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Berlin/Uedem/Kalkar. Wir leben in Zeiten konkreter Bedrohung durch Terroranschläge jeder Art. Die Gefahr kann auch aus dem Luftraum kommen und heißt „Renegade“. Es ist das Szenario eines entführten Flugzeugs, das – ähnlich wie bei den Angriffen der al-Qaida in den USA am 11. September 2001 – als Terrorwaffe eingesetzt werden soll. Zuständig für die Abwehr einer solchen Gefahr sind in Deutschland an 365 Tagen im Jahr und rund um die Uhr zwei Alarmrotten unserer Luftwaffe. Diese „Quick Reaction Alert-Interceptor“-Rotten (QRA-I) sind in Süddeutschland beim Taktischen Luftwaffengeschwader 74 in Neuburg an der Donau und in Norddeutschland bei der Taktischen Luftwaffengruppe „Richthofen“ in Wittmund stationiert. Beide Verbände nutzen dafür ihr Waffensystem Eurofighter. Auffällig ist: Die Zahl der Ernstfälle für die Eurofighter, die den deutschen Luftraum schützen, nimmt ständig zu. In Zeiten hoher Terrorbedrohung steigt bei den Sicherheitskräften neben der Wachsamkeit auch die Anspannung …

Im vergangenen Jahr starteten die Alarmrotten der deutschen Luftwaffe beinahe doppelt so oft wie 2014, um eventuell gekaperte Flugzeuge zu identifizieren und abzufangen. Diese Auskunft erhielt jetzt Tobias Lindner, verteidigungspolitischer Experte der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, von der Bundesregierung.

Lindner hatte wissen wollen, wie oft die QRA-Rotten der Luftwaffe in den letzten drei Jahren jeweils alarmiert worden sind – aufgeschlüsselt nach echten Alarmstarts (Alpha-Scramble) und Übungen (Tango-Scramble) – und welche Lagen zu den jeweiligen Alpha-Scrambles geführt hatten.

Plus Abfangeinsätze der Verbündeten im grenznahen Raum

Ralf Brauksiepe, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung, nannte am 18. Januar Zahlen. So hatte es im Jahr 2013 lediglich sieben Alpha-Scrambles gegeben (und 1066 Tango-Scrambles), im Jahr 2014 bereits zehn Alpha-Scrambles (1087) und 2015 schließlich 18 Alpha-Scrambles (1063).

Detailliertere Angaben zu den „scharfen“ Alarmstarts wurden von der Bundesregierung „aufgrund des Bezugs zu operationellen Einsatzgrundsätzen“ in einer als „VS – Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuften Anlage an den Fragesteller separat übermittelt und sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Wie die Politikredakteure Manuel Bewarder und Thorsten Jungholt in ihrem am 24. Januar erschienenen Onlinebeitrag für Die Welt berichteten, ist die Zahl der Alarmeinsätze am deutschen Himmel sogar noch höher. Zu den offiziellen Einsatzzahlen der Bundeswehr kommen noch die Alarmstarts der Verbündeten und deren Abfangeinsätze im grenznahen Raum hinzu.

Sechsmal sah alles es nach einem gefährlichen „Renegade“-Fall aus

Nach Auskunft der Bundespolizei auf Anfrage der Welt soll es im letzten Jahr alles in allem 42 Alpha-Scrambles gegeben haben (2014: 33/2013: 18). Dabei schien die Gefahr laut Bundespolizei im Zeitraum 2013 bis 2015 so groß, dass zivile Flugzeuge sechs Mal als „Renegade“-Fall eingestuft werden mussten.

Das Militär spricht von einem „Renegade“-Szenario, wenn ein ziviles Flugzeug „durch sein Flugverhalten den Verdacht aufkommen lässt, dass es möglicherweise als Waffe zur Verübung eines terroristischen oder anders motivierten Angriffs missbraucht wird“ (der englische Begriff „Renegade“ bedeutet „Abtrünniger“ oder „Überläufer“). Eine kürzere Definition der Luftwaffe lautet: „Als ,Renegade‘-Fall wird eine zivile, fliegende Plattform, die für terroristische Zwecke als Waffe missbraucht werden soll, bezeichnet.“

In keinem der registrierten Fälle bestätigte sich der Verdacht einer Terroraktion. Wie so oft in der Vergangenheit war eine unterbrochene Funkverbindung zwischen dem Verkehrsflugzeug und der Flugsicherung Grund für einen Alpha-Scramble gewesen. Oder das Abweichen vom geplanten Kurs durch eine Fehlfunktion der Navigationseinrichtung. Auch Pilotenfehler oder extreme Probleme an Bord der Maschine mit Passagieren – also von der Normalität abweichende Ereignisse – können einen Alarmstart auslösen.

