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Berlin/Brüssel/Tripolis. Die Bundeswehr soll sich an der europäischen Marinemission EU NAVFOR Med – Operation „Irini“ im Mittelmeer beteiligen können. Das Parlament hat dazu am heutigen Donnerstag (23. April) erstmals über einen entsprechenden Antrag der Bundesregierung debattiert. Ziel der Mission ist es, das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Libyen zu überwachen. Der Bundestag überwies den Regierungsantrag im Anschluss zur federführenden Beratung in den Auswärtigen Ausschuss. Der CDU-Politiker Henning Otte hatte als letzter Redner der Aussprache die völlig kontroversen Standpunkte der Fraktionen zum neuen Mandat wie folgt auf den Punkt gebracht: „Wir stellen fest, dass bei den Linken die Fragen der Menschenrechte überhaupt keine Rolle spielen, dass sie das per se ablehnen. Die AfD lehnt sowieso alles, was über den eigenen Tellerrand hinausgeht, ab – auch dieses Mandat. Die Grünen wissen vielleicht gar nicht, wie sie abstimmen werden. Die FDP hat viele Fragen. Deswegen ist es gut, dass wir als Koalition Handlungsfähigkeit beweisen und dieses Mandat voranbringen.“ Wir befassen uns näher mit der neuen Mittelmeermission der Europäischen Union und beleuchten im ersten Teil zunächst Hintergründe …

Seit dem Sturz des langjährigen libysche Diktators Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 durch einen internationalen Militäreinsatz ist das nordafrikanische Land zerrissen. Die Milizen, die während des damaligen Bürgerkriegs eine Front gegen den verhassten Machthaber gebildet hatten, begannen nach dessen Tod untereinander einen erbitterten Streit um die Vorherrschaft im Land und um die Kontrolle der Öl- und Gasvorkommen. Bis heute beherrschen bewaffnete Gruppierungen – darunter kriminelle Banden, Islamisten und lokale Stämme – ganze Städte und weite Landstriche.

Die beiden großen Kontrahenten aber sind in Libyen der von der Internationalen Gemeinschaft anerkannte Ministerpräsident Fayez al-Sarraj sowie dessen erbitterter Gegenspieler General Khalifa Haftar.

Vom Bürgerkrieg zum blutigen Interessenkonflikt fremder Mächte

Die Vereinten Nationen haben den früheren Architekten Sarraj in der Hauptstadt Tripolis als Premier installiert. Sarraj gilt als integer, kann sich jedoch nur mithilfe von Milizen an der Macht halten. Im Osten des Landes hat General Haftar ein Militärregime errichtet. Seine Libyan National Army (LNA), ein Zusammenschluss vor allem aus früheren Gaddafi-Offizieren und Söldnern (wie beispielsweise der berüchtigten privaten Einsatztruppe „Wagner“, Paramilitärs aus Russlands), hat weitere Teile des Landes erobert und belagert seit April 2019 Tripolis.

Haftar wird in dem Konflikt von Russland, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Ägypten, Saudi-Arabien und Frankreich protegiert. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten unterstützen den General, weil sie eine gemeinsame anti-islamistische Haltung verbindet. Das saudische Königshaus hat Haftar für seine Offensive laut einem Bericht des Wall Street Journal „mehrere Millionen Dollar“ versprochen. Die Interessen Putins in Libyen sind einerseits politisch (Stichwort „Großmachtrolle“). Andererseits hofft Moskau nach einem Ende des Embargos der Vereinten Nationen auf eine Fortsetzung lukrativer Waffengeschäfte mit Libyen. Paris hat in Libyen ebenfalls wirtschaftliche Interessen. Der französische Energiekonzern „Total“ ist in dem erdölreichen Land zunehmend präsent und konkurriert mit dem italienischen Unternehmen „Eni“. Libyen ist außerdem für Frankreich vor allem wegen der angrenzenden Sahelzone wichtig, um deren Stabilität Paris besorgt ist. Französische Truppen sind in der Sahelzone seit dem 1. August 2014 mit der „Opération Barkhane“ präsent und unterstützen die Regierungen von Burkina Faso, Mauretanien, Mali, Niger und dem Tschad im Kampf gegen Terroristen. Haftar wird dabei von den Franzosen offensichtlich als der „idealere Partner“ wahrgenommen.

Die Türkei, Katar und Italien stehen auf der Seite der Regierung Sarraj. Mit seiner offiziellen Einmischung in den Konflikt hofft der türkische Präsident Erdogan einen Verbündeten aufzubauen, der von den Muslimbrüdern unterstützt wird und ihm damit ideologisch nahesteht. Er will einmal aber auch von den Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer profitieren. Italien hat als ehemalige Kolonialmacht ein eigenes Verhältnis zu Libyen. Hinter der Unterstützung Sarrajs stehen aber auch starke ökonomische Interessen. Die italienische Ölfirma „Eni“ ist der „Nationalen Libyschen Ölgesellschaft“ (Tripolis) durch ein Joint-Venture verbunden und versucht nun, den französischen Konkurrenten „Total“ zu verdrängen.

