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Koblenz. Ob New York, Boston, Paris, Brüssel, Nizza, Berlin, Manchester, London, Kabul oder jetzt Teheran – der globale Terror hat sich zu einer Geißel der Menschheit entwickelt, zu einer schier endlosen Plage. Und die Häufung der Anschläge befeuert ein Klima ständiger Wachsamkeit und Bereitschaft. Der zivile medizinische Sektor hat mittlerweile – die Bilder weltweiter Terroropfer vor Augen – ein großes Interesse an den Erfahrungen, die der Sanitätsdienst der Bundeswehr in den Auslandseinsätzen gemacht hat. Die zentrale Frage lautet: Welches Know-how ist im Medizinbereich nötig, um im Falle eines Terroranschlags strategisch, taktisch und klinisch richtig reagieren zu können? Die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) räumt ein, dass es dem zivilen medizinischen Versorgungssystem an Erfahrungen und Übung in der Behandlung von Terrorverletzten mangelt. Es sei daher erforderlich, von der Bundeswehr und ihren Auslandsmissionen zu lernen. DGU und Sanitätsdienst kooperieren schon seit geraumer Zeit. Am gestrigen Mittwoch (7. Juni) nun unterzeichneten die strategischen Partner in Koblenz eine offizielle „Absichtserklärung zur Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Deutscher Gesellschaft für Unfallchirurgie“.

Die künftige Zusammenarbeit soll unter anderem gemeinsame Studien sowie Forschungs- und Entwicklungsvorhaben umfassen, um so zur Weiterbildung des medizinischen Personals beizutragen. Auch wollen die Vertragspartner zusammen unterstützende Technologien entwickeln und anwenden. Letztendlich soll der „regelhafte Erfahrungs- und Wissensaustausch“ im Mittelpunkt stehen.

Zu der Bedeutung der zivil-militärischen Zusammenarbeit zwischen DGU und Bundeswehr äußerte sich jetzt in Koblenz der Inspekteur des Sanitätsdienstes, Generaloberstabsarzt Dr. Michael Tempel. Er sagte: „Im Ernstfall sind sowohl das Militär als auch die zivile Medizin gleichermaßen auf die Nutzung des vollen Umfangs bestehender Erfahrungen angewiesen. Nur unter Rückgriff auf die Expertise des anderen sind wir in der Lage, auch die Herausforderungen durch den Terrorismus zu bewältigen.“

Fünf-Punkte-Plan, Berliner Notfallkonferenz und regionale Informationstage

Damit sich auch in Deutschland Chirurgen angesichts einer latenten Anschlagsgefahr noch besser auf eine mögliche Versorgung von Terroropfern vorbereiten können, entwickelten DGU und Bundeswehr einen Fünf-Punkte-Plan. Dieser wurde im September vergangenen Jahres der Öffentlichkeit vorgestellt (wir berichteten). Zeitgleich fand am Unfallkrankenhaus in Berlin-Biesdorf eine Fachtagung mit dem Titel „Terroranschläge – eine neue traumatologische Herausforderung“ statt. Zu dieser Notfallkonferenz waren rund 200 Teilnehmer aus dem Medizinbereich (Notfallmedizin und Chirurgie), dem Bereich der Bundeswehr und aus der Politik angereist.

Der gemeinsame Fünf-Punkte-Plan legt fest, dass Chirurgen künftig bundesweit und flächendeckend für eine medizinische Versorgung im Terrorfall geschult werden sollen, da besonders die Versorgung von Schuss- und Explosionsverletzungen spezielle Kenntnisse erfordert. DGU und Bundeswehr wollen so dafür sorgen, dass Terroropfer in Deutschland immer und überall „schnell und situationsgerecht auf hohem Niveau“ versorgt werden können.

