Berlin/Washington D.C./Kabul. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen geht energisch gegen Pädophile in der Bundeswehr vor. Wie die BILD-Zeitung am gestrigen Mittwoch (24. Januar) meldete, hat das Ministerium einen entsprechenden Prüfauftrag erhalten. Untersucht werden soll offenbar, wie enttarnte Kinderschänder in Zukunft leichter aus der Truppe entfernt werden können als bisher. Aktueller Hintergrund ist die Verhaftung eines Bundeswehrsoldaten, der am Missbrauch eines Neunjährigen im Raum Freiburg beteiligt gewesen sein soll. Die Mutter des Jungen hatte den Behörden zufolge gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten das Kind Männern entgeltlich für Missbrauchshandlungen überlassen. Solche „unfassbaren Verbrechen“ würden alle Angehörigen der Bundeswehr zutiefst abstoßen, erklärte von der Leyen. Mit dem Thema „Kindesmissbrauch“ befasste sich diese Woche auch die New York Times. Die Tageszeitung stellte dabei einen Sonderbericht des Generalinspekteurs für den Wiederaufbau Afghanistans, John Sopko, vor. In dem Bericht werden zahllose Missbrauchsfälle in den Reihen der afghanischen Sicherheitskräfte angeprangert.
Die Zerschlagung des Freiburger Pädophilenrings, zu dem auch der 49 Jahre alte Bundeswehrsoldat gehört haben soll, erregte deutschlandweit Aufsehen. Der Portepeeunteroffizier, ein Angehöriger der Deutsch-Französischen Brigade, war in seiner Kaserne in Illkirch-Graffenstaden im Elsass festgenommen worden (mehr dazu hier). Nach BILD-Informationen war bereits vor etwa acht Jahren auf dem Dienstrechner des Mannes kinderpornografisches Material entdeckt worden. Der Täter soll den Neunjährigen nicht nur vergewaltigt haben, sondern er habe sich angeblich bei der Tat auch filmen lassen, so die Boulevardzeitung.
Der des Missbrauchs Beschuldigte sei vorläufig vom Dienst enthoben und dürfe keine Uniform mehr tragen, teilte die Bundeswehr mit. Gegen ihn sei ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Dieses ruhe aber so lange, bis der Fall vor einer Strafkammer abgeschlossen sei.
Dass es sich bei dem Angehörigen der Deutsch-Französischen Brigade nicht um einen Einzelfall in der Truppe handelt, verdeutlichen Zahlen des Verteidigungsministeriums zu Ermittlungsverfahren gegen Bundeswehrangehörige wegen Kindesmissbrauchs und des Besitzes beziehungsweise des Konsums von Kinderpornografie. Wie die BILD-Zeitung erfuhr, soll es in der Bundeswehr 2015 insgesamt neun Verdachtsfälle gegeben haben, 2016 sollen es 19 und 2017 schließlich 26 gewesen sein. Diese Zahlen seien von einem Ministeriumssprecher mitgeteilt worden, so das Blatt. Insgesamt seien vier Strafverfahren eingestellt worden. Ob dies gegen eine Geldauflage geschehen sei, habe der Sprecher nicht gesagt.
Laut Strafgesetzbuch wird sexueller Missbrauch von Kindern mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren geahndet. Sollte ein pädophiler Bundeswehrsoldat von einem Zivilgericht verurteilt werden und mehr als ein Jahr Haft erhalten, dann muss er die Bundeswehr verlassen. Bei einem Strafmaß unter einem Jahr leitet die Bundeswehr „nur“ ein Disziplinarverfahren gegen den Verurteilten ein.
