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Potsdam/Reggio Calabria (Italien)/Lissabon (Portugal). Rund 866 Menschen starben nach Angaben der Vereinten Nationen im Zeitraum 1. Januar bis 13. April 2015 beim Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. Die Zahl der ertrunkenen Männer, Frauen und Kinder dürfte noch weitaus höher sein, denn nicht alle Tragödien auf dem Wasser werden bekannt. Mittelmeer – ein Massengrab für viele, die vor Krieg und Elend flüchteten. Am 5. Mai waren die Fregatte „Hessen“ und der Einsatzgruppenversorger „Berlin“ von Kreta (Griechenland) aus zur Mission „Seenotrettung“ in die mediterranen Gewässer aufgebrochen. Am 8. Mai nahmen die beiden Schiffe des diesjährigen Einsatz- und Ausbildungsverbandes (EAV) der deutschen Marine mehr als 400 Menschen auf, die in überfüllten Booten vor der Küste Libyens trieben. Die Flüchtlinge kamen zum Großteil aus Somalia, Äthiopien und Eritrea und waren alleine auf See in Richtung Italien unterwegs. Ihre Schlepper konnten nicht gefasst werden …

Die „Hessen“ und die „Berlin“ retteten bei ihrer ersten humanitären Patrouille im Seegebiet zwischen der italienischen und libyschen Küste insgesamt 419 Schiffbrüchige aus akuter Seenot.

Einen Tag später, am 9. Mai, übergaben die Besatzungen die Migranten nach sanitätsdienstlicher Untersuchung im Hafen von Reggio Calabria an die italienischen Behörden. Danach kehrten die beiden Schiffe sofort wieder zurück in das zugewiesene Operationsgebiet.

Notfallmeldungen aus dem Maritime Rescue Coordination Centre in Rom

Den Notruf der italienischen Seenotrettungsleitstelle in Rom hatte der deutsche Marineverband im Mittelmeer am vergangenen Freitag (8. Mai) gegen 9 Uhr erhalten. Nach Angaben der Bundeswehr hatte danach die „Hessen“ mit Höchstfahrt Kurs auf das Flüchtlingsboot genommen. Gut zweieinhalb Stunden später – etwa 130 Seemeilen vor der italienischen Insel Lampedusa – war das Boot schließlich gesichtet worden. 224 Schiffbrüchige kamen an Bord der Fregatte.

Am Nachmittag des 8. Mai hatte die italienische Leitstelle dann gegen 13 Uhr den deutschen Marineverband darüber informiert, dass zwei mit Flüchtlingen überfüllte Schlauchboote nur 30 Kilometer vom Einsatzgruppenversorger „Berlin“ entfernt ebenfalls in Seenot geraten waren. An der Position angekommen, hatte die Besatzung der „Berlin“ unverzüglich mit der Rettung der Flüchtlinge begonnen. 195 Männer, Frauen und Kinder entgingen so einer Katastrophe.

Ertrunken im Meer, erstickt in engen Booten, gestorben an Entkräftung

Einer Statistik der europäischen Grenzagentur Frontex zufolge versuchten im vergangenen Jahr mehr als 283.000 Menschen die illegale Einreise in die Europäische Union (EU). Bei einem Teil handelte es sich um „arbeitssuchende Migranten“, die Mehrheit jedoch floh aus ihrer Heimat vor Krieg, Unterdrückung, Folter, Armut und Verelendung (Frontex: European Agency for the Management of Operational Cooperation at the External Borders of the Member States of the European Union; Sitz in der polnischen Hauptstadt Warschau).

Rund 170.000 Menschen nutzten nach Informationen von Frontex dabei die zentrale Mittelmeerroute Richtung Malta und Süditalien, um an die Außengrenzen der EU zu gelangen. Aus Syrien kamen hier rund 40.000 Flüchtlinge (weitere 27.000 Syrer wählten die Ostroute über See Richtung Griechenland). Aus Eritrea flohen 34.000 Menschen, aus Mali 9900, aus Nigeria 9000, aus Gambia 8700, aus Palästina 6100 und aus Somalia 5800. Für kriminelle Schleuserbanden ein lukratives Geschäft, ein Geschäft mit dem Tod.

