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Berlin/Abu Dhabi (Vereinigte Arabische Emirate). Knapp fünf Jahre nach dem islamistischen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz ist es einem Reporterteam des Rundfunks Berlin Brandenburg (rbb) offenbar gelungen, die Identität eines Auftraggebers von Attentäter Anis Amri aufzuklären. Nach rbb-Informationen handelt es sich um einen hohen irakisch-stämmigen Funktionär des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS). Der Auftraggeber soll Ali Hazim Aziz heißen und den Kampfnamen „Abu Bara’a al Iraqi“ tragen. Dem rbb liegen weitere persönliche Daten sowie ein Foto von „Abu Bara’a al Iraqi“ vor. Mehr dazu auch in einer Dokumentation des Senders mit dem Titel „Weihnachtsmarkt-Anschlag: das Netzwerk der Islamisten“ …

In einem Interview mit dem rbb bestätigt Sadi Ahmed Pire, Vorstandsmitglied und außenpolitischer Sprecher der im Irak mitregierenden Patriotischen Union Kurdistans (PUK), jetzt die Identität und Funktion von Abu Bara’a als dem Verantwortlichen für die IS-Terrorplanungen in Europa. Er stützt sich dabei auf Erkenntnisse irakischer Sicherheitskreise: „Abu Bara’a war einer der Top-Organisatoren der Terrorakte im Ausland – besonders für Deutschland, Großbritannien, Frankreich.“

Bereits wenige Tage nach dem Anschlag erhielten der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundeskriminalamt (BKA) erste Informationen zu einem möglichen Auftraggeber des Anschlags. Auch der Name „Aziz“ wurde damals genannt. Bekannt war auch, dass es sich bei dem mutmaßlichen Terrorplaner um einen IS-Funktionär mit dem Kampfnamen „Abu Bara’a al Iraqi“ handeln soll. Einige deutsche Zeitungen hatten damals in kurzen Meldungen darüber berichtet.

Da der Name „Abu Bara’a al Iraqi“ von mehreren IS-Kämpfern verwendet wurde, war es den deutschen Sicherheitsbehörden nicht gelungen, den Iraker Ali Hazim Aziz eindeutig zu identifizieren.

Der Organisator des Terrors stellt möglicherweise noch immer eine Gefahr dar

Sadi Ahmed Pire erklärte im rbb-Interview, dass der IS-Terrorist al Iraqi bis heute von irakischen Sicherheitsbehörden als gefährlich eingeschätzt und nach wie vor auf der Terrorliste des Landes geführt werde. Irakische Sicherheitskreise, so Pire, gingen davon aus, dass Aziz alias al Iraqi noch am Leben sei. Informationen zu seinem Tod lägen jedenfalls nicht vor. Deshalb könnte der Mann bis heute noch eine Gefahr für Europa und damit auch für Deutschland darstellen.

Pire war Minister für Gesundheit und Soziales sowie für humanitäre Hilfsprogramme und pflegt bis heute gute Beziehungen zu den Kräften der Bundeswehr vor Ort (Anm.: Einsatz in Jordanien, über Syrien und im Irak „Counter Daesh/Capacity Building Iraq“).

Frühe Hinweise eines Agenten in Abu Dhabi an den Bundesnachrichtendienst

Die neuen Erkenntnisse passen exakt zu Hinweisen auf einen möglichen Auftraggeber des Attentats, die vor fünf Jahren eine geheime BND-Quelle geliefert hatte. Bereits wenige Tage nach dem Anschlag berichtete ein Agent des Dienstes in Abu Dhabi, Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, dass es „einen Hinweis auf den Auftraggeber des Berliner Weihnachtsmarktanschlags“ gebe. In dem knapp gehaltenen Schreiben war schon damals die Rede von einem „hochrangigen IS-Kommandanten“, jenem Iraker namens Abu Bara’a al Iraqi. Dieser Mann solle den Auftrag für den Terrorakt erteilt haben. Der Hinweis stamme aus einer „ausgesprochen zuverlässigen nachrichtendienstlichen Verbindung“, so die Information für den BND.

In den folgenden Tagen und Wochen verdichteten sich die von der in Abu Dhabi ansässigen Fachdienststelle „als zuverlässig“ bewerteten Informationen. Der Mann sei etwa 45 Jahre alt und ein ranghoher militärischer Koordinator mit großem Vollbart, so heißt es wörtlich in dem Dokument, der „die Arbeit des IS in Deutschland“ organisiere.