Jahrelange Passivität und Unentschlossenheit der Europäer

Die Europäische Union steht offiziell hinter Ministerpräsident Sarraj. Dabei gehe es ihr „vor allem um die Kontrolle der Migration“, schrieb im Dezember 2019 die freie Afrika-Korrespondentin Bettina Rühl in der politischen Wochenzeitung des Bundestages Das Parlament. Die EU unterstütze daher auch „die sogenannte libysche Küstenwache, die faktisch aus mehreren Milizverbänden“ bestehe. Rühl dazu weiter: „Bekannt ist, dass vor allem Einheiten im Westen schwere Menschenrechtsverletzungen begehen und mit Kartellen der Menschenschmuggler kooperieren.“

Nach jahrelanger Passivität und Unentschlossenheit der Europäer war schließlich mit der Ankündigung einer neuen EU-Marinemission Bewegung in der Libyen-Frage gekommen. Die Grundsatzentscheidung dafür war am 17. Februar dieses Jahres in Brüssel gefallen (siehe auch hier). „Diese Mission soll auch eine maritime Komponente haben, die sich an den Routen derjenigen orientiert, die Waffen nach Libyen bringen, also im östlichen Mittelmeer“, hatte Deutschlands Außenminister Heiko Maas unmittelbar nach dem Beschluss erklärt.

Die Entscheidung für eine Libyen-Mission bedeutete zugleich das Ende der zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Marinemission „Sophia“. Diese sollte ursprünglich Schmuggel und Menschenhandel eindämmen. Bis zum Ende des Einsatzes zur See waren jedoch auch immer wieder Migranten aus Seenot gerettet. Die EU-Staaten hatten sich letztendlich aber nicht auf die Verteilung der Geretteten einigen können.

Bundesregierung initiierte die Berliner Libyen-Konferenz

Fast drei Jahre lang hatte sich der libanesische Politikwissenschaftler Ghassan Salamé als Sonderbeauftragter des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für den Frieden in Libyen engagiert. Am Schluss war die mit dieser Sisyphusaufgabe verbundene seelische und wohl auch körperliche Belastung zu groß geworden. Salamé, auch Leiter der United Nations Support Mission in Libya (UNSMIL), bat vor wenigen Wochen – am 2. März – Generalsekretär António Guterres, ihn von seinen Aufgaben zu entbinden. Auf Twitter gestand der Libanese: „Ich habe mich mehr als zwei Jahre bemüht, die Libyer zusammenzubringen, die ausländische Intervention einzudämmen und die Einheit des Landes zu bewahren […]. Heute muss ich einräumen, dass meine Gesundheit diese Form von Stress nicht mehr zulässt.“

Auf Anregung von Ghassan Salamé hatte die Bundesregierung seit September 2019 die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie Vertreter von Italien, der Türkei, Ägyptens, der Vereinigten Arabischen Emirate, der Europäischen Union, der Arabischen Liga und der Afrikanischen Union im Rahmen des sogenannten „Berliner Prozesses“ mehrfach zu Beratungen eingeladen, um die Voraussetzungen für einen innerlibyschen Friedensprozess zu diskutieren.

Dies führte schließlich am 19. Januar 2020 zur Berliner Libyen-Konferenz, an der zusätzlich auch Algerien und die Republik Kongo teilnahmen. Das Ergebnis: eine gemeinsame 55 Punkte umfassenden „Schlussfolgerung“ und ein von UNSMIL erstellter Operationalisierungsplan.

Die Teilnehmer der Hauptstadtkonferenz bekannten sich zu einem libyschen Friedensprozess unter der Ägide der Vereinten Nationen, sicherten zu, sich nicht in den bewaffneten Konflikt und die inneren Angelegenheiten des nordafrikanischen Landes einzumischen, und verpflichteten sich, das von den Vereinten Nationen gegen Libyen verhängte Waffenembargo in vollem Umfang einzuhalten und umzusetzen. Die libyschen Konfliktparteien wurden in Berlin dazu aufgerufen, einen nachhaltigen Waffenstillstand zu erzielen und in Dialog miteinander zu treten.

Am 12. Februar 2020 indossierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Schlussfolgerungen der Libyen-Konferenz sowie die der UNSMIL übertragenen Aufgaben des Operationalisierungsplans in der Resolution 2510 (2020).

Waffenstillstandsabkommen wird nach wie vor von allen Seiten verletzt

Ebenfalls im Februar dieses Jahres kamen erstmals seit der Eskalation der Kämpfe militärische Vertreter beider Konfliktparteien unter Führung der Vereinten Nationen in Genf zusammen und präsentierten dort den Entwurf eines Waffenstillstandsabkommens. Vom 26. bis zum 29. Februar tagte erstmals ein „Politischer Dialog“, ebenfalls unter Führung der Vereinten Nationen.

