menu +

Nachrichten



Koblenz/London. Improvisierte Sprengfallen, sogenannte Improvised Explosive Devices (IED), sind eine allgegenwärtige Bedrohung für Soldaten im Einsatz. Insbesondere Radio Controlled IEDs, die durch verschiedenste Auslösemechanismen drahtlos im elektromagnetischem Spektrum zur Detonation gebracht werden können, stellen eine Gefahr für Leib und Leben der Militärkräfte und an den Konflikten unbeteiligte Zivilisten dar.

Als lebensrettenden Bestandteil militärischer Ausstattung hat das Koblenzer Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) in der Vergangenheit bereits eine Vielzahl an Stör- und Schutzausstattungen, sogenannte Störsender, beschafft. Diese Störsender – auch bekannt als Jammer – blockieren die Auslösebefehle für ferngesteuerte Sprengfallenzünder und verhindern so eine Explosion (siehe dazu auch unsere früheren Berichte hier und hier).

Jetzt unterzeichnete das BAAINBw einen Rahmenvertrag zur Lieferung von Breitband-Antennen (wie das Amt auf Anfrage des bundeswehr-journal mitteilte, „unterliegt die Nennung eines Vertragspartners der Vertraulichkeit des Vertrages“). Der Vertrag hat eine Geltungsdauer für die nächsten vier Jahre. Die Beschaffung dieser Spezialantennen wird dadurch erheblich vereinfacht und gewährleistet eine Bereitstellung von Ersatzmaterial innerhalb weniger Tage.

AOAV-Rückblick auf ein Jahrzehnt globaler Verwüstung durch IEDs

Die in London ansässige zivile Organisation Action on Armed Violence (AOAV) ist immer wieder eine ausgezeichnete Quelle, wenn es um das Thema „Improvised Explosive Devices, IED“ geht.

Am 15. Oktober erschien der Beitrag „Rückblick auf ein Jahrzehnt globaler IED-Schäden“ von Iain Overton. Der vielfach ausgezeichnete britische Investigativ-Journalist und derzeitige AOAV-Geschäftsführer hat in weltweiten englischsprachigen Medien, offiziellen Regierungsdokumenten und sonstigen relevanten Quellen recherchiert und kommt nun zu dem Schluss, dass es in den letzten zehn Jahren – zwischen Oktober 2010 und Ende September 2020 – insgesamt 28.729 Einsatzgründe für Sicherheitskräfte gab, bei denen Explosionen eine Rolle spielten. Bei diesen Explosionen wurden 357.619 Menschen verletzt oder getötet, unter den Opfern 263.487 Zivilisten. 171.732 Personen trugen Verletzungen davon oder verloren ihr Leben, weil IEDs zündeten (diese Zahl beinhaltet sowohl bewaffnete Akteure als auch Zivilisten).

Wie Overton ermittelte, fielen weltweit 48 Prozent aller durch Sprengstoffwaffen getöteten oder verletzten Menschen IEDs zum Opfer – also nahezu die Hälfte. Anders ausgedrückt: Von den 28.729 Explosionsvorfällen waren 11.971 auf IED-Zündungen zurückzuführen.

Fast die Hälfte aller getöteten US-Soldaten starben durch Sprengfallen

Overtons Recherchen für die erwähnte Dekade zeigen auch, dass sich unter den IED-Opfern weit mehr Zivilisten als Angehörige von Militär- oder sonstigen Sicherheitskräften befinden. Der AOAV-Geschäftsführer ermittelte bei seinen Nachforschungen im Quellenmaterial mindestens 136.669 durch IED-Vorfälle verletzte oder getötete Zivilisten. Dem stehen 35.063 durch IEDs getötete oder verletzte bewaffnete staatliche Kräfte gegenüber. 80 Prozent der Verletzten waren demnach Zivilisten.

Bei seinen Nachforschungen zu den Verlusten der USA und Großbritanniens in den militärischen Auseinandersetzung der vergangenen Jahre bestätigte Overton ebenfalls ein Ergebnis, das bereits seit Langem bekannt ist: Der Einsatz von IED-Konstruktionen ist und bleibt für Zivilisten und Militärkräfte die wohl größte direkte Bedrohung in modernen Konflikten weltweit.

