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Arlington (Virginia, USA)/Kabul (Afghanistan). Düsteres Lagebild „Afghanistan“: Auch der jetzt am 30. Juli veröffentlichte Quartalsbericht des Sonderbeauftragten des US-Senats für den Wiederaufbau Afghanistans verbreitet kaum Optimismus. Im Gegenteil! John Sopko, der Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR), berichtet von weiter steigenden Verlustzahlen aufseiten der nationalen Sicherheitskräfte. So wurden seinen Informationen zufolge im Zeitraum 1. Januar bis 8. Mai 2017 bereits 2531 afghanische Soldaten und Polizisten bei Auseinandersetzungen mit den Regierungsgegnern oder bei Anschlägen getötet, 4238 wurden verletzt. In einem geheimen Bericht, den SIGAR am 1. August dem US-Kongress übergab, wirft die Behörde der afghanischen Regierung zudem eine Mitschuld am Kindesmissbrauch durch die eigenen Sicherheitskräfte vor.

Der aktuelle SIGAR-Quartalsreport mit der Nummer 36 dokumentiert, dass die Verlustzahlen der ersten vier Monate dieses Jahres fast so hoch sind, wie die im Vergleichszeitraum 2016. Im gesamten Vorjahr waren rund 7000 afghanische Sicherheitskräfte getötet und rund 12.000 verletzt worden – verglichen mit 2015 ein Anstieg von mehr als 30 Prozent.

Der Bericht kommt auch zu dem Schluss, dass momentan die Auseinandersetzungen zwischen den Aufständischen und der Regierung in Kabul eine Pattsituation erreicht haben. Die Verteilung der Territorien, die entweder von der einen oder von der anderen Kriegspartei dominiert werden, habe sich in den ersten vier Monaten des Jahres kaum geändert, so das Büro von John Sopko (siehe auch unseren Juni-Beitrag).

Sommeroffensive der Regierungsgegner startete Ende April

Laut SIGAR befinden sich derzeit geschätzt 59,7 Prozent der landesweit 407 Distrikte unter direkter Kontrolle oder Einflussnahme der Regierung Afghanistans. Die Aufständischen, so der Bericht, kontrollierten oder beeinflussten wie im Quartal zuvor weiterhin rund elf Prozent des Landes. Elf Distrikte würden von den Rebellen direkt kontrolliert, 34 stünden nachhaltig unter ihrem Einfluss.

Mit dem Beginn ihrer Sommeroffensive Ende April haben die Taliban und andere Gruppierungen ihre Angriffe in fast allen Teilen des Landes intensiviert. Unter den Provinzen mit der höchsten „Talibandichte“ sei Kunduz im Norden, heißt es in dem SIGAR-Report weiter. Bis zum Stichtag der Erhebung im Mai seien knapp 30 Prozent des Landes umkämpft gewesen – hier vor allem Helmand, Farah, Faryab, Sar-E Pul, Kunduz, Baghlan, Badakhshan, Kunar, Laghman, Uruzgan und Zabul. In diesen Gegenden leben mehr als acht Millionen Menschen.

Einer Statistik der Vereinten Nationen zufolge wurden im Zeitraum 1. März bis 31. Mai in ganz Afghanistan 6252 „Sicherheitsvorfälle“ – Überfälle, Bombenexplosionen, Sprengstoffanschläge, Selbstmordattentate, gezielte Tötungen und andere Gewalttaten – registriert.

SIGAR prangert Kindesmissbrauch durch afghanische Soldaten und Polizisten an

Der geheime Bericht der Behörde SIGAR, der jetzt unter anderem dem US-Kongress übergeben wurde, klagt die afghanische Regierung der Mitverantwortung „für den Missbrauch von Kindern durch eigene Soldaten und Polizisten“ an.