Rund 600 deutsche Kliniken arbeiten in zertifizierten „TraumaNetzwerken“

An die Berliner Notfallkonferenz knüpften im Januar und Februar dieses Jahres regionale Informationstage in München, Hamburg, Leipzig und Koblenz an. Diese Veranstaltungen richteten sich vor allem an die verantwortlichen Sprecher der „TraumaNetzwerke“ der Initiative „TraumaNetzwerk DGU®“ und an die ärztlichen Leiter der Rettungsdienste. Der DGU-Initiative gehören deutschlandweit mehr als 600 Kliniken an, die Schwerverletzte nach einheitlichen Standards versorgen. Die Kliniken sind in 52 zertifizierten sogenannten „TraumaNetzwerken“ organisiert.

Auf dem Programm der Info-Tage standen zunächst Impulsvorträge durch in- und ausländische Experten, eine umfassende Darstellung der aktuellen Sicherheitslage sowie die Situationsanalyse von Kliniken und Klinikpersonal. Weitere Schwerpunkte betrafen beispielsweise die klinischen Aspekte von speziellen Terror-Verletzungen sowie das taktisch-chirurgische Vorgehen und strategische Überlegungen nach einem Anschlag. Abschließende Workshops fragten nach den besonderen Aufgaben einzelner Kliniken und des gesamten Kliniknetzwerks im Ernstfall.

Das Dokument über die Zusammenarbeit unterzeichneten in der Koblenzer Falckenstein-Kaserne der Inspekteur des Sanitätsdienstes und Professor Dr. Ingo Marzi, seit Januar Präsident der DGU. Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, der 2012 auch Präsident der European Society for Trauma and Emergency Surgery (ESTES) gewesen war, erklärte nach der Unterzeichnung: „Wir sind auf einen Massenanfall von Verletzten – beispielsweise nach einem Verkehrsunfall – gut vorbereitet. Die ärztliche Versorgung im Terrorfall stellt uns jedoch vor neue Herausforderungen, bei deren Bewältigung uns der Sanitätsdienst der Bundeswehr kompetent unterstützt.“

Wandel von der Kriegsmedizin zur Individualmedizin

Interessante Detaileinblicke in das Themenpaket „Internationaler Terrorismus, Terroranschläge, Wehrmedizin und notfallmedizinische Behandlung“ bietet uns ein Interview des Presse- und Informationszentrums des Sanitätsdienstes mit Oberstarzt Professor Dr. Benedikt Friemert. Friemert ist Leiter der Arbeitsgruppe „Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie“ der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Wir dokumentieren das Gespräch überarbeitet und leicht gekürzt.

Herr Dr. Friemert – die Wehrmedizin hat sich mit Beginn der Auslandseinsätze der Bundeswehr Anfang der 1990er-Jahre stark verändert. Eine hochwertige Individualmedizin ist an die Stelle der sogenannten „Kriegsmedizin“ getreten …
Benedikt Friemert: Die Kriegsmedizin, insbesondere die Kriegschirurgie, ist eine Medizin der absolut reduzierten Mittel. Die Behandlung kann nur auf einem extrem niedrigen Niveau durchgeführt werden, was zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Ergebnisses führt. So sind im Rahmen der kriegschirurgischen Behandlung sehr viel häufiger Amputationen der Extremitäten erforderlich, als rein medizinisch notwendig wäre.

Die Abkehr von der Kriegsmedizin und die Fokussierung auf Individualmedizin haben den Sanitätsdienst vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Zum einen war es erforderlich, das ärztliche und nicht-ärztliche Personal so aus- und weiterzubilden (und vor allen Dingen in Übung zu halten), dass diese Fachkräfte im Auslandseinsatz den Forderungen voll gerecht werden können. Des Weiteren war es erforderlich, das Material und auch die Infrastruktur so anzupassen, dass das Personal auf einem entsprechend hohen Niveau arbeiten kann.

Sanitätsdienst der Bundeswehr genießt international hohes Ansehen

Welche Folgen hatte nun dieser tief greifende Wandel für das Sanitätspersonal unserer Bundeswehr?
Friemert: Die Auswirkungen waren enorm. Insbesondere mussten erhebliche Ausbildungsanstrengungen unternommen werden, um das ärztliche und nicht-ärztliche Personal für die Auslandsmissionen medizinisch und zugleich militärisch zu qualifizieren. Alle Männer und Frauen des Sanitätsdienstes, die im Ausland eingesetzt werden, müssen eine sehr fundierte Ausbildung in der notfallmedizinischen Behandlung haben.

