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Berlin/Köln/Ulm. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) ermittelt aufgrund interner Hinweise bereits seit Ende 2019 gegen mehrere Personen in der Außenstelle des Koblenzer Beschaffungsamtes in Ulm. Es geht um den Phänomenbereich „Reichsbürger und Selbstverwalter“. Acht zivile Mitarbeiter dieser Regionalstelle des Bundesamtes für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) – unter ihnen auch der Leiter – werden verdächtigt, der „Reichsbürger“-Bewegung anzugehören.

„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen – unter anderem unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen, den demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren.

Es bestehe deshalb die Besorgnis, so der Verfassungsschutz, dass diese Personen – individuell oder in Verbindung mit Gleichgesinnten – Verstöße gegen die Rechtsordnung begehen könnten (wir haben letztmalig am 20. Oktober 2020 über den Phänomenbereich „Reichsbürger und Selbstverwalter“ berichtet).

Hauptverdächtige dürfen die Liegenschaften nicht mehr betreten

Die Ulmer Regionalstelle gehört laut Organigramm des BAAINBw zur Abteilung „Zentrum für technisches Qualitätsmanagement“ und dort zur Gruppe „Qualitätssicherung Regionalbereich Süd“. Nach der Befragung sprach der MAD gegen die Hauptverdächtigen ein Zutrittsverbot zur Liegenschaften aus.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer kommentierte den Vorgang mit den Worten: „Verfassungsfeinden lassen wir nicht den kleinsten Raum in der Bundeswehr. Extremismus und fehlende Treue zu den gemeinsamen Werten ist und bleibt unvereinbar mit unserem Auftrag, aber auch mit den Grundsätzen der Kameradschaft und Kollegialität. Die deutsche Bevölkerung kann darauf vertrauen, dass in der Bundeswehr jedem Hinweis der Nähe zum sogenannten ,Reichsbürgertum‘ konsequent nachgegangen wird. Auch in diesem Fall arbeiten die Sicherheitsbehörden, wie es sich bewährt hat, eng zusammen mit dem Ziel, Personen mit fehlender Verfassungstreue aus der Bundeswehr zu entfernen oder von ihr fernzuhalten.“ Es sei zudem ermutigend, dass die wesentlichen Hinweise erneut aus internen Quellen gekommen seien, so die Ministerin.

In einem Schreiben an die Obleute der Bundestagsfraktionen im Verteidigungsausschuss des Bundestages gab Staatssekretär Peter Tauber bekannt, dass erste Ergebnisse der vom MAD durchgeführten Befragung „die vorliegenden Verdachtsmomente bestätig“ hätten. Tauber zufolge wurden auch Datenträger sichergestellt.

Wir haben die Broschüre „Reichsbürger und Selbstverwalter“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz (Stand Dezember 2018) für Sie in unserem Servicebereich „bundeswehr-journal (Bibliothek)“ beim Dienstleister Yumpu-Publishing eingestellt. Die Informationsschrift beschreibt insbesondere Ideologie und gängige Strategien der Szene. Zudem werden ausgewählte überregionale Gruppierungen dieses äußerst heterogenen Spektrums vorgestellt. Sie können sich bei Yumpu die einzelnen Inhalte gezielt ansehen, ein Download der Datei oder ein Ausdruck einzelner Seiten ist aber nicht möglich. Über die ESC-Taste in Yumpu kommen Sie hierhin zurück. Zu der Verfassungsschutzbroschüre:

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Redaktionelle ERGÄNZUNG

Einen Tag nach den Untersuchungen des MAD vor Ort in Ulm, am heutigen Mittwochvormittag (2. Dezember), hat sich ein Beamter der BAAINBw-Außenstelle das Leben genommen. Bei dem Mann soll es sich – nach Recherchen des ARD-Hauptstadtstudios und des Südwestrundfunks (SWR) – um den Hauptverdächtigen handeln.

