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Berlin. Nach den „Entwicklungen im Milieu der sogenannten Reichsbürger“ erkundigte sich am 16. September die Bundestagsfraktion der Linken. Sechs Detailfragen zu dem Themenkomplex „Reichsbürger und Selbstverwalter“ formulierten dabei die Abgeordneten Gökay Akbulut, André Hahn und Ulla Jelpke, ihnen antwortete die Bundesregierung am 5. Oktober. Momentan sind der Szene deutschlandweit rund 19.000 Personen zuzurechnen (mit Stand 31. Dezember 2019). Diese Zahl basiert laut Bundesregierung auf den Angaben der Landesbehörden für Verfassungsschutz im Rahmen der Erhebung des Gesamtpersonenpotenzials der „Reichsbürger und Selbstverwalter“.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet „Reichsbürger und Selbstverwalter“ seit November 2016 als Gesamtszene. Die Szene wird demnach „fortlaufend personell und strukturell aufgeklärt“ (siehe auch unseren früheren Beitrag).

Die Ideologie von „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“ zielt den Regierungserkenntnissen zufolge insbesondere auf „die Delegitimierung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ ab. Das Auftreten von Versatzstücken dieser Ideologie – etwa die Diffamierung des Staates als „BRD GmbH“ – sei über die Grenzen des „Reichsbürger und Selbstverwalter“-Spektrums hinaus erkennbar, heißt es in der Antwort. Insgesamt erscheine die Ideologie der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ aber als „wenig anschlussfähig sowohl an rechtsextremistische Kreise als auch an die demokratische Mehrheitsgesellschaft“.

„Verbale Radikalität“ hat sich nach Erkenntnissen der Behörden erhöht

In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken schreibt die Bundesregierung zudem: „Neben den im Verfassungsschutzbericht genannten Entwicklungstendenzen ergeben sich insbesondere Veränderungen der ,Reichsbürger und Selbstverwalter‘-Szene im Hinblick auf die Corona-Pandemie und den damit einhergehenden staatlichen Maßnahmen. So bieten die oftmals als illegitim empfundenen Corona-Schutzmaßnahmen den Szeneangehörigen die Möglichkeit zu neuer Propaganda gegen die Bundesrepublik Deutschland.“

Die verbale Radikalität einiger „Reichsbürger und Selbstverwalter“ scheint sich außerdem nach Beobachtung der Behörden erhöht zu haben. Darüber hinaus wird – zumindest zeitweilig – eine Allianz „mit anderen verschwörungsaffinen Milieus“ angestrebt. In der Regierungsantwort heißt es außerdem, dass sich ein Großteil der Szene weiterhin auf die Auseinandersetzung mit Behörden und Ämtern konzentriere. Hinsichtlich der szenezugehörigen Gruppierungen sei die überwiegende Zahl jedoch nicht offen gewaltbereit.

Soziale Medien und das Internet fördern die Verbreitung der Ideologie

Eine Ausbreitung der „Reichsbürger und Selbstverwalter“-Ideologie sei derzeit nicht erkennbar, versichert die Regierung. Gleichwohl erleichterten soziale Medien und das Internet insgesamt die Verbreitung dieser Ideologie. Ideologische Versatzstücke ließen sich bei Verschwörungstheoretikern, Rechtsextremisten und anderen verschwörungsaffinen Personen erkennen.

Über den Gesamtzustand der Szene urteilt die Bundesregierung: „Die Szene der ,Reichsbürger und Selbstverwalter‘ ist nicht homogen, sondern zersplittert, vielschichtig und unübersichtlich. Da die in der Szene bestehenden Gruppierungen von der Richtigkeit ihrer jeweiligen Ansichten überzeugt sind, besteht in der Regel nur wenig Raum für inhaltliche Kooperationen. Im Vordergrund stehen oftmals ausgeprägte Konkurrenzverhältnisse. Es kommt teilweise zu Zerwürfnissen und Brüchen innerhalb bestehender Gruppierungen.“ Gleichwohl würden durch die Behörden mitunter Kooperationsversuche zwischen „Reichsbürger und Selbstverwalter“-Gruppierungen registriert, die in der Regel allerdings nur kurzfristig Bestand hätten. Das Zusammenwirken der Gruppierungen spiele sich mutmaßlich vor allem im virtuellen Raum ab. Der Organisationsgrad in der Szene sei „insgesamt nur bedingt ausgeprägt“.

Innenministerkonferenz will im Dezember über Flaggenverbot beraten

Die Bundestagsfraktion der Linken wollte abschließend wissen, „welche Kenntnisse die Bundesregierung über die Verwendung der schwarz-weiß-roten Fahne des Deutschen Kaiserreiches sowie der sogenannten Reichskriegsfahne – sowohl im Milieu der Reichsbürger als auch generell unter Rechtsextremisten – [hat]“. Gefragt wurde auch, inwieweit es Überlegungen von Seiten der Bundesregierung bezüglich eines Verbots der Reichs- und Reichskriegsfahnen beziehungsweise deren Einstufung als Ersatzsymbole für verbotene NS-Symbole gibt.

