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Berlin. Seit Mitte vergangenen Jahres dürfen deutlich mehr frühere afghanische Mitarbeiter der Bundesregierung aufgrund konkreter Gefährdung nach Deutschland ausreisen. In 68 Prozent der entschiedenen Fälle gaben die Bundesbehörden Aufnahmezusagen – vor dem Juli 2015 geschah dies nur bei 40 Prozent der Gefährdungsanzeigen von Ortskräften der Bundeswehr, der deutschen Entwicklungshilfe, des Innenministeriums und des Auswärtigen Amtes. Das aktuelle Lagebild setzt sich aus Berechnungen von NDR Info zusammen. Bilanzgrundlage des Radiosenders sind Zahlen des Bundesinnenministeriums vom Juli 2015 und vom Februar 2016.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl und die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen bezeichnen diese Entwicklung als „erfreulich und positiv“. Der Trend spiegele nun letztendlich doch stärker die verschlechterte Sicherheitslage in Afghanistan wider. Die Bundesregierung spricht von „monatlichen Schwankungen bei den Einzelfallprüfungen“.

Verantwortlich für die Trendwende sei vor allem die Entscheidungspraxis bei Gefährdungsanzeigen im Bereich der Bundeswehr, erklärt NDR Info. In den vergangenen sieben Monaten habe es in 92 Prozent aller geprüften Fälle Aufnahmezusagen gegeben, bis Juli 2015 seien es nur 37 Prozent gewesen.

Trotz jahrelanger militärischer Intervention keine dauerhafte Sicherheit

Der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Asyl, Bernd Mesovic, sagte gegenüber NDR Info: „Das ist ein erfreulicher Realismus. Es hat sich ja mit der viele Jahre lang andauernden militärischen Intervention kein Sicherheitsstandard in Afghanistan halten lassen – zudem sind die ehemaligen Mitarbeiter sogar zunehmend gefährdet worden.“

Von afghanischen Mitarbeitern der Bundeswehr kommen mehr als drei Viertel aller Gefährdungsanzeigen. Insgesamt wurden seit Start des sogenannten Ortskräfteverfahrens vor zweieinhalb Jahren etwa 1800 Fälle bearbeitet. Die Afghanen müssen darin belegen, dass sie durch ihre Arbeit für deutsche Regierungsinstitutionen besonders gefährdet sind, etwa durch Drohungen der Taliban (siehe auch hier).

Schwere Vorwürfe gegen Verantwortliche der GIZ in Kunduz

Praktisch keinerlei Veränderung gibt es dagegen im Bereich des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Hier werden nach Recherchen von NDR Info weiterhin fast zwei Drittel aller Anträge abgelehnt.

Gleiches gilt auch für die bisher größte Welle von Gefährdungsanzeigen bei der staatlichen Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Nach der vorübergehenden Einnahme der nordafghanischen Provinzhauptstadt Kunduz durch die Taliban Ende September vergangenen Jahres hatten dort beispielsweise 43 afghanische GIZ-Mitarbeiter die Ausreise beantragt, nur ein Drittel hatte jedoch Aufnahmezusagen erhalten.

Die Afghanen hatten zudem im vergangenen Herbst Medienberichten zufolge schwere Vorwürfe gegen ihren Arbeitgeber erhoben. Laut Berliner Zeitung sollen die GIZ-Verantwortlichen damals rund zwei Dutzend Ortskräfte in Kunduz ihrem Schicksal überlassen haben. Der Spiegel schrieb: „Dabei sei mit Racheakten der Islamisten an den GIZ-Leuten zu rechnen gewesen. Die afghanischen Mitarbeiter sind demnach überzeugt, dass sie und ihre Familien nur durch Zufall überlebt hätten.“

Die staatliche deutsche Hilfsorganisation GIZ war 2011 aus der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), der Internationalen Weiterbildung und Entwicklung (InWEnt) und dem Deutschen Entwicklungsdienst (DED) gebildet worden. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Bonn und Eschborn.

Grüne und Menschenrechtler sind besorgt über die Haltung des BMZ

Die flüchtlingspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Luise Amtsberg, äußerte im Gespräch mit NDR Info Unverständnis über BMZ und GIZ: „Die Taliban machen keine Unterscheidung, ob man bei der GIZ oder bei der Bundeswehr tätig ist. Insofern ist diese Differenz ganz, ganz besorgniserregend und logisch nicht zu erklären, sondern deutet eher darauf hin, dass man sich da nicht ausreichend um die Sicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmert.“

Auch Bernd Mesovic von Pro Asyl zeigte sich verwundert: „Ich habe das Gefühl, dass die Lage im Bereich des BMZ noch nicht ganz ernstgenommen wird.“

Sorgfältige und individuelle Prüfung jeder Gefährdungsanzeige

Die Bundesregierung sieht keine Verbindung zwischen der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan und der Entscheidungspraxis bei Ortskräften.

„Jede Gefährdungsanzeige wird sorgfältig und individuell geprüft“, erklärte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Anfrage von NDR Info. „Liegt eine Gefährdung vor, erhält die Ortskraft eine Aufnahmezusage. Insofern kann es von Monat zu Monat zu Schwankungen in der Anzahl der Aufnahmezusagen kommen.“


Unser Bild entstand während des ISAF-Einsatzes der Bundeswehr und zeigt Angehörige der Truppe für Operative Information. Das Gespräch mit der Bevölkerung konnten die Soldaten meist nur dann führen, wenn sie von einheimischen Sprachmittlern begleitet wurden. Viele dieser Bundeswehr-Ortskräfte fürchten heute die Rache der Taliban und anderer Regierungsgegner.
(Foto: Dana Kazda/PrInfoZ Heer/Bundeswehr)


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