbeit seit 2013 und aktuell verfügt, kann die Bundesregierung nur eingeschränkt mitteilen, da die Veröffentlichung „die besonders schützenswerten Interessen von ehemaligen beziehungsweise aktuell im Einsatz tätigen nationalen Mitarbeitenden erheblich nachteilig berühren“ könne.

Die Bundesregierung betont, sie beobachte mit Sorge, dass sich die Menschenrechtslage in Afghanistan weiter verschlechtere. Es gebe es Fälle, „in denen eine über das allgemeine Gefährdungsniveau hinausgehende Gefährdung von Ortskräften der deutschen Entwicklungszusammenarbeit besteht, die sich aus ihrer ehemaligen Tätigkeit für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ergibt“. (Siehe auch unseren Beitrag „NATO-General Vollmer kritisiert Umgang mit Ortskräften“ vom 30. Dezember 2021.)

Redaktionelle ERGÄNZUNG II

Um die Aufnahme afghanischer Ortskräfte, die in ihrer Heimat für Deutschland tätig gewesen waren, geht es auch in einer Antwort der Bundesregierung vom 25. März. Angefragt hatten die Bundestagsabgeordneten der Linken Clara Bünger, Anke Domscheit-Berg und Nicole Gohlke.

Laut Auskunft der Regierung sind demnach „etwa 2700 Ortskräfte, das heißt rund 11.800 Personen inklusive berechtigter Familienangehöriger, nach Deutschland eingereist“ (Stand: 25. Februar 2022). Zur Anzahl der Ortskräfte, die sich noch in Afghanistan aufhalten oder gegebenenfalls bereits in Nachbarländer ausgereist sind, könnten keine verlässlichen Angaben gemacht werden, so die Regierung weiter.

Zur Frage, über welche Kenntnisse oder Einschätzungen die Bundesregierung darüber verfüge, wie viele Ortskräfte oder besonders gefährdete Personen, die eine Gefährdungsanzeige beziehungsweise ein Aufnahmegesuch gestellt hätten, während des Verfahrens oder nach Erteilung einer Aufnahmezusage ums Leben gekommen seien, schreibt die Bundesregierung in ihrer Antwort, sie habe „Kenntnis von einzelnen Todesfällen“. Die bestehenden Aufnahmen für berechtigte Familienangehörige seien in diesen Fällen aufrechterhalten worden.


Das Bild zeigt Flüchtlinge auf dem Gelände des Hamid Karzai International Airport, die im Rahmen der Evakuierung einen Platz in einer der Transportmaschinen der Internationalen Gemeinschaft erhalten konnten. Die Aufnahme entstand am 24. August 2021.
(Foto: Samuel Ruiz/U.S. Marine Corps)

Kleines Beitragsbild: Das Symbolfoto „Evakuierung aus Kabul“ wurde am 21. August 2021 auf dem Hamid Karzai International Airport gemacht und zeigt Menschen, die in der Abenddämmerung in eine C-17 Globemaster III der US-Luftwaffe drängen. Die Evakuierungsflüge der Amerikaner und anderer Nationen aus Kabul waren zu diesem Zeitpunkt die einzige Hoffnung Tausender auf der Flucht vor den Taliban.
(Foto: Taylor Crul/U.S. Air Force/U.S. Central Command Public Affairs)


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