FDP-Innenpolitiker Strasser fordert Generalbundesanwalt zum Handeln auf

Bislang ist es den Ermittlern des BKA und des BND nicht gelungen, die wahre Identität des Irakers zu enthüllen. Während einer Sitzung des Untersuchungsausschusses des Bundestages am 13. Februar 2020 fragten Oppositionsabgeordnete nach dem geheimen Hinweis auf den mutmaßlichen Auftraggeber. Doch der zuständige BND-Beamte bezeichnete den Hinweis des eigenen Agenten bei seiner Befragung als „nicht wertig“ und „zu banal“.

Als der FDP-Obmann im Ausschuss Benjamin Strasser später einen ebenfalls als Zeugen geladenen zuständigen BKA-Kriminalhauptkommissar fragte, ob die Spur eher im Sande verlaufen sei, antwortete der BKA-Beamte lapidar: „Ist korrekt!“

Vor dem Hintergrund der aktuellen rbb-Recherchen fordert Strasser, der inzwischen Staatssekretär im Bundesjustizministerium ist, den Generalbundesanwalt zum Handeln auf: „Ich erwarte, dass deutsche Sicherheitsbehörden konsequente Strafverfolgung betreiben und den mutmaßlichen Drahtzieher des Berliner Weihnachtsmarkt-Anschlags verfolgen und vor Gericht stellen.“ Schließlich könne von diesem Mann noch immer eine Gefahr für Deutschland und Europa ausgehen. Den Hinterbliebenen und Opfern des schlimmsten islamistischen Anschlags auf deutschem Boden sei man das schlicht und einfach schuldig, erklärte Strasser.

Die Generalbundesanwaltschaft, die die Ermittlungen zum Anschlag führt, wollte sich zu den Recherchen nicht äußern. Schriftlich erklärte sie: „Mit Blick auf die noch laufenden Ermittlungen können wir Ihnen keine Auskünfte darüber erteilen, ob und inwieweit gegen bestimmte Personen ermittelt wird.“

Wir hatten aus gegebenem Anlass letztmalig am 26. Oktober 2021 über den Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt nahe der Gedächtniskirche berichtet.

Redaktionelle ERGÄNZUNG I

Die Familien der 13 Opfer des Breitscheidplatz-Attentats haben sich kurz vor dem fünften Jahrestag in einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz, Vizekanzler Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner gewandt. Über den Brief berichtete am gestrigen Donnerstag (16. Dezember) das Rechercheteam von rbb24.

Die Angehörigen vermissen einen – so wörtlich – „würdigen Umgang mit den Betroffenen und Hinterbliebenen des Anschlags sowie dessen umfassende Aufklärung“. Sie fordern die neue Bundesregierung außerdem auf, „weitergehende Ermittlungen in Bezug auf die Tat und auf mögliche Mittäter und Drahtzieher“ zu veranlassen.

Nach Auffassung der Familien hätten die deutschen Sicherheitsbehörden den Anschlag verhindern können und müssen. Sie seien „Spuren zu möglichen Mittätern nicht ausreichend nachgegangen“ und es hätte „gravierende Fehler in der Strafverfolgung“ gegeben.

Ihre Einschätzung begründen die Unterzeichner des Briefes auch mit den aktuellen rbb-Recherchen zum Attentat aus denen hervorgeht, dass Bundeskriminalamt und Bundesnachrichtendienst die Ermittlungen zu einem mutmaßlichen Auftraggeber des Anschlags nicht konsequent verfolgt hätten. Der Hinweis auf den Terrorplaner hätte deutschen Sicherheitsbehörden bereits am Silvestermorgen 2016 vorgelegen, so der massive Vorwurf.

Redaktionelle ERGÄNZUNG II

Berlins Innensenator Andreas Geisel hat Verständnis für die Forderung der Hinterbliebenen, den Terroranschlag vom Breitscheidplatz restlos aufzuklären. Der SPD-Politiker sagte am heutigen Freitag (17. Dezember) im Inforadio vom rbb, wenn es neue Erkenntnisse gebe, sollte ihnen nachgegangen werden. Eventuelle Ermittlungen müsste dann der Generalbundesanwalt führen.

„Die Angehörigen der Opfer haben alles Recht, wütend zu sein und Aufklärung zu fordern. Das ist subjektiv absolut nachvollziehbar. Es hat drei Untersuchungsausschüsse (…) und die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden gegeben. Es ist so viel wie möglich aufgeklärt worden“, so Geisel.

