Kiel/Flensburg/Bremerhaven/Rostock. Die Offiziersjahrgänge werden von unserer Marine traditionell als „Crew“ bezeichnet und nach dem Eintrittsmonat der Kadetten benannt. Bei den Offiziersanwärtern, die am 4. Juli 2016 ihren Dienst begonnen haben, handelt es sich folglich um die Crew VII/2016. Die rund 250 Männer und Frauen der Crew VII/2016 – darunter auch zehn ausländische Soldaten (unter anderem aus Frankreich und Südkorea) – hatten am 5. August vergangenen Jahres ihren großen Tag. Zur Vereidigung der deutschen Offiziersanwärter an der Marineschule Mürwik in Flensburg war auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gekommen. Mit der Vereidigung endete für die Crew die „soldatische Basisausbildung“, es folgte eine vertiefende Ausbildung. 2017 sollten die Kadetten dann zur seemännischen Ausbildung mit dem traditionsreichen Segelschulschiff der deutschen Marine, der „Gorch Fock“, in See stechen. Es kam jedoch anders (oder eigentlich, wie es kommen musste) …
Vor gut zwei Wochen nun, am 13. Januar, kündigte das Presse- und Informationszentrum der Marine das Auslaufen des Flottendienstbootes „Oker“ zu einer mehrmonatigen Seefahrt an. Erstmals mit an Bord dieses Aufklärungsschiffes: Offiziersanwärter der Mürwiker Marineschule. Es handelt sich – Sie ahnen schon – um Mitglieder der Crew VII/2016. Ziel sei es, so die Marine, „die nautische und seemännische Ausbildung [dieser Frauen und Männer] im Rahmen eines Bordpraktikums zu absolvieren“.
Die Soldaten sollen in mehrere Gruppen aufgeteilt und jeweils für drei Wochen auf die „Oker“ eingeschifft werden. „Neben ihren unterstützenden Tätigkeiten in allen Hauptabschnitten an Bord werden die jungen Anwärter [der Crew VII/2016] auch einen ersten Einblick in das Leben eines Marinesoldaten bekommen“, erklärt das Rostocker Pressezentrum.
Warum der Führungsnachwuchs nun seemännisch auf der „Oker“ ausgebildet wird und nicht wie üblich auf der „Gorch Fock“, verschweigt der Pressetext (auch unsere Nachfrage in Rostock ergab keine klare Bestätigung dafür, dass es zwischen der „Gorch Fock“-Instandsetzung und der „Oker“-Ausbildung einen unmittelbaren Zusammenhang gibt). Tatsache ist jedoch, dass sich die „Gorch Fock“, liebevoll auch „weißer Schwan der Ostsee“ genannt, schon seit Weihnachten 2015 in der Werft befindet – zunächst in Elsfleth an der Unterweser, danach im Schwimmdock der Bredo-Werft in Bremerhaven (wir berichteten). Der Zustand des Segelschulschiffs soll mehr als bedauernswert sein.
Wie NDR 1 Welle Nord bereits am Montag (23. Januar) berichtete, will Ministerin von der Leyen vor dem Hintergrund immens gestiegener Reparaturkosten für die Dreimastbark in der kommenden Woche über das weitere Schicksal des Schiffes entscheiden. Dabei werde es „entweder um eine aufwendige Instandsetzung des fast 60 Jahre alten Dreimasters oder um den Neubau eines Segelschulschiffes für die Marine“ gehen, so Kapitän zur See Johannes Dumrese. Der Leiter des Presse- und Informationszentrums und Sprecher des Marineinspekteurs äußerte sich am heutigen Dienstag zu dem Thema unter anderem gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Anfang vergangenen Jahres hatten die Fachleute noch ein Reparaturvolumen von etwa 9,6 Millionen Euro für die „Gorch Fock“ genannt. Nachdem immer wieder neue Missstände aufgedeckt wurden – zunächst marode Masten, dann Schäden am Oberdeck, zuletzt 58 Jahre alte Kabelkanäle – liegt mittlerweile der Reparaturbedarf bei rund 35 Millionen Euro. Für diesen Betrag könne man, so rechnet jetzt der Bund der Steuerzahler (BdSt) vor, zwei Segelschulschiffe wie die 2011 in Bremen gebaut „Alexander von Humboldt II“ beschaffen (die „Alexander von Humboldt II“ ist allerdings mit ihren gut 65 Metern Länge ein bedeutendes Stück kleiner als die rund 89 Meter lange „Gorch Fock“ und besitzt zudem nicht deren hohe Sicherheitsstandards).