Verteidigungsministerin von der Leyen hat nun entschieden, die Faktenlage ähnlich gelagerter Vorgänge nochmals aufzuarbeiten und „die ganze Bandbreite an Handlungsmöglichkeiten für die Bundeswehr“ zu betrachten. Oberstes Ziel müsse es sein, „solche widerlichen Verbrechen durch Angehörige der Bundeswehr in aller Strenge und Klarheit zu ahnden“. Ähnlich sieht dies Henning Otte, verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Er sagte der BILD-Zeitung: „Als Familienvater und verteidigungspolitischer Sprecher steht für mich fest: Für Pädophile oder gar Kinderschänder ist kein Platz in unseren Streitkräften!“
Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels, wünscht sich eine Verbesserung bei den dienstrechtlichen Konsequenzen. In einem Interview für den Donaukurier, erschienen am 17. Januar, räumte er ein: „Es ist nicht gut, dass sich die Bundeswehr prinzipiell nicht von Berufssoldaten trennen kann, die wegen einer Straftat – egal welcher – zu weniger als einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt wurden.“ Soldatinnen und Soldaten hätten geschworen, Recht und Freiheit zu verteidigen, auch Recht und Freiheit von Kindern, so Bartels im Gespräch mit dem Journalisten Andreas Herholz. Der Wehrbeauftragte weiter: „Viele würden sich wünschen, dass man hier einen Strich ziehen und verurteilte Täter jedenfalls unter bestimmten Umständen, etwa bei Kindesmissbrauch, leichter entlassen könnte. Das ist ein Problem. Man sollte sich von solchen Soldaten trennen können.“
In Deutschland sind zwischen 200.000 und einer Million Minderjährige sexueller Gewalt ausgesetzt. Diese hohe Zahl haben Wissenschaftler der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie ermittelt und im März 2016 veröffentlicht. Auftraggeber der Studie war das Amt des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (derzeit leitet dieses Amt der Jurist Johannes-Wilhelm Rörig).
Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Ulmer Universitätsklinik, kommentiert das überraschend hohe Ergebnis: „Sexueller Missbrauch hat auch in Deutschland eine enorme Dimension, die so bisher nicht in einer Übersichtsstudie erhoben wurde. Die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen spricht für die europäische Region von einer Häufigkeit von 9,6 Prozent für sexuellen Missbrauch – bei Mädchen sind es 13,4 Prozent, bei Jungen 5,7 Prozent.“
Im September 2015 war bereits eine andere umfangreiche Studie zum Missbrauch von Kindern und Jugendlichen veröffentlicht worden. An dem rund dreieinhalb Jahre dauernden Projekt „MiKADO – Missbrauch von Kindern: Aetiologie, Dunkelfeld, Opfer“ hatten sich Mediziner und Psychologen der Universitäten in Bonn, Dresden, Hamburg, Ulm sowie Turku in Finnland beteiligt. Die Leitung des Forschungsverbundes lag dabei in den Händen von Prof. Dr. med. Michael Osterheider und Dr. Janina Neutze von der Universität Regensburg (Abteilung für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie). Befragt worden waren in anonymen Onlineinterviews insgesamt 28.000 Erwachsene und mehr als 2000 Kinder und Jugendliche. Der Bund hatte das Vorhaben mit etwa 2,4 Millionen Euro finanziert.
Die Studie schätzt, dass etwa 8,5 Prozent der jungen deutschen Erwachsenen sexuelle Missbrauchserfahrungen gemacht haben. Im nationalen und internationalen Vergleich liegt Deutschland damit im unteren bis mittleren Bereich. Bei ihrer ersten Missbrauchserfahrung sind die Betroffenen im Durchschnitt 9,5 Jahre alt gewesen. Frauen berichteten mit 11,5 Prozent deutlich häufiger von Missbrauch im Kindesalter als Männer (5,1 Prozent). Das Dunkelfeld sei jedoch „immens“, befürchten die Forscher.
Untersucht wurde auch, wie häufig sexuelles Interesse an Kindern in der Bevölkerung vorkommt. Die Prävalenz (Anm.: Kennzahl für die Krankheitshäufigkeit) sexueller Fantasien mit Kindern in der männlichen deutschen Bevölkerung kann laut Studie auf 4,4 Prozent geschätzt werden, eine Größenordnung, die im nationalen und internationalen Vergleich im mittleren Bereich zu finden ist. Bei 8718 anonym befragten Männern (Teilmenge der 28.000 anonym befragten Erwachsenen) würde dies dem zufolge, statistisch betrachtet, rund 384 männliche Befragte betreffen. Übertragen auf die Personalgrößenordnungen der deutschen Streitkräfte – aktuell dienen dort rund 158.200 männliche Uniformträger (Stand: 30 November 2017) – wäre davon auszugehen, dass statistisch gesehen fast 7000 Bundeswehrsoldaten sexuelles Interesse an Kindern hegen.