Die Regierung erklärt dazu: „Für den Teil der ,Reichsbürger und Selbstverwalter‘, die die Bundespublik Deutschland ablehnen und sich auf das historische Deutsche Kaiserreich von 1871 beziehen beziehungsweise sich als Angehörige dieses Reiches sehen, stellt die schwarz-weiß-rote Reichsflagge die vermeintlich ,legitime‘ Flagge Deutschlands und damit ein Identifikationssymbol dar. Eine ähnliche Funktion kommt etwa der Flagge Preußens und anderer ehemaliger Gliedstaaten des Deutschen Reiches zu. Zugleich finden die Farbkombination ,schwarz-weiß-rot‘ sowie die ,Reichskriegsflagge‘ auch bei Rechtsextremisten Anklang, wo sie insbesondere als Ersatz für verbotene Fahnen und Abzeichnen aus der Zeit des Nationalsozialismus genutzt wird.“

Die Verwendung der schwarz-weiß-roten Reichsflagge stelle ebenso wie die Verwendung der bis 1935 genutzten Reichskriegsflagge keine Übernahme von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen im Sinne des § 86a Strafgesetzbuch dar, so die Regierung weiter. Denn es handele sich weder um Kennzeichen einer verbotenen Partei oder Vereinigung noch würden nationalsozialistische Bestrebungen fortgesetzt. Es bestehe darüber hinaus auch keine Verwechselungsgefahr mit der von 1935 bis 1945 verwendeten Reichskriegsflagge, die erkennbar zusätzlich ein Hakenkreuz zeige.

Zu einem möglichen Verbot der Reichsflagge und Reichskriegsflagge äußert sich die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken ebenfalls. Man nehme Bestrebungen einiger Länder zur Kenntnis, im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Zeigen der Reichskriegsflagge in der Öffentlichkeit zu unterbinden, so die Antwort. Bundesinnenminister Horst Seehofer begrüße, dass das Thema im Rahmen der Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder (kurz Innenministerkonferenz) im Dezember erörtert werden soll.

Seit Januar 2017 bis September 2020 mehr als 2800 Straftaten

Zum Schluss noch ein Blick auf die Straftat-Fallzahlen der Jahre 2017, 2018, 2019 und 2020 (Stichtag 18. September 2020) zum Themenfeld „Reichsbürger/Selbstverwalter“. Das Themenfeld ist zum 1. Januar 2017 im Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen politisch motivierter Kriminalität (KPMD PMK) eingeführt worden.

Unsere auszugsweise Übersicht verzeichnet für das Jahr 2017 insgesamt 914 Straftaten. Die Statistik beinhaltet 144 Gewaltdelikte (unter anderem 100 Straftaten „Erpressung“, 34 Widerstandsdelikte sowie 9 Körperverletzungen), gefolgt von 291 Fällen „Nötigung/Bedrohung“, 89 Fällen „Volksverhetzung“ und 54 Propagandadelikten.

Für das Jahr 2018 verzeichnet der Kriminalpolizeiliche Meldedienst insgesamt 866 Straftaten im Themenfeld „Reichsbürger/Selbstverwalter“. Die Statistik beinhaltet 168 Gewaltdelikte (unter anderem 101 Straftaten „Erpressung“, 43 Widerstandsdelikte sowie 22 Körperverletzungen), gefolgt von 212 Fällen „Nötigung/Bedrohung“, 70 Propagandadelikten und 44 Fällen „Volksverhetzung“.

KPMD-Statistik für das Jahr 2019: insgesamt 677 Straftaten im Themenfeld „Reichsbürger/Selbstverwalter“. Die Statistik beinhaltet 132 Gewaltdelikte (unter anderem 87 Straftaten „Erpressung“, 32 Widerstandsdelikte sowie 13 Körperverletzungen), gefolgt von 186 Fällen „Nötigung/Bedrohung“, 41 Propagandadelikten und 30 Fällen „Volksverhetzung“.

Für das aktuelle Jahr 2020 verzeichnet der Kriminalpolizeiliche Meldedienst bis zum Stichtag 18. September 2020 bereits insgesamt 362 Straftaten im Themenfeld „Reichsbürger/Selbstverwalter“. Die Summe der Gewaltdelikte bis zu diesem Zeitpunkt: 66 (unter anderem 46 Straftaten „Erpressung“, 10 Widerstandsdelikte sowie 9 Körperverletzungen), gefolgt von 104 Fällen „Nötigung/Bedrohung“, 31 Fällen „Volksverhetzung“ und 24 Propagandadelikten.


Zu unserem Bildmaterial: Umschlagbild der Publikation „Reichsbürger und Selbstverwalter: Staatsfeinde, Geschäftemacher, Verschwörungstheoretiker“. Herausgeber dieser im Dezember 2018 erschienenen Aufklärungsschrift ist das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV).
(Bild: Gestaltung Print- und Mediencenter des BfV)

Kleines Beitragsbild: Links im Ausschnitt ein von den Behörden sichergestelltes „Reichsbürger“-Autokennzeichen.
(Foto: nr; Gestaltung mediakompakt)


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