Vor allem geht es um das Thema der „Bacha Bazi“ – übersetzt „Knabenspiel“. Über die „Tanzknaben vom Hindukusch“ hatte 2011 bereits ausführlich Friederike Böge berichtet. Die Redakteurin in ihrem damaligen Beitrag aus Kabul für die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Es ist ein archaisches Tun, das in Afghanistan und anderen Ländern der Region seit Jahrhunderten verbreitet ist. Reiche Männer halten sich dabei Jungen im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren, die nicht nur für sie tanzen, sondern sie auch zu gesellschaftlichen Anlässen begleiten. In vielen Fällen kommt es zu sexuellen Handlungen. Wenn ihre Herren zufrieden sind mit den Diensten, bekommen die meist aus bitterarmen Familien stammenden Knaben Geld und teure Geschenke. […] Die Versuche, diesen Kindesmissbrauch zu bekämpfen, sind so alt wie die Anfänge des modernen afghanischen Staates.“

Regierung in Kabul fürchtet Konsequenzen aus der Leahy-Gesetzgebung

Nun schlägt also SIGAR Alarm und pocht auf die „Leahy-Menschenrechtsgesetzgebung“. Das 1997 in den USA verabschiedete und nach dem demokratischen Senator Patrick Leahy benannte Gesetz untersagt der amerikanischen Regierung, ausländische militärische Kräfte zu unterstützen, die unter dem Verdacht „grober Menschenrechtsverletzungen“ stehen.

Der Report der Behörde klagt an: „Afghanische Beamte machen sich mitschuldig, insbesondere bei der sexuellen Ausbeutung und der Rekrutierung von Kindern durch die afghanischen Sicherheitskräfte.“ Der afghanischen Regierung wird vorgeworfen, die in Verruf geratene Tradition stillschweigend zu dulden. Die Opfer würden weder identifiziert noch werde ihnen geholfen. In einigen Fällen seien Opfer sogar festgenommen oder strafrechtlich verfolgt worden, so SIGAR.

Die Vereinten Nationen haben sich übrigens in der Vergangenheit mehr als einmal mit dem „Bacha Bazi“-Unwesen befasst. Im Jahresbericht 2010 der damaligen Beauftragten der Organisation „für Kinder und bewaffnete Konflikte“, Radhika Coomaraswamy, werden beispielsweise die vom Westen unterstützten afghanischen Sicherheitskräfte des systematischen Kindesmissbrauchs bezichtigt. In einer Fußnote konnte man nachlesen: „Manche Kommandeure auf Distriktebene umgehen den formalen Rekrutierungsprozess und heuern Jungen an, darunter auch für sexuelle Zwecke.“

Die USA sind derzeit in Afghanistan mit rund 8400 Soldaten an der „Resolute Support Mission“ (RSM) der NATO beteiligt. Die Bundeswehr stellt momentan 1118 Soldaten, davon 97 Frauen und 85 Reservisten (Stand: 24. Juli). Das aktuelle Mandat des Bundestages für diesen Auslandseinsatz stammt vom 15. Dezember 2016 und ist bis zum 31. Dezember dieses Jahres befristet. Eine Verlängerung ist mehr als wahrscheinlich.

Wie aus dem aktuellen SIGAR-Quartalsbericht auch hervorgeht, hat der Afghanistaneinsatz die Vereinigten Staaten seit 2001 bis heute geschätzt 714 Milliarden US-Dollar gekostet – Kriegskosten und Kosten für den Wiederaufbau des Landes eingerechnet. Eine gigantische Summe, die eigentlich keinerlei „Knabenspiel“ dulden darf!


Zu unserem Bildmaterial:
1. Noch immer fallen zahlreiche Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte heimtückischen Sprengfallen der Aufständischen zum Opfer. Ein Ausbildungsschwerpunkt liegt deshalb auch heute noch auf dem richtigen Umgang mit diesen provisorischen Wirkmitteln.
(Foto: Paul Morrison/Royal Logistic Corps/SIGAR)

2. Am 13. Juni 2017 erklärte US-Verteidigungsminister James N. Mattis vor einem Ausschuss des Senats: „Die Vereinigten Staaten können im Augenblick den Krieg in Afghanistan nicht gewinnen, wir werden dies aber baldmöglichst korrigieren.“ Das Bild zeigt Mattis während eines Besuches in Kabul; neben ihm bei der Pressekonferenz US-General John W. Nicolson Jr., Befehlshaber der „Resolute Support Mission“.
(Foto: Brigitte Brantley/United States Department of Defense)

3. Angehöriger eines Spezialkommandos der afghanischen Sicherheitskräfte auf der Jagd nach Kämpfern des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) in der Ostprovinz Nangarhar.
(Foto: Kathryn Gray/Resolute Support Mission)


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