Allerdings ist und bleibt unser Fachpersonal in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine „begrenzte Ressource“. Wir können das nur dadurch kompensieren, in dem wir die Ausbildung des Personals äußerst breit und intensiv durchführen. So hat sich auch das ärztliche wie nicht-ärztliche Personal des Sanitätsdienstes in den vergangenen 20 Jahren erheblich weiter- und höherqualifiziert und dabei teilweise sogar das Niveau im zivilen Bereich übertroffen.

Insgesamt hat sich mittlerweile die Ausbildung unseres gesamten Personals auf die Behandlung schwerer Notfälle – insbesondere auf die mit Schuss- und Explosionsverletzungen – ausgerichtet. Dieses gilt bei der Ausbildung auch für die Konzepte der präklinischen Rettung im Felde, womit beispielsweise „Bergen und Retten unter Beschuss“ gemeint sind. Hier haben uns die Einsatzerfahrungen dazu gezwungen, jede einzelne Kraft, aber auch den gesamten Sanitätsdienst, fachlich wie militärisch weiterzuentwickeln und weiterzubilden. Das Gesamtergebnis lässt sich an dem ausgesprochen hohen Ansehen, das der deutsche Sanitätsdienst im Einsatz bei anderen Nationen genießt, erkennen.

Internationaler Terrorismus verbreitet die klassischen Kriegswunden

Weshalb haben gerade jetzt die zivilen Notfallmediziner ein gesteigertes Interesse an den Erfahrungen der Militärärzte?
Friemert: Wie Sie wissen, ist der internationale Terrorismus längst schon in Europa und auch in Deutschland angekommen. Meist werden bei Anschlägen Schuss- und Explosionsmittel eingesetzt. Dabei handelt es sich in der Regel um die gleichen Waffen und Sprengstoffe, die im Krieg verwendet werden. Somit entstehen bei Attentaten wie in Paris oder Brüssel auch jene klassischen Kriegswunden, die wir als Sanitätsoffiziere bereits aus dem Auslandseinsatz kennen.

Gott sei Dank hat die Bundesrepublik Deutschland in den letzten sieben Jahrzehnten keine Veranlassung gehabt, sich mit solchen Kriegswunden zu befassen. Dies hat sich nun durch den internationalen Terrorismus geändert. Man kann sagen, dass aufgrund des Terrors mit seinen Anschlägen die Kriegsverletzungen wieder nach Europa und auch nach Deutschland zurückgekehrt sind.

Da die zivilen Kollegen (und das zivile medizinische Versorgungssystem) keinerlei Erfahrungen in der Behandlung solcher Verletzungen haben und ihnen auch die damit zusammenhängenden taktisch-strategischen Handlungsweisen präklinisch wie klinisch fremd sind, macht unsere Zusammenarbeit Sinn. Es ist doch nur folgerichtig, dass der Sanitätsdienst der Bundeswehr seine in den Auslandseinsätzen gemachten Erfahrungen und Kenntnisse mit dem zivilen medizinischen Versorgungssystem teilt.

Gute Beispiele für den zivil-militärischen Schulterschluss sind die Kooperationen des Sanitätsdienstes mit der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie, der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie oder – im präklinischen Bereich – mit der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin.

Völlig andere taktisch-strategische Fragestellungen bei einem Terroranschlag

An welchen Erfahrungspotenzialen sind Ihre Kollegen aus dem Bereich der zivilen Medizin denn besonders interessiert?
Friemert: Es gibt zwei wesentliche Themenbereiche. Zum einen die rein medizinischen Themen, wie die Behandlung von Schuss- und Explosionsverletzungen. Diese Verletzungsentitäten liegen – wie bereits erwähnt – in Deutschland kaum vor, sodass keinerlei Erfahrungen damit bestehen. Der zweite Aspekt ist, dass Schuss- und Explosionsverletzungen penetrierende Verletzungen sind, die eine völlig andere Blutungsdynamik aufweisen als herkömmliche schwere Unfälle. Deshalb muss hier auch die Frage der taktisch-strategischen Behandlung, vor allen Dingen bei einem Massenanfall von solchen Verletzten, anders gelöst werden als sonst im medizinischen System in Deutschland üblich.