Wie Marinesprecher Dumrese weiter mitteilte, liegt der Großsegler der deutschen Marine seit dem 4. Januar 2016 für die geplante Instandsetzung in Bremerhaven (den Instandsetzungsauftrag hat zwar die Werft im niedersächsischen Elsfleth erhalten, sie nutzt aber das Schwimmdock der Bredo Dockgesellschaft mbH in Bremerhaven). Am 11. Oktober 2016 seien die Arbeiten durch den verantwortlichen Projektleiter gestoppt worden, da sich „deutliche Kostensteigerungen aufgrund verdeckter Schäden für in der Folge sich ergebende weitere Reparaturen“ abgezeichnet hätten und es „keine Klarheit über den Umfang der erforderlichen Maßnahmen“ gegeben habe. Es sei eine Wirtschaftlichkeitsprüfung vorgenommen worden, deren Ergebnis jedoch bislang nicht veröffentlicht wurde.
„Wir müssen die Entscheidung von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen abwarten, welche Alternative greift“, sagte Dumrese am heutigen Dienstag gegenüber der Presse. Die Marine wolle in jedem Fall als Übergangslösung einen Segler als Schulschiff mieten. Welches Schiff dafür infrage komme, sei aber noch nicht entschieden.
Mittlerweile gibt es zur Frage der weiteren „Gorch Fock“-Nutzung auch erste Stimmen. Ein Sprecher des Deutschen Marinebundes beispielsweise ließ wissen, dass „alles gut“ sei, solange es nur „irgendein Segelschulschiff“ für die deutsche Marine gebe. Der maritime Interessenverband ist der Ansicht, dass eine Ausbildung auf hoher See durch nichts zu ersetzen sei. Oder wie es einmal ein Mitglied der ersten „Gorch Fock“-Stammbesatzung formuliert hatte: „Sinn der Ausbildung auf diesem Schiff war und ist es bis heute zu lernen, dass man alleine gar nichts ausrichten kann – nur die Mannschaft zusammen schafft etwas, man muss sich aufeinander verlassen.“
Der Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag (shz) hörte sich an der Küste um und zitiert nun den Kieler Hans-Peter Bartels, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages. Die „Gorch Fock“ gehöre zur Identität der Marine, mahnte dieser. Er sei sehr dafür, dass das für die Ausbildung relevante Schiff weiter im Dienst der Teilstreitkraft genutzt werde.
Die shz ließ in ihrem Beitrag „Entscheidung über Zukunft der ,Gorch Fock‘ in wenigen Tagen“ auch Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer zu Wort kommen. Der SPD-Politiker gestand: „Unser Herz würde bluten, wenn wir die ,Gorch Fock‘ verlieren würden.“ Kiel sei ja der Heimathafen des weißen Windjammers, der seit Jahrzehnten als „Botschafter Deutschlands“ auf den Weltmeeren und in den Häfen der Welt international viel Sympathie gefunden habe.
Klaus Schlie, Präsident des Landtages von Schleswig-Holstein, sagte der shz: „Die ,Gorch Fock‘ ist eines der traditionsreichsten Schiffe Deutschlands und sicher sein bekanntestes. Der Landtag steht hinter der ,Gorch Fock‘ – ob repariert oder neu gebaut.“ Man wolle auch zukünftig die Offiziersanwärter in ihrer Ausbildung begleiten. Die unmittelbare, direkt erlebte Seemannschaft könne nur auf einem Segelschiff erworben werden, dies sei für die Offiziere der deutschen Marine ein absolut notwendiger Ausbildungsteil.
