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Köln/Berlin. Die Region Syrien/Irak ist weiterhin ein Ziel für deutsche Islamisten beziehungsweise Islamisten aus Deutschland. Momentan kennen die Sicherheitsbehörden mehr als 850 Personen, die in die Nahostregion ausgereist sind, um dort aufseiten der Terrorbewegung „Islamischer Staat“ (IS) und anderer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder Unterstützung zu leisten. Allerdings habe „die Dynamik der Ausreisen weiter nachgelassen“, so eine Sprecherin des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf Anfrage des Hessischen Rundfunks. Die Gründe dafür sind vielfältig: Seit einigen Monaten befinden sich die meisten islamistischen Milizen in Syrien militärisch in der Defensive, die Lebensumstände für die ausländischen „Kämpfer“ vor Ort sind äußerst schlecht, das Todesrisiko ist hoch, in der Heimat warten harte Haftstrafen auf die Rückkehrer.

Bei den rund 850 Ausgereisten handelt es sich nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz überwiegend um in Deutschland geborene männliche Muslime mit Migrationshintergrund. Etwa ein Achtel der Ausgereisten sind Konvertiten. Der Anteil der ausgereisten Frauen liegt bei circa 20 Prozent. Zudem brechen vereinzelt auch Minderjährige auf zur Tour in die Region Syrien/Irak.

Bereits im Juni hatte die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke mitgeteilt, dass etwa fünf Prozent der Nahost-Fahrer „zum Zeitpunkt der Erstausreise“ minderjährig gewesen seien. Hiervon seien vereinzelt Personen vor Vollendung des 16. Lebensjahres ausgereist, so die Regierung in ihrer Antwort.

Die Sicherheitsbehörden haben außerdem Kenntnis davon, dass inzwischen rund 140 Personen aus Deutschland in Syrien oder im Irak ums Leben gekommen sind (siehe auch unseren früheren Beitrag).

Von vielen „Rückkehrern“ geht in der Heimat ein hohes Risiko aus

Etwa ein Drittel der „Dschihad-Touristen“ befindet sich laut Verfassungsschutz im Augenblick wieder in der Bundesrepublik. In einem Pressetext heißt es dazu erläuternd: „Als Ergebnis der kontinuierlichen Aus- und Bewertung der Erkenntnislage zu zurückgekehrten Personen liegen den Sicherheitsbehörden aktuell zu über 70 Personen Erkenntnisse vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligt oder hierfür eine Ausbildung absolviert haben.“ Insbesondere vom letztgenannten Personenkreis gehe ein hohes Risiko aus. Denn neben terroristischer Ausbildung und „Kampfpraxis“ verfügten diese Personen zumeist über eine Reihe weiterer Qualifikationen, die dem aktuellen Anforderungsprofil islamistischer Organisationen für potenzielle Operateure in westlichen Staaten entsprechen würden. Das Bundesamt: „Hierzu gehören häufig ein ,westliches‘ Aussehen, das Wissen über unauffälliges Verhalten in westlichen Staaten im Alltag sowie der Besitz westlicher Reise- und Identitätsdokumente.“

Dschihadistische Rückkehrer aus der Syrien-Irak-Region verfügten zudem „in der Regel über eine Vielzahl an Kennverhältnissen“. Die Verfassungsschützer warnen: „Hieraus resultiert perspektivisch die Gefahr einer grenzüberschreitenden Vernetzung zurückgekehrter Syrien-Irak-Reisender in unterschiedlichste, unter anderem auch operative Netzwerke mit weiterhin bestehenden Verbindungen in den Nahen Osten.“

Die Anzahl der behördlich verhängten Ausreiseverbotsverfügungen bewegt sich nach Auskunft des Bundesamtes „im niedrigen dreistelligen Bereich“.

Rund ein Dutzend „Anwerberinnen“ des IS unterwegs in sozialen Medien

Besonders große Sorgen bereitet den Behörden die gezielte und systematische Anwerbung junger Frauen für den IS. Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung haben ergeben, dass den Sicherheitsbehörden aktuell „rund ein Dutzend Anwerberinnen“ bekannt sind, die Frauen aus Deutschland für den IS rekrutieren. Die Dunkelziffer sei noch höher.

Den Reportern, die ihre Ergebnisse im Juni veröffentlichten, lagen unter anderem aussagekräftige Chatprotokolle vor. „Diese zeigen, dass die ,Anwerberinnen‘ ebenso subtil wie manipulativ auf ihr Gegenüber einwirken“, so das Recherche-Team. Gezielt hätten die „IS-Anwerberinnen“ nach jungen Frauen gesucht, um sie mit „IS-Kämpfern“ zu verheiraten. Die oft Minderjährigen sollen dem Kalifat Kinder gebären.