Die MiKADO-Studie hat auch herausgearbeitet, dass das Dunkelfeld der eigentlichen Kindesmissbraucher groß ist. Der Untersuchung zufolge erfüllt jedoch weniger als einer unter 1000 Männern die diagnostischen Kriterien einer Pädophilie. Es sind zumeist andere Faktoren, die beim Kindesmissbrauch eine Rolle spielen.
Ermittelt wurde ferner, dass 2,2 Prozent der erwachsenen Männer in der Allgemeinbevölkerung „mindestens einmal in ihrem Leben Missbrauchsabbildungen von Kindern zur sexuellen Erregung genutzt“ hatten. Mehr als die Hälfte dieser Nutzer gab an, sexuelle Fantasien mit Kindern zu haben. Mehr als ein Viertel der Nutzer gab zudem an, zusätzlich Kindesmissbrauch begangen zu haben. Der Studie zufolge, die momentan als die aussagekräftigste zur Häufigkeit von Kindesmissbrauch in Deutschland gilt, haben bei der anonymen Onlinebefragung 1,4 Prozent erwachsener Männer berichtet, ein Kind im Alter von zwölf Jahren und jünger missbraucht zu haben.
Zum Schluss noch eine Zahl der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO). Die WHO geht von rund 18 Millionen Minderjährigen aus, die in Europa von sexueller Gewalt betroffen sind.
Kurz noch ein Blick in die New York Times. Rod Nordland, der Bürochef der renommierten Tageszeitung in Afghanistans Hauptstadt Kabul, packt mit seinem am Dienstag dieser Woche (23. Januar) erschienenen Beitrag „Freifahrtschein des US-Militärs für afghanische Pädophile“ ein heißes Eisen an. Der Korrespondent befasst sich mit einem Report des US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction, SIGAR), der eigentlich bis zum Jahr 2042 hätte unter Verschluss bleiben sollen und nun doch noch – an vielen Stellen allerdings geschwärzt – der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
In dem fast 70 Seiten starken Dokument, unterzeichnet von SIGAR-Chef John Sopko, geht es schwerpunktmäßig um eine Vielzahl von „gravierenden Menschenrechtsverletzungen“ durch afghanische Sicherheitskräfte, die teilweise von Vertretern des US-Militärs gemeldet worden sind. Unter den insgesamt 5753 Fällen, die sich in den Jahren 2010 bis 2016 ereignet haben sollen, befinden sich auch zahlreiche Fälle von Kindesmissbrauch. Vor allem geht es hierbei um Jungen im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren, die von einflussreichen älteren Männern in Abhängigkeit gehalten und dabei meist auch sexuell ausgebeutet werden (siehe dazu unseren früheren Beitrag).
Sopkos Untersuchungen waren nach einem Artikel in der New York Times im Jahr 2015 in Gang gekommen. In dem Zeitungsartikel war die auch in afghanischen Militär- und Polizeikreisen verbreitete Praxis, sich Knaben als Haus- und oft auch als Sexsklaven zu halten, erstmals öffentlichkeitswirksam in den USA angeprangert worden. Die New York Times hatte auch aufgedeckt, dass amerikanische Soldaten, die in Afghanistan gegen den Missbrauch der Jugendlichen protestiert haben und gegen afghanische Täter vorgegangen sind, von eigenen Vorgesetzten dafür abgestraft worden sind.