SPIEGEL ONLINE schreibt heute nach dem Suizid: „Die Razzia und der Tod des leitenden Beamten dürften zu weiteren Nachforschungen führen. So soll der [63-Jährige] vor seinem Job beim Beschaffungsamt beim Bundesnachrichtendienst tätig gewesen sein. Beim Auslandsgeheimdienst soll er bis zuletzt viele private Kontakte gehabt haben. Deswegen soll geklärt werden, ob auch hier Sympathisanten der ,Reichsbürger‘-Bewegung sitzen, hieß es bereits am Dienstag.“

Hintergrund                           

Die Coronavirus-Pandemie spült, wie so manche gesellschaftliche Krise, ein Heerschar lärmender (Wut-)Bürger und irrlichternder Demagogen an die Oberfläche. So zu sehen auch wieder am 29. August 2020 in Berlin beim „Sturm auf den Reichstag“, auf unser Parlament. „Ich muss sagen, ich bin richtig wütend über das und über die Bilder, die man dort gesehen hat. Dass am Deutschen Bundestag die (schwarz-weiß-rote) Reichsflagge wieder weht, das ist etwas, was nicht zu ertragen ist“, sagte später Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Chefin und Bundesministerin der Verteidigung.

Was hat es mit dieser schwarz-weiß-roten Fahne auf sich? Der farbige Dreiklang fand sich seit 1866 zunächst in der Flagge des Norddeutschen Bundes, seit 1871 dann in der des Deutschen Kaiserreiches. Seit 1892 war Schwarz-Weiß-Rot die offizielle Nationalflagge des Deutschen Reiches. Die Kombination war aus den Farben Preußens (Schwarz und Weiß) und der Hanse (Rot und Weiß) entstanden und symbolisiert bis heute in erster Linie ein nationalistisches und auf Expansion bedachtes deutsches Staatswesen.

Während der Weimarer Republik lehnten Rechtskonservative und rechtsradikale Kräfte die „neuen“ Farben Schwarz-Rot-Gold ab (verunglimpften diese auch als „Schwarz-Rot-Senf“) und griffen selbst immer wieder auf die kaiserlichen Farben zurück.

Schwarz-Weiß-Rot fand nach Ende der Weimarer Republik auch bei den Fahnen der Nationalsozialisten Verwendung. Nach dem Zweiten Weltkrieg bedienten sich rechtsradikale Parteien wie „Die Republikaner“ oder die „Deutsche Volksunion“ dieser umstrittenen Farbkombination.

Die schwarz-weiß-rote Reichsflagge und auch die ebenfalls aus dem Kaiserreich stammende Reichskriegsflagge (ohne Hakenkreuz) sind in Deutschland nicht verboten. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz erfüllt das Zeigen der Reichskriegsflagge weder einen Straftatbestand noch eine Ordnungswidrigkeit. Auch wenn die Fahnen aus der Kaiserzeit in der Bundesrepublik also nicht untersagt sind, sorgen sie doch immer wieder für Anstoß in Gesellschaft und Politik – eben weil Rechtsradikale und andere Nationalisten sie verwenden, um politische Haltungen zu unterstreichen, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Gleiches gilt für den Phänomenbereich „Reichsbürger und Selbstverwalter“, die alleine schon mit dieser Farbwahl ein offenes Bekenntnis ihrer Gesinnung ablegen: reaktionäres Schwarz-Weiß-Rot als optische Abgrenzung zum demokratischen Schwarz-Rot-Gold.


Das Symbolbild „Wortwolke Reichsbürger und Selbstverwalter“ stammt aus dem Verfassungsschutzbericht 2018 des Landesamtes für Verfassungsschutz Hamburg.
(Bild: LfV HH)

Kleines Beitragsbild: Eines von unzähligen Phantasie-Schildern aus der „Reichsbürger“-Szene. Oftmals spielen bei solchen „Querdenker“-Produkten auch die historischen Farben Schwarz-Weiß-Rot eine besondere Rolle – siehe dazu auch unseren Hintergrund-Text.
(Foto: nr; Bildgestaltung und Bildmontage mediakompakt)


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