Das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR) führt seit 2006 Statistiken zu Todes- und Vermisstenfällen beim Versuch der illegalen Einreise an den maritimen EU-Außengrenzen. 3419 Menschen kamen laut UNHCR im vergangenen Jahr bei ihrer gefährlichen Flucht über das Mittelmeer ums Leben – sie ertranken im offenen Meer, erstickten eingepfercht in enge Boote oder starben völlig entkräftet nach Tagen auf hoher See.

Die Internationale Organisation für Migration (International Organization for Migration, IOM) hat eine ähnliche Gesamtzahl ermittelt. Das „Missing Migrants Project“ der IOM dokumentiert für 2014 insgesamt 3279 tote und vermisste Flüchtlinge im Mittelmeerraum. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind es bereits fast 900 Mittelmeer-Opfer (Anm.: siehe auch unsere Infografik).

Kanzlerin Merkel: „Es geht vor allem darum, Menschenleben zu retten“

Die Europäische Union hat am 23. April als Reaktion auf die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer nach Lösungsansätzen gesucht. Bei einem Sondergipfel in der belgischen Hauptstadt Brüssel berieten die 28 Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten, wie dem Massensterben auf See begegnet werden kann. Bundeskanzlerin Angela Merkel fasste zusammen: „Es geht darum, den Menschenhandel von Schleppern, von brutalen Schleppern zu unterbinden. Es geht darum, die Fluchtursachen zu bekämpfen.“ An allererster Stelle gehe es jedoch darum, Menschenleben zu retten, mahnte sie.

Ein zentrales Ergebnis dieses Sondergipfels zur Flüchtlingspolitik ist – neben einer Erhöhung finanzieller Mittel für die Grenzschutzüberwachungsmissionen – eine Verbesserung der Seenotrettung durch die Entsendung von Marineschiffen in die Region.

Die deutsche Marine unterstützt deshalb jetzt schon bei der Rettung von in Seenot befindlichen Personen im Mittelmeer auf der rechtlichen Grundlage des Artikels 98 des internationalen Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (demnach ist jeder Kapitän eines Schiffes verpflichtet, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten).

Bekämpfung von Schlepperbanden gehört (noch) nicht zum Auftrag

Die aktuelle Operation der Fregatte „Hessen“ und des Einsatzgruppenversorgers „Berlin“ im Mittelmeer ist unabhängig von den Missionen der europäischen Grenzagentur Frontex, die auf die Sicherung der EU-Außengrenzen abzielen und nicht primär auf die Rettung von in Seenot geratenen Personen. Auch die Bekämpfung von Schlepperbanden, die in den vergangenen Monaten Tausende Menschen in seeuntauglichen Booten über das Mittelmeer geschickt haben, gehört nicht zum Auftrag des deutschen Marineverbandes.

Die „Hessen“ und die „Berlin“ hatten sich zuvor im Rahmen ihres EAV-Auftrages fast drei Wochen lang an der Atalanta-Operation der Europäer am Horn von Afrika beteiligt. Im Hafen von Souda auf der griechischen Insel Kreta hatten beide Schiffe dann für die anstehende Seenotrettung medizinisches Material, Hygiene- und Desinfektionsmittel sowie Verpflegung an Bord genommen (wir berichteten).