Er reagiert damit auf den offenen Brief der Angehörigen der 13 Attentats-Opfer. Darin fordern diese neue Ermittlungen zu den Hintermännern des Anschlags. rbb-Recherchen hatten einen mutmaßlichen Auftraggeber des Anschlags identifiziert: ein hochrangiges Mitglied der Terrororganisation IS.

„Dass [in dem Brief] verlangt wird, dass weiter Transparenz geschaffen wird, ist absolut nachvollziehbar“, betonte Geisel. Aber: „Ob das nach fünf Jahren noch aufklärbar ist, weiß ich nicht.“

Redaktionelle ERGÄNZUNG III

Fünf Jahre nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin ist die Aufarbeitung aus Sicht des Weißen Rings, Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, noch längst nicht abgeschlossen. Bundesgeschäftsführerin Bianca Biwer sagte jetzt der Heilbronner Stimme: „Teilweise kommen sogar jetzt erst ,neue‘ Opferfälle zu uns – Menschen, die die ersten Jahre nach dem Anschlag vermeintlich gut mit der Situation zurechtkamen, dann irgendwann zusammengebrochen sind und beispielsweise erwerbsunfähig wurden. Sie haben das Trauma zunächst gar nicht erkannt.“

Biwer erinnerte weiter daran: „Es laufen immer noch mühsame Prozesse vor allem im Bereich der Opferentschädigung, es gibt etliche Erwerbsunfähigkeiten von Betroffenen.“

Kritisch sieht die Bundesgeschäftsführerin der Organisation den Umgang mit den Opfern vom Breitscheidplatz. Es seien an unterschiedlicher Stelle behördliche Fehler gemacht worden. Biwer erklärte: „Das fängt an bei der Zusendung der Rechnungen aus der Forensik drei Tage nach der Tat, geht weiter über das kommentarlose Zusendung teilweise blutgetränkten Eigentums von Ermordeten an ihre Angehörigen und gipfelt in der behördlichen Abwicklung der Entschädigungsanträge. Da brauchte es Dutzende Seiten Papier, etliche Nachweise und immer wieder Gutachten, um Fragen zu beantworten, ob die Schäden tatsächlich auch durch die Tat ausgelöst wurde. Da war kein opfersensibler Umgang zu erkennen, es gab keine Transparenz. Und so weiter.“

Insgesamt fällt Biwers Bilanz ernüchternd aus: „Bei der Aufklärung der Tat wurden die Opfer nicht mitgenommen, bei der Planung der Gedenkstätte wurden ihre Vorschläge und Wünsche nicht gehört. Es ist dem Staat nicht gelungen, den Menschen zu vermitteln, dass das Land mit ihnen trauert.“

Teilweise kommen laut Biwer Opfer auch jetzt erst aus der medizinischen Behandlung: „Es ist ein Irrglaube, dass nach einem solchen Anschlag nur zu Beginn Hilfe notwendig sei. Gerade nach so einem Ereignis gewinnt die Langfristigkeit der Betreuung für die Opfer zunehmend an Bedeutung. Dann ist nämlich sonst niemand mehr da, und sie sind mit ihrer Not allein. Der Weiße Ring betreut viele Kriminalitätsopfer über Jahre – also auch dann noch, wenn in der Öffentlichkeit niemand mehr über die Tat spricht oder schreibt.“

Der abgelehnte Asylbewerber Anis Amri aus Tunesien hatte am 19. Dezember 2016 in Berlin einen polnischen Lastwagenfahrer getötet. Mit dessen Fahrzeug raste er anschließend über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Dem Anhänger der Terrormiliz IS gelang die Flucht nach Italien, wo er bei einer Kontrolle von der Polizei erschossen wurde.


Randnotiz                                  

Die rbb-Doku „Weihnachtsmarkt-Anschlag: das Netzwerk der Islamisten“ wird am heutigen Montag (13. Dezember) um 22:50 Uhr direkt nach den ARD-Tagesthemen ausgestrahlt. Das rbb-Fernsehen zeigt die Produktion am Dienstag (14. Dezember) in der Primetime um 20:15 Uhr.
Vorab ist die Dokumentation in ARD-Mediathek am 13. Dezember 2021 ab 18:00 Uhr als dreiteilige Serie zu sehen.
Alle Angaben ohne Gewähr.


Die Aufnahme vom 19. Dezember 2016 zeigt den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz nahe der Gedächtniskirche. Im Bildhintergrund der schwere Sattelzug, der von dem Terroristen Anis Amri in die Menschenmenge gesteuert worden war.
(Foto: Andreas Trojak/Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz CC BY 2.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)


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