In der Präklinik wie in der Klinik müssen im Falle eines Terroranschlags völlig andere taktisch-strategische Entscheidungen getroffen werden, wie im Normalfall. Dies hat zum einen mit den Verletzungen – penetrierende Verletzungen, hohe Blutungsraten, hohes Versterben – zu tun, zum anderen aber auch mit der Natur der Terrorlage selbst. Während ein Massenunfall, beispielsweise herbeigeführt durch eine Massenkarambolage auf der Autobahn, klar definiert werden kann und als Ereignis endlich ist, ist bei einem Terroranschlag nie klar, wann das Ende erreicht ist. Unklar bleibt, ob später nicht doch noch weitere Opfer eingeliefert werden.

Wissen vermitteln und Ausbildungsangebote nutzen

Welche Maßnahmen müssen aus Sicht der DGU-Arbeitsgruppe „Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie“ getroffen werden, um künftig bei Terroranschlägen die Versorgung von Verletzten zu verbessern?
Friemert: Im Wesentlichen müssen die zivilen Kollegen in der Behandlung von Schuss und Explosionsverletzungen ausgebildet werden. Geschult werden muss aber auch in Fragen der taktisch-strategischen Medizin und Entscheidungsfindung.

Verschiedene Fachgesellschaften haben dazu für ihren Fachbereich bereits die entsprechenden Ausbildungsprogramme entwickelt. So bietet beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie einen Kurs „Terror und Desaster Surgical Care“ an, bei dem es vor allem um die chirurgischen innerklinischen Belange geht. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie hat ebenfalls einen Kurs entwickeln lassen, in dem Viszeralchirurgen in der Behandlung von penetrierenden Verletzungen im Bauch- und Thorax-Bereich unterrichtet werden. Die DGU hat gemeinsam mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr einen Fünf-Punkte-Plan entwickelt, um über ihr „TraumaNetzwerk“ Wissensinhalte möglichst rasch in der Fläche vermitteln zu können.

Meiner Ansicht nach ist die Vermittlung von Wissen der entscheidende Punkt, um die Versorgung von Verletzten bei Terroranschlägen in Deutschland deutlich zu verbessern.


Zu unserem Bildlauf:
1. Im Januar 2017 fand in Berlin der vierte Wettkampf „Damage Control Surgery-Contest“ des Sanitätsdienstes statt. Beim „Damage Control Surgery-Contest“ üben Chirurgen der Bundeswehr unter Stress, nach einem Terroranschlag Leben zu retten. Ärzte des Teams haben zuvor die Verletzungen der Anschlagsopfer gesichtet und über die Reihenfolge der einzelnen Behandlungen entschieden.
(Foto: Michael Gottschalk/photothek/Bundeswehr)

2. DGU-Informationstage am 24. und 25. Februar 2017 in Koblenz. Oberstarzt Professor Dr. Benedikt Friemert bei seinem Vortrag im Bundeswehrzentralkrankenhaus.
(Foto: Markus Dittrich/Bundeswehr)

3. Porträt: Oberstarzt Professor Dr. Benedikt Friemert. Hintergrund: Rettungskräfte am 19. Dezember 2016 in Berlin unmittelbar nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche.
(Bildmontage mediakompakt; Porträtfoto: Bundeswehr; Hintergrundfoto: Andreas Trojak/unter Lizenz CC BY 2.0 – vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/legalcode)

Kleines Beitragsbild: Der Intensivtransportwagen des Bundeswehrkrankenhauses Hamburg fährt an der zentralen Notfallaufnahme der Einrichtung vorbei zu einem Einsatz. Die Aufnahme stammt vom 9. August 2016.
(Foto: Sandra Herholt/Bundeswehr)


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