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen erklärte jetzt nach der ersten erfolgreichen Rettungsmission: „Wir können stolz sein auf die Soldatinnen und Soldaten der ,Berlin‘ und ,Hessen‘. Seenotrettungsaktionen dieses Maßstabes sind komplett neu für unsere Marine. Trotzdem hat gleich beim ersten Einsatz alles reibungslos geklappt. Mehrere Hundert Flüchtlinge, darunter viele Frauen und Kinder, konnten von ihren kaum seetüchtigen Booten heruntergeholt und in Sicherheit gebracht werden.“

Schnellstmöglich eine gemeinsame europäische Strategie entwickeln

Zur Beteiligung der Bundeswehr an der humanitären Operation im Mittelmeer äußerte sich jetzt auch der Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Verteidigung“ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Henning Otte. Der Parlamentarier: „Angesichts der Flüchtlingstragödie im Mittelmeer ist die humanitäre Soforthilfe das Gebot der Stunde. Wir können nicht warten und zusehen, wie Frauen und Kinder bei der gefährlichen Überfahrt auf abgewrackten Schiffen vor der Küste Europas ums Leben kommen. Mit dem Einsatz unserer Marine können wir schnell einen Beitrag dazu leisten, dass viele Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden.“

Otte forderte außerdem: „Um den Schleppern das Handwerk zu legen und die Ursachen der Flüchtlingssituation zu beseitigen, benötigen wir schnellstmöglich eine gemeinsame europäische Strategie. Ziel muss es sein, dass die Menschen sich gar nicht erst auf die gefährliche Überfahrt begeben.“

Zuwanderung, Asyl und Menschenrechte in der euromediterranen Region

Nach entsprechenden Lösungen sucht derzeit in Portugals Hauptstadt Lissabon auch die Parlamentarische Versammlung der Union für den Mittelmeerraum (Parliamentary Assembly-Union for the Mediterranean, PA-UfM).

Der 2004 gegründeten Versammlung gehören 280 Parlamentarier aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aus dem Europäischen Parlament, aus vier nördlichen Mittelmeeranrainerstaaten (die nicht Mitglied der EU sind) sowie aus zehn südlichen Mittelmeeranrainerstaaten – darunter Türkei, Ägypten, Tunesien, Marokko, Jordanien, Israel und die Palästinensischen Gebiete – sowie aus Mauretanien und aus Libyen (als Beobachter) an.

Das Thema der Plenarsitzung am heutigen Dienstag (12. Mai) wird – unter dem Eindruck der aktuellen tragischen Ereignisse im Mittelmeer – „Zuwanderung, Asyl und Menschenrechte in der Euromediterranen Region“ sein. Zur Diskussion eingeladen sind der EU-Kommissar für „Migration, Innere Angelegenheiten und Bürgerschaft“, Dimitris Avramopoulos, und der Generaldirektor der IOM, William Lacy Swing. Deutschland wird in Lissabon bei dieser Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung durch die Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) sowie Heinz-Joachim Barchmann und Detlef Müller (beide SPD) repräsentiert.


Video-Hinweis: Das Video des YouTube-Kanals der Bundeswehr entstand am 8. Mai 2015 an Bord der Fregatte „Hessen“ und zeigt den Seenotrettungseinsatz rund 130 Seemeilen vor der italienischen Insel Lampedusa.
(Video: Redaktion der Bundeswehr)

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Zu unserem Bildmaterial:
1. und 2. Betreuung der rund 200 Mittelmeerflüchtlinge am 8. Mai 2015 auf dem Oberdeck der „Hessen“.
(Fotos: PAO Mittelmeer/Bundeswehr)

3. Im Hafen von Reggio Calabria – ein verletzter Flüchtling wird am 9. Mai von Bord der Fregatte „Hessen“ gebracht.
(Foto: Sascha Jonack/Bundeswehr)

4. Das Hintergrundbild unserer Infografik entstand am 5. Mai 2011 und zeigt Bootsflüchtlinge aus Afrika nahe der italienischen Küste.
(Foto: Francesco Malavolta/IOM)

5. Der Einsatzgruppenversorger „Berlin“ am 9. Mai 2015 im Hafen von Reggio Calabria.
(Foto: Sascha Jonack/Bundeswehr)

Kleines Beitragsbild: Besatzungsangehörige der Fregatte „Hessen“ nähern sich am 8. Mai 2015 dem seeuntüchtigen Flüchtlingsboot mit mehr als 200 Menschen an Bord.
(Foto: PAO Mittelmeer/Bundeswehr)


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