In ihrem Antrag zur „Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte“ an der Operation „Irini“ muss die Bundesregierung trotz so mancher hoffnungsvoller Signale eingestehen: „ [Es] gibt weiterhin Verstöße gegen das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen Libyen durch Lieferungen von Waffen, Material und Kämpfern an beide Seiten des Konfliktes. Auch werden aus Libyen weiterhin regelmäßig teils schwere Kampfhandlungen gemeldet, insbesondere in und um Tripolis (Flughafen Mitiga) sowie in Bereichen von strategischer Bedeutung (Misratah, Sirte und im Süden des Landes). Aufrufe zu einer humanitären Waffenruhe durch den Generalsekretär der Vereinten Nationen, durch UNSMIL und durch Teilnehmer der Berliner Libyen-Konferenz werden bislang nicht befolgt. Das Waffenstillstandsabkommen ist bislang von beiden Konfliktparteien nicht angenommen worden.“

Bereits im Januar brachte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, eine stärkere Rolle der Europäer zur Kontrolle des Waffenembargos der Vereinten Nationen gegen Libyen sowie eine mögliche Überwachung eines Waffenstillstandsabkommens ins Gespräch. Beim Treffen der EU-Außenminister am 17. Februar in Brüssel wurde – wie bereits beschrieben – als EU-Beitrag zur Umsetzung der Ergebnisse der Berliner Libyen-Konferenz eine neue Mission im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) im Grundsatz politisch beschlossen, mit dem Kernauftrag der Implementierung des Waffenembargos gegen Libyen.

Zur Umsetzung soll sich die militärische Operation auf Luftfahrzeuge, Satelliten und seegehende Einheiten abstützen. Einhergehend mit dieser Grundsatzentscheidung wurde EU NAVFOR Med – Operation „Sophia“ am 31. März 2020 offiziell beendet.

„Irini“-Einsatz kostet die Bundesregierung zunächst rund 45,6 Millionen Euro

Teil des neuen Auftrags EU NAVFOR Med – Operation „Irini“ soll unter anderem das Anhalten, die Kontrolle, Durchsuchung und Umleitung von Schiffen sein, bei denen der Verdacht besteht, dass sie unter Verstoß gegen das gegen Libyen verhängte Waffenembargo der Vereinten Nationen Waffen oder zugehöriges Material nach oder aus Libyen befördern. Außerdem sollen illegale Ausfuhren von Erdöl aus Libyen und das Sammeln diesbezüglicher Informationen, einschließlich zu Ausfuhren von Rohöl und raffinierten Erdölerzeugnissen Teil der Mission sein.

Darüber hinaus soll der Aufbau von Kapazitäten der libyschen Küstenwache und Marine und Ausbildung bei Strafverfolgungsaufgaben auf See – insbesondere zur Verhinderung von Schleuserkriminalität und Menschenhandel – im Einsatzgebiet unterstützt werden. Für den Zeitraum vom 7. Mai 2020 bis 30. April 2021 will die Bundesregierung für den „Irini“-Einsatz der Bundeswehr rund 45,6 Millionen Euro bereitstellen.

In unserem zweiten Teil über die neue EU-Mittelmeermission „Irini“ wollen wir unter anderem über die Beratungen im Bundestag über den Antrag der Bundesregierung am 23. April berichten.


Über unser Bildmaterial zum Beitrag „Neue EU-Mittelmeermission“ (Teil 1):
1. Jubelnde Milizionäre in Libyen am 17. Oktober 2011, wenige Tage vor dem Tod des flüchtigen Diktators Muammar al-Gaddafi.
(Bildquelle: Magharebia-Website/Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz CC BY 2.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

2. Rivalen um die Macht in Libyen: Ministerpräsident Fayez al-Sarraj (links) und General Khalifa Haftar. Das linke Bild zeigt Sarraj am 20. November 2017 bei einem Besuch im US-Verteidigungsministerium in Washington, das rechte Bild Haftar bei einem Interview im April 2011.
(Bild links: Brigitte N. Brantley/U.S. Secretary of Defense;
Bild rechts: https://www.flickr.com/photos/magharebia/5657726191/in/photolist-9BXjTi-223UQvv-RJDi8r-2hGni6T/
unter Lizenz CC BY 2.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)

3. Der frühere Sondergesandte der Vereinten Nationen für Libyen, Ghassan Salamé (links) mit dem Botschafter Italiens in Libyen, Giuseppe Perrone. Die Aufnahme wurde am 8. Februar 2018 in Tripolis gemacht.
(Foto: UNSMIL)

4. 19. Januar 2020 – internationale Libyen-Konferenz in Berlin.
(Foto: UNSMIL)

Kleines Beitragsbild: Das Symbolbild „Seeüberwachung“ vom 9. März 2016 entstand auf der Kommandobrücke des Einsatzgruppenversorgers „Bonn“. Die „Bonn“ war damals das Führungsschiff der Standing NATO Maritime Group 2 (SNMG 2) im Rahmen der Seeraumüberwachung in der Ägäis.
(Foto: Tom Twardy/Bundeswehr)


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