Die Anwerbung läuft über soziale Netzwerke. So werden offenbar Facebook-Profile junger Mädchen gezielt durchsucht. Marwan Abou-Taam, Islamwissenschaftler des Landeskriminalamtes Rheinland-Pfalz, erklärte gegenüber dem Reporter-Team die Strategie: „Es ist so, dass diese jungen Frauen die Lebenswirklichkeiten und Lebensträume potenzieller Personen kennen und versuchen, genau darauf zu reagieren.“

Ein schwer bewachtes Frauenhaus in der IS-Hochburg Rakka

Den Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung zufolge geht das Terrornetzwerk des IS dabei grenzüberschreitend vor – so gibt es offenbar eine Zusammenarbeit von bereits nach Syrien und in den Irak ausgereisten Frauen und in Deutschland agierenden Unterstützerinnen. Ein internes Papier der deutschen Sicherheitsbehörden spricht von einem „Mädchennetzwerk“. Die „Anwerberinnen“ innerhalb dieses Netzwerkes unterstützen die Frauen nach erfolgreicher Rekrutierung unter anderem bei den Vorbereitungen für die Ausreise und bieten logistische Hilfe an. Sie geben Tipps, um die Abreise und die Beweise für die Rekrutierung zu verschleiern, empfehlen Routen und vermitteln Kontakte an den verschiedenen Zwischenstationen in den Machtbereich des IS.

Rund 100 Frauen aus Deutschland sollen bislang dorthin gelangt sein. Mehr als die Hälfte war zum Ausreisezeitpunkt jünger als 25 Jahre, etwa jede Sechste sogar minderjährig.

In Syrien werden die Frauen bereits erwartet: Die Recherchen belegen, dass der IS in seiner Hochburg Rakka ein schwer bewachtes Frauenhaus betreibt. Mehrere Quellen berichten, ankommende Frauen würden dorthin gebracht, eingesperrt und ihren zukünftigen Ehemännern zugeführt. „Im Grunde genommen sind sie nur sexuelle Verfügungsmasse. Sie sitzen den ganzen Tag zu Hause, langweilen sich, dürfen nichts tun ohne die Erlaubnis des Ehemanns“, beschrieb Claudia Dantschke gegenüber den Reportern die Realität vor Ort. Die Leiterin der Islamismus-Beratungsstelle „Hayat“ betreut die Angehörigen von ausgereisten Dschihadisten: „Meistens sitzen sie da und chatten mit Mädchen. Weitere Mädchen zu rekrutieren ist dann ihre neue Rolle, ihre neue Erfüllung. Ein Schneeballeffekt.“

Bundesweit derzeit rund 710 Verfahren gegen Unterstützer der Terrorbewegung

Wie die Tageszeitung Die Welt vor Kurzem berichtete, führt die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe derzeit noch rund 130 Verfahren gegen 190 Beschuldigte, die sich in der Region Syrien/Irak aufgehalten haben. Bundesweit belaufe sich die Zahl auf rund 710 Verfahren, schreibt das Blatt am 6. September.

Seit 2014 hat die Bundesanwaltschaft in 22 Fällen Anklage gegen Terrorverdächtige erhoben, darunter in drei Fällen auch wegen Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch. Bislang sind 15 Urteile ergangen – die Straftatbestände reichen von Mitgliedschaft in einer Terrororganisation über versuchten Mord bis hin zu Kriegsverbrechen.

Wie Peter Frank, seit 5. Oktober 2015 Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, der Welt sagte, will sich die Karlsruher Behörde angesichts einer zunehmenden Zahl von Verfahren gegen militante Islamisten nun stärker auf Präzedenzfälle konzentrieren. Frank: „Die Bundesanwaltschaft arbeitet eng mit den Staatsanwaltschaften der Bundesländer zusammen. Wir haben in diesem Phänomenbereich mit den von uns vor den Oberlandesgerichten erzielten Verurteilungen mittlerweile Standards erwirkt. Daher werden wir uns zukünftig auf herausgehobene Taten und Täter konzentrieren. Die weiteren Verfahren werden von den Staatsanwaltschaften der Bundesländer vorangetrieben.“

Laut Welt-Bericht hat die Bundesanwaltschaft momentan bereits 50 Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Dschihadisten oder Terrorhelfer an die Länder abgegeben.


Das verwendete Bildmaterial – auch das Hintergrundbild unserer Infografik – stammt als Screenshot aus einem Propagandafilm des IS.
(Infografik © mediakompakt 09.16)


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