Kontinuierliche und möglichst lückenlose Luftraumüberwachung

Die Wahrung der Luftsicherheit im deutschen Luftraum ist eine permanente Aufgabe – in Friedens- sowie in Krisen- und Konfliktzeiten. Deutschland bildet dabei grundsätzlich einen Teil der integrierten NATO-Luftverteidigung. In einem Pressebeitrag unserer Luftwaffe vom Oktober vergangenen Jahres heißt es dazu: „Das Luftverteidigungskonzept der NATO basiert auf dem Prinzip des Raumschutzes. Das bedeutet, dass der Schwerpunkt im Frieden generell auf der kontinuierlichen und möglichst lückenlosen Luftraumüberwachung liegt. Jedes fliegende Objekt im Luftraum des Bündnisses soll erfasst, verfolgt und identifiziert werden. Die deutsche Luftwaffe stellt dazu täglich rund um die Uhr zwei Alarmrotten bereit.“

Diese QRA-Rotten werden durch einen multinationalen Gefechtsstand der NATO – Combined Air Operations Center (CAOC) – alarmiert. Das CAOC entscheidet bei Luftnotfällen, welche Alarmrotte wann in den Einsatz startet. Die Alarmrotten absolvieren tagtäglich Übungsschutzflüge (Tango-Scrambles), um für den Ernstfall vorbereitet zu sein.

Im „Renegade“-Fall in deutschem Luftraum startet die Alarmrotte ausschließlich in nationaler Verantwortung. Die Befehlsgewalt über die Maschinen geht dabei zuvor vom Bündnis auf Deutschland über. Der Befehl für derartige nationale Einsätze („Quick Reaction Alert“) kommt vom Nationalen Lage- und Führungszentrum „Sicherheit“ im Luftraum im niederrheinischen Uedem. Uedem ist eine Nachbargemeinde der Stadt Kalkar. Das Zentrum im Kasernenkomplex des dortigen NATO-CAOC nahm im Oktober 2003 seinen Betrieb auf.

Hier kontrollieren Bundeswehrangehörige, Beamte der Bundespolizei sowie Vertreter der Deutschen Flugsicherung und des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe im 24-Stunden-Schichtbetrieb den Luftraum. Bei Bedarf werden auch Informationen des Bundesnachrichtendienstes, des Bundeskriminalamtes oder der Polizeibehörden der Länder genutzt. Das Zentrum arbeitet auch mit den Nachbarstaaten Deutschlands zusammen.

Abdrängmanöver und Warnschüsse erlaubt, Abschuss jedoch nicht

Die in den Jahren 2013 bis 2015 dokumentierten Alpha-Scrambles hatten glücklicherweise alle ein gutes Ende. Weder musste ein Flugzeug abgedrängt, noch zur Landung gezwungen werden. Was aber, wenn sich eines Tages der Verdacht auf einen bevorstehenden Terroranschlag aus der Luft bestätigen sollte. Was, wenn das „Renegade“-Szenario Wirklichkeit zu werden droht?

Die „heikle Bewährungsprobe“ blieb der Regierung bis jetzt erspart, schreiben die Welt-Autoren: „Denn wenn von den Eurofighter-Piloten ein Terrorangriff nicht ausgeschlossen werden kann, muss die politische Führung informiert werden. Das ist zunächst die Verteidigungsministerin. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus 2013 darf sie aber nicht mehr allein entscheiden, sondern muss einen kollektiven Beschluss der Regierung einholen – angesichts des Zeitdrucks in solchen Lagen ein ambitioniertes Vorhaben.“

Auch bleibt der eigentliche Abschuss eines Flugzeuges, das durch Terroristen entführt worden ist, auch weiterhin verboten. Erlaubt haben die Karlsruher Bundesverfassungsrichter lediglich das Abdrängen der gekaperten Maschine oder die Abgabe von Warnschüssen. Der Abschuss ist nur dann gestattet, wenn in dem „Renegade“-Flugzeug ausschließlich Terroristen sitzen (siehe dazu auch unseren früheren Beitrag).


Zu unserem Bildmaterial:
1. Zwei Eurofighter der deutschen Luftwaffe mit einem Zieldarsteller des Unternehmens GFD/Airbus Defence and Space. Die GFD-Learjets stehen der Luftwaffe auch für Abfangübungen – Tango-Scrambles – zur Verfügung. Die Aufnahme entstand am 8. November 2007.
(Foto: Stefan Gygas/Luftwaffe/Bundeswehr)

2. Das Hintergrundbild unserer Infografik zeigt zwei deutsche Eurofighter am 7. September 2009 beim Luftkampf-Training.
(Foto: Ingo Bicker/Luftwaffe/Bundeswehr)


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