Generalinspekteur Sopko beklagt in seinem jetzt publik gewordenen Report „Child Sexual Assault in Afghanistan: Implementation of the Leahy Laws and Reports of Assault by Afghan Security Forces“ auch die lange Untätigkeit des Verteidigungs- und des Außenministeriums. Beide US-Ministerien seien erst aktiv geworden, als der Beitrag der New Yorker Tageszeitung 2015 seine Wirkung entfaltete.
Die amerikanische Gesetzgebung sieht vor, dass bei schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen – etwa bei Missbrauchsfällen – die Militärhilfe für die beschuldigte Einheit gekürzt oder gar ganz eingestellt werden kann. Möglich macht diese Konsequenz die sogenannte „Leahy-Menschenrechtsgesetzgebung“. Das 1997 in den USA verabschiedete und nach dem demokratischen Senator Patrick Leahy benannte Gesetz untersagt der amerikanischen Regierung, ausländische militärische Kräfte zu unterstützen, die unter dem Verdacht schlimmer Menschenrechtsverletzungen stehen.
Allerdings steht dieser Leahy-Regelung eine unscheinbare Klausel entgegen, die eine Sanktionierung der Menschenrechtsverletzung gleich wieder aushebelt. Es geht dabei um den schillernden Begriff „notwithstanding“ und um die „notwithstanding clause“, eine Klausel, die sogar gestandene US-Anwälte in höchstem Maße irritieren kann. Der Terminus „notwithstanding“ hat laut juristischen Wörterbüchern etliche Bedeutungen, die sich zum Teil diametral widersprechen: ungeachtet, trotz, dennoch, trotzdem, nichtsdestotrotz, obwohl, obgleich, unbeschadet, ohne Rücksicht auf, abweichend von, in Abänderung von.
Im Falle der Leahy-Gesetzgebung bedeutet die „notwithstanding clause“, dass aus dem scharfen Schwert der Unterbrechung oder Kürzung der Militärhilfe ein stumpfes Instrument wird. Denn die „notwithstanding“-Klausel besagt, dass „Militärhilfe für die Afghanen verfügbar sein sollte, ungeachtet jeder anderen Rechtsvorschrift“. Die „Ungeachtet“-Klausel begünstigt also indirekt Sexualstraftäter in Afghanistan.
Die New York Times nennt in ihrem Beitrag auch Fälle aus dem SIGAR-Report, in denen US-Soldaten in Afghanistan Courage zeigten, dafür aber übel entlohnt wurden. So wurde Hauptmann Dan Quinn, Angehöriger einer amerikanischen Spezialeinheit, seines Kommandos enthoben, weil er einen afghanischen Kommandeur verprügelt hatte. Dieser hatte sich einen Minderjährigen als Sexsklaven gehalten und den Jungen an sein Bett angekettet.
Charles Martland, ein hochdekorierter Unteroffizier der Green Berets, wurde aus dem Militärdienst entlassen, nachdem er einen afghanischen Polizeikommandanten in Kunduz, der ein Kindervergewaltiger war, zusammengeschlagen hatte. Martland hatte erfahren, dass der Polizeioffizier einen Jungen entführt, missbraucht und später die Mutter des Opfers geschlagen hatte, als diese ihren Sohn zu retten versuchte. Offenbar haben Untersuchungen des amerikanischen Kongresses mittlerweile zur Wiedereinstellung des US-Soldaten geführt.
Zu unserem Bildmaterial:
1. „Kinder vor Pädophilen schützen“ – eine Initiative aus der Schweiz.
(Bildelemente: www.kinder-schuetzen.ch; Bildmontage mediakompakt)
2. Das Hintergrundfoto unserer Bildmontage zeigt Kinder in der afghanischen Provinz Wardak am Wasser; die Aufnahme stammt vom 4. Mai 2010. Einmontiert sind der Umschlag und eine Inhaltseite des am 18. Januar 2018 veröffentlichten SIGAR-Reports über Kindesmissbrauch in Kreisen der afghanischen Sicherheitskräfte. Auffällig sind die zahlreichen Schwärzungen in diesem Behördendokument.
(Foto: Fardin Waezi/UNAMA/Vereinte Nationen; Bildmontage mediakompakt)