Einen Abschied von der alten Liebe „Gorch Fock“ vorstellen kann sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Ingo Gädechens. Im Oktober vergangenen Jahres, wenige Tage nach Stopp der Instandsetzungsarbeiten an dem Segelschulschiff, hatte der Verteidigungsexperte der Union und frühere Marinesoldat den Lübecker Nachrichten gesagt: „Nimmt man alle Reparaturen der letzten Jahre zusammen, dann hätte man dafür auch einen Neubau in Auftrag geben können.“ Und: „Mit Blick auf das Alter des Schiffes hätte man sich schon früher ehrlich machen sollen.“ Für die Ausbildung sei ein Segelschulschiff unverändert sinnvoll, allerdings müsse es auch irgendwann einmal ersetzt werden. Andere Marineschiffe gingen schließlich nach 30 oder 35 Jahren ebenso außer Dienst, weil die Reparatur immer aufwendiger werde, so Gädechens vor wenigen Monaten.
Jetzt teilte er auf Nachfrage des NDR mit, dass inzwischen auch ein kompletter Neubau geprüft werde. Auch in Zukunft werde die deutsche Marine über ein Segelschulschiff verfügen. Denn, und hier lesen wir noch einmal im Interview mit der Lübecker nach: „Junge Offiziersanwärter müssen die Elemente erleben – Wind, Wasser, Wellen und ihren Einfluss auf das Schiff. Das erlebt man nicht auf der klimatisierten Brücke einer Fregatte.“
Eine eindeutige Position vertritt der Bund der Steuerzahler: Neubau! Bereits in unserem Beitrag am 9. Oktober vergangenen Jahres zitierten wir aus seiner Publikation „Das Schwarzbuch – die öffentliche Verschwendung“ (Ausgabe 2016/2017), in der es zur „Gorch Fock“ unter anderem heißt: „Anfang 2010 wurde das Schiff zur Vorbereitung auf eine Weltumrundung bei einer Werft in Elsfleth generalüberholt. Nach Rückkehr von der Reise in den Heimathafen Kiel war Ende 2011 eigentlich nur eine Instandsetzung des Unterwasseranstrichs vorgesehen. Doch dabei wurden massive Rostschäden entdeckt. Wieder bekam die Werft in Elsfleth den Zuschlag für Reparaturarbeiten von geplant einer Million Euro. Die Reparatur dauerte bis 2014. Nach der Schlussrechnung hatten sich die Kosten auf rund zehn Millionen Euro summiert. Das ist nur zwei Jahre her.“
Weiter kritisierte der Verein in diesem am 6. Oktober 2016 in Berlin und in den Bundesländern vorgestellten „Schwarzbuch“: „Für die neuerliche Überholung wird diesmal sogar mit 20 Millionen Euro und mindestens 15 Monaten Werftliegezeit gerechnet. […] Der Interessierte ahnt schon: Den Auftrag für die Überholung des Schiffs erhielt wieder die Werft in Elsfleth. Zum Vergleich: Das […] private Segelschulschiff ,Alexander von Humboldt II‘ ist 2011 in Bremen für nur 15 Millionen Euro neu gebaut worden.“
Fühlt sich nun der 1949 gegründete und weltweit größte Steuerzahlerverein in seiner Forderung nach einem kompletten Segelschulschiff-Neubau bestätigt? Wir fragten nach bei Rainer Kersten, Geschäftsführer des Landesverbandes Schleswig-Holstein des BdSt. „Leider“, so sagt Kersten. Leider hätten sich die Befürchtungen des BdSt bewahrheitetet und der Reparaturumfang sei erneut um ein Vielfaches höher ausgefallen als ursprünglich geplant. Unerklärlich bleibe es auch, dass trotz intensive Pflege und Wartung sowie ständiger Überprüfung durch Fachpersonal das Segelschulschiff sich jetzt derart desaströs präsentiere. Sein Verein fordere deshalb erneut dazu auf, die Arbeiten in der Werft abzubrechen und ein neues Schiff zu bauen. „Die Aussonderung der maroden ,Gorch Fock‘ ist alternativlos“, meinte Kersten gegenüber dem bundeswehr-journal. Zudem müsse jetzt zwingend ein zeitgemäßes Gesamtkonzept für die Ausbildung des Marinenachwuchses erstellt werden. Dabei müsse sich die Marine zunächst grundsätzlich entscheiden, ob sie auf diese Ausbildungsform verzichten könne oder weiterhin ein Segelschulschiff brauche.
