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Brüssel (Belgien). Die Terrorgefahr in Europa hat massiv zugenommen. Der Belgier Gilles de Kerchove steht mit an der Spitze der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) im Kampf gegen den Terror. Seit dem 19. September 2007 ist der 59-jährige Rechtswissenschaftler Koordinator für die Terrorismusbekämfung der EU. Der leitende Beamte informiert seit März 2013 den EU-Rat unter anderem regelmäßg über das Thema der ausländischen Kämpfer und Rückkehrer – insbesondere im Hinblick auf Syrien und den Irak. Nach den Terroranschlägen in Paris im Januar dieses Jahres nahm de Kerchove an nahezu allen Beratungen teil, in denen die EU-Mitgliedsländer über ihr weiteres Vorgehen gegen den Extremismus entschieden. In einem Interview äußerte er sich jetzt zu der Frage, wie Terrorismus im 21. Jahrhundert bekämpft werden und welche Rolle dabei das Europäische Parlament spielen kann. Dabei vertrat er auch die Ansicht, dass nur eine Fluggastdatenspeicherung auf europäischer Ebene effektiv sein könne.

Zu den Aufgaben von Anti-Terror-Koordinator Gilles de Kerchove gehört es, die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und Drittländern im Bereich der Terrorismusbekämpfung zu unterstützen. Dazu führte der Belgier in etlichen Ländern intensive Gespräche mit Politikern und Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppierungen, um Möglichkeiten des gemeinsamen Vorgehens gegen den Terror auszuloten. Die Staats- und Regierungschefs der EU wiesen am 12. Februar – auch aufgrund der Ergebnisse der Arbeit des Koordinators – darauf hin, wie wichtig es sei, in Sicherheitsfragen und bei der Terrorismusbekämpfung mit Drittstaaten eng zusammenzuarbeiten. Dies gelte insbesondere für die Länder des Nahen und Mittleren Ostens, in Nordafrika und in der Sahelzone, aber auch für die westlichen Balkanstaaten.

Im Februar nahm Koordinator de Kerchove in der amerikanischen Hauptstadt Washington übrigens auch an der Anti-Extremismus-Konferenz teil, zu der US-Präsident Barack Obama geladen hatte (wir berichteten). Experten aus mehr als 60 Nationen diskutierten bei dieser mehrtägigen Veranstaltung „The White House Summit on Countering Violent Extremism“ vor dem Hintergrund der jüngsten Anschläge in Paris und Kopenhagen über Präventivmaßnahmen und auch über Strategien, um vor allem junge Menschen vor einem Abgleiten in die Terrorszene zu bewahren.

Über die schwierige Balance von Freiheit und Sicherheit

Gilles de Kerchove äußerte sich am Freitag (20. März) in Brüssel zum Themenkomplex „Europa und die wachsende Terrorgefahr“. Wir veröffentlichen dieses Interview heute mit freundlicher Genehmigung des Pressedienstes des Europäischen Parlaments.

Herr de Kerchove – wie kann die EU Terrorismus bekämpfen, ohne die Persönlichkeitsrechte ihrer Bürger zu verletzen?
Gilles de Kerchove: Die Europäische Union hat immer versucht, die richtige Balance zu finden. Ich denke, dass wir clever sein müssen – die Sicherheitsmaßnahmen, die angewandt werden, müssen ständig erneuert werden. Oft sind Maßnahmen auf EU-Ebene einfach effektiver als Maßnahmen einzelner Mitgliedstaaten. Aus diesem Grund bin ich auch für eine europäische Fluggastdatenspeicherung. Das Parlament ist besorgt über den Datenschutz bei der Fluggastdatenspeicherung. Wenn es allerdings kein Gesetz auf EU-Ebene gibt, ist wohl die Konsequenz, dass die Mitgliedstaaten ihre eigene Fluggastdatenspeicherung entwickeln werden. 15 nationale Fluggastdatenspeicherungen sind meiner Meinung nach aber weniger effektiv als eine für 28 Staaten.