Die „Gorch Fock“ wurde in Hamburg bei Blohm & Voss gebaut, ist der Marineschule Mürwik in Flensburg unterstellt und in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel beheimatet. Stapellauf war am 23. August 1958, die Indienststellung folgte am 17. Dezember 1958.
Seit 1958 haben rund 15.000 Marineangehörige – darunter praktisch alle Offiziersanwärter der Teilstreitkraft – ihre seemännische Basisausbildung auf dem Dreimaster absolviert. Schiff und Besatzung haben mehr als 800.000 Seemeilen zurückgelegt. Dies entspricht etwa 35 Erdumrundungen.
Die vorerst letzte Auslandsausbildungsreise (AAR) der „Gorch Fock“ war die 168te. Sie hatte Schiff, Stammbesatzung sowie die Offiziersanwärter des Sanitätsdienstes und der Crew VII/2015 im Zeitraum 24. August bis 25. November 2015 in die Häfen von Dublin (Irland), Funchal (portugiesische Insel Madeira), Cadiz (Spanien) und Dartmouth (England) geführt. Dabei hatte der weiße Dreimaster unter Kommandant Nils Brandt 5590 Seemeilen zurückgelegt, 80 Prozent der Strecke unter Segel.
Das Flottendienstboot „Oker“, dass nun in drei Törns den Offiziersanwärtern der Crew VII/2016 „erste Einblicke in das Leben eines Marinesoldaten“ vermitteln soll, wird Häfen in Großbritannien, Irland und Norwegen anlaufen. Korvettenkapitän Marcus Fröhling, Kommandant der „Oker“, sagt zur bevorstehenden Seefahrt: „Wir freuen uns auf die neue Aufgabe. Die Ausbildung wird in einem nautisch anspruchsvollen Seegebiet stattfinden und wir werden diese Gelegenheit auch zur Ausbildung eigener Kräfte nutzen.“
Das Flottendienstboot (A53) ist seit nunmehr 28 Jahren weltweit im Dienst der deutschen Marine als Aufklärungseinheit unterwegs. Gemeinsam mit den beiden Schwesterbooten „Alster“ (A50) und „Oste“ (A52) ermittelt die „Oker“ mit speziellen Sensoren Lagebilder für die Marineführung und die deutschen Einsatzverbände. Das Boot wird nach der Ausbildungsfahrt Ende März wieder in seinem Heimathafen Eckernförde bei der Einsatzflottille 1 zurückerwartet.
Zu unserer Bildsequenz:
1. Hauptruder des Segelschulschiffs „Gorch Fock“ im Sonnenaufgang.
(Foto: Ricarda Schönbrodt/Deutsche Marine)
2. Marineschule Mürwik – Kadetten angetreten zur Vereidigung.
(Foto: PrInfoZ Marine)
3. Die „Gorch Fock“ am 9. Mai 2006 unter vollen Segeln in der Nordsee.
(Foto: Ralf Maleu/Deutsche Marine)
4. und 5. Südamerikareise der „Gorch Fock“ zum Jahreswechsel 2010/2011. Die beiden Aufnahmen entstanden am 14. Januar 2011 bei der Umrundung der legendären und berüchtigten Südspitze des südamerikanischen Kontinents, Kap Hoorn (auf einem der zwei Bilder im Hintergrund zu sehen).
(Fotos: Yvonne Knoll/Deutsche Marine)
6. Flottendienstboot „Oker“ vor der Mittelmeerinsel Stromboli nördlich von Sizilien.
(Foto: Deutsche Marine)
Unser Großbild auf der START-Seite zeigt das Segelschulschiff „Gorch Fock“ im August 2007 während der 147. Auslandsausbildungsreise auf dem Weg von Neufundland nach Quebec in Kanada. Die Aufnahme entstand im Golf von Sankt Lorenz.
(Foto: Ricarda Schönbrodt/Deutsche Marine)