Wie können wir Menschen daran hindern, sich den dschihadistischen Gruppen anzuschließen? Und wie können wir terroristische Attacken von Rückkehrern vermeiden?
de Kerchove: Präventionsarbeit ist hier äußerst wichtig, sodass erste Signale für eine Radikalisierung früh erkannt werden. Außerdem müssen die Rückkehrer jemanden finden, dem sie vertrauen können und der ihnen dabei hilft, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Wir müssen zudem die dschihadistische Ideologie analysieren. Das Internet stellt dabei eine große Herausforderung dar. Die Terrororganisation „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (IS) ist medienerfahren und weiß, wie sie mehr Unterstützung erreichen kann. Wir müssen eine eigene Strategie entwickeln, um dagegen vorzugehen. Wichtig ist darüber hinaus der Umgang mit den Rückkehrern. Es muss beurteilt werden, welche Gefahr von einem jeden Rückkehrer ausgeht. Es wäre meiner Ansicht nach auch ein schwerer Fehler, junge Menschen, die aus dem Kampf für den IS zurückkommen, ins Gefängnis zu sperren. Gefängnisse sind eine Brutstätte für die Radikalisierung. Es wäre besser, ein entsprechendes Rehabilitationsprogramm zu entwickeln.

Wie kann das Europäische Parlament helfen, Terrorismus zu bekämpfen?
de Kerchove: Das Europäische Parlament hat eine äußerst anspruchsvolle Rolle. Nicht nur als gesetzgebendes Organ. Sondern auch als soziales Gewissen, das notwendig ist, um Toleranz zu fördern und Antisemitismus sowie Vorbehalte gegenüber Muslimen zu bekämpfen. Das Parlament ist von allen EU-Institutionen meiner Meinung nach noch am besten in der Lage, völlig neue Ideen einzubringen. Außerdem ist es wichtig, dass wir uns mit den Nicht-EU-Ländern verbünden. Die EU-Abgeordneten können helfen, Verbindungen zu den Parlamenten in anderen Ländern aufzubauen.

Schulterschluss gegen Extremismus der Mittel- und Südeuropäer

Wie gefragt die Expertise von Gilles de Kerchove ist, zeigt ein Blick in seinen Terminkalender. So nahm er beispielsweise am Freitag in Wien auch an der Anti-Terror-Konferenz „Tackling Jihadism Together“ teil, zu der Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und Außenminister Sebastian Kurz eingeladen hatten. Zu der Veranstaltung kamen Minister und Experten aus Italien, Kroatien, Slowenien sowie aus den Westbalkanstaaten Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien.

Mit der Wiener Anti-Terror-Konferenz soll „ein breiter Schulterschluss gegen Extremismus und Terrorismus in Mittel- und Südosteuropa geschaffen und die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und dem Westbalkan gestärkt werden“, erklärte Mikl-Leitner. Dabei gehe es konkret auch um die aktuelle Bedrohung durch Tausende „Foreign Terrorist Fighters“ in Europa. Die Zahl der dschihadistischen Kämpfer, die nach ihrer Rückkehr nach Europa Anschläge verüben könnten, schätzte der EU-Anti-Terror-Koordinator im Januar in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt auf „etwa 3000“.

Eine neue Qualität der Radikalisierung in Europa

Am kommenden Montag (23. März) wird de Kerchove in der Bayerischen Vertretung in Brüssel an einer Sonderkonferenz der deutschen Innenminister teilnehmen. Gastgeber sind Joachim Herrmann, Bayerischer Staatsminister des Innern, und Roger Lewentz, Innenminister von Rheinland-Pfalz.

„Wir müssen zum Beispiel den Austausch von Daten zur Terrorbekämpfung intensivieren“, sagte Herrmann zu den Veranstaltungsinhalten. „Auch die Vorratsdatenspeicherung wird ein Thema der Konferenz sein.“ Darüber hinaus sei die Kontrolle der EU-Außengrenzen ein wichtiger Punkt in der europäischen Migrationspolitik. Mit Anti-Terror-Koordinator de Kerchove soll vor allem das Thema „Europäische Agenda für Sicherheit 2015 bis 2020“ bearbeitet werden.

Herrmann will bei der Sonderkonferenz der Innenminister in Brüssel, die in dieser Form ein Novum darstellt, Vorschläge für eine engere Zusammenarbeit insbesondere in der Terrorbekämpfung machen. „Wir erleben eine neue Qualität der Radikalisierung und der grenzüberschreitenden Vernetzung von Terroristen in Europa“, warnt Herrmann. „Auch die aktuelle Flüchtlingswelle nach Europa kann von keinem Land alleine bewältigt werden. Wir brauchen deshalb dringend eine engere Zusammenarbeit auch auf der europäischen Ebene.“

Rund-um-die-Uhr-Überwachung aller „Gefährder“ nicht möglich

Zum Schluss noch ein Blick in die Südwest Presse Ulm vom 4. März. An diesem Tag veröffentlichte das Blatt ein Interview mit dem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, der sich darin über die Terrorgefahr in Deutschland äußert.

Maaßen erinnerte daran, dass sein Amt „seit mehreren Jahren“ darauf hinweise, dass „die Bundesrepublik im Fokus des islamistischen Terrorismus“ stehe. Die Gefährdungssituation habe durch die „Heimkehrer“ aus Kampfgebieten im Mittleren Osten kontinuierlich zugenommen. Auch sei die Zahl der Ausreisen ebenso gestiegen wie die der Rückreisen.

In Deutschland selbst beobachteten die Sicherheitsbehörden ein islamistisch-terroristisches Potenzial von rund 1000 Personen, auch als „Gefährder“ bezeichnet. Maaßen gab zu: „Eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung aller dieser Personen – jeweils 24 Stunden an sieben Tagen – ist faktisch, aber auch unter rechtsstaatlichen Aspekten, nicht möglich.“ Allerdings ginge dies in Einzelfällen, räumte der Verfassungsschutzchef ein. Aus dem Bürgerkrieg in Syrien seien mittlerweile rund 200 Personen nach Deutschland zurückgekehrt. Nach Schätzungen des Amtes haben davon „etwa 70 an Kampfhandlungen teilgenommen“.

Aufrufe zu Terroranschlägen in islamistischen Onlinepublikationen

In einem aktuellen Beitrag weist das Bundesamt für Verfassungsschutz darauf hin, dass der Westen in den Medienprodukten dschihadistischer Organisationen mehr und mehr in den Mittelpunkt rückt.

So wird in der im Oktober 2014 veröffentlichten vierten Ausgabe des englischsprachigen Onlinemagazins DABIQ, das von der Terrormiliz IS herausgegeben wird, erstmals auch Deutschland explizit als Anschlagsziel genannt. In dem Text wird erneut dazu aufgerufen, Anschläge in allen Staaten zu begehen, die Teil der Allianz gegen den IS sind. Wichtig sei es, so heißt es in dem Artikel, dass der Anschlag erkennbar dem IS zuzurechnen sei. In die Planung und Durchführung des Anschlags seien so wenige Personen wie möglich einzubeziehen, um einen größeren Erfolg zu erzielen.

In der aktuellen DABIQ-Ausgabe Nr. 7, veröffentlicht Mitte Februar dieses Jahres, wird Deutschlands abermals an zwei Stellen genannt. Zum einen im Vorwort im Zusammenhang mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Zum anderen in einem Interview mit dem mutmaßlichen Anführer der Terrorzelle im belgischen Verviers, die von den belgischen Sicherheitskräften im Januar 2015 zerschlagen worden ist (der Interviewte, der sich nach Syrien abgesetzt haben soll, erklärt dort: „Ich bitte Allah, die fruchtbringenden Taten der Märtyrer zu akzeptieren, die die Kreuzzügler Amerikas, Frankreichs, Kanadas, Australiens, Deutschlands und Belgiens terrorisierten.“).


Unser Bild zeigt den Koordinator für Terrorismusbekämpfung der Europäischen Union, den Belgier Gilles de Kerchove. Er trat dieses Amt am 19. September 2007 an. De Kerchove studierte Rechtswissenschaften an der Université catholique de Louvain in Louvain-la-Neuve und schloss sein Studium 1979 mit der Licence ab. Anschließend arbeitete er bis 1983 als Assistent für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät seiner Alma Mater, bevor er an die Yale Law School (New Haven, USA) ging und dort 1984 einen Master of Laws erwarb. Neben seinen Aufgaben bei der EU ist de Kerchove auch Dozent für Rechtswissenschaften an verschiedenen Universitäten.
(Foto: Kovacs Gabor/Europäisches Parlament/Europäische Union 2015)


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