Im Fall der US-Streitkräfte zeigen die zugänglichen Daten, dass von den 5413 US-Soldaten, die bei einem Einsatz starben, mindestens 2639 durch Sprengfallen umkamen (2591 Männer und 48 Frauen). Insgesamt wurden 1790 amerikanische Soldaten durch IEDs im Irak und 828 in Afghanistan getötet. Wie Overton zudem in Erfahrung brachte, verloren im Untersuchungszeitraum 9. September 2011 bis 9. Oktober 2020 etwa 48,7 Prozent aller gefallener US-Soldaten ihr Leben durch IED-Zündung. Im Irak starben in diesem Zeitraum 52 Prozent der GIs durch IEDs, in Afghanistan waren es 48,2 Prozent.

Lässt man die Vorfälle außer Acht, bei denen der IED-Typ nicht gemeldet werden konnte, so wurde das US-Dienstpersonal – wenn es denn durch IEDs ums Leben kam – hauptsächlich durch Bomben am Straßenrand (73 Prozent), Selbstmordattentate (16 Prozent) und Autobomben (11 Prozent) getötet.

Große Verluste durch IEDs auch bei den britischen Streitkräften

Was die Todesfälle beim britischen Militär anbelangt, so zeigt eine von Overton für seinen Beitrag genutzte Regierungsstatistik über die Todesfälle während des „Krieges gegen den Terror“ (zwischen dem 11. September 2001 und dem 9. November 2020), dass von insgesamt 634 getöteten britischen Soldaten mindestens 273 Opfer von Sprengfallen wurden. Davon waren 270 männliche und drei weibliche Militärangehörige. 51 der IED-Todesfälle ereigneten sich im Irak, 222 in Afghanistan.

Wie der Leiter der Londoner Organisation schließlich ermitteln konnte, waren von allen kriegsbedingten Todesfällen im britischen Militär 43 Prozent auf den Einsatz von IEDs zurückzuführen. Im Irak entfielen 32 Prozent der gesamten dort registrierten Todesfälle britischer Militärangehöriger auf IEDs, in Afghanistan waren es 48 Prozent. Die Ursachen-Rangfolge ist ähnlich wie bei den amerikanischen Partnern: Straßenrandbomben waren an erster Stelle verantwortlich für die Tötung eines Briten oder einer Britin (71 Prozent), gefolgt von Selbstmordattentaten (21 Prozent), Autobomben (5 Prozent) und behelfsmäßige Minen (3 Prozent).

Unter den Opfern auch Tausende Kinder und Frauen

Die AOAV-Untersuchung von Iain Overton, die am 15. Oktober 2020 in Zusammenarbeit mit UNIDIR (United Nations Institute for Disarmament Research/Institut der Vereinten Nationen für Abrüstungsforschung) und mit Unterstützung der Französischen Regierung in der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorgestellt worden ist, hält weitere erschreckende Zahlen bereit.

So dokumentierte der Journalist, dass seit Oktober 2010 mindestens 3540 Kinder Opfer von IED-Gewalt wurden (Afghanistan 1409, Syrien 697, Pakistan 451). Hauptverantwortliche für diese Tötungen waren laut AOAV-Bericht die Taliban (ihren IEDs fielen 454 Kinder zum Opfer), denen der Terrororganisation „Islamischer Staat“/IS (240) und denen des IS-Ablegers in Afghanistan (144).

Mindestens 2194 Frauen sollen den Recherchen von Overton zufolge seit 2010 Opfer von IED-Gewalt geworden sein, wobei die Länderreihenfolge mit den höchsten Opferzahlen wieder lautet: Afghanistan (782), Pakistan (397), Irak (266) und Syrien (226).

Zu den bevorzugten Anschlagsziele zählen auch Gotteshäuser und Schulen

Die Arbeit belegt außerdem, dass in den vergangenen zehn Jahren die IED-Bedrohung nicht nur in Konfliktgebieten zugenommen hat, sondern auch in Ländern ohne aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen. Insgesamt wurde festgestellt, dass IEDs im letzten Jahrzehnt in rund einhundert Staaten zum Einsatz gekommen waren.

Im Laufe des Jahrzehnts wurden in ganz Europa und Nordamerika mindestens 504 IED-Vorfälle registriert, die etwa 5702 Opfer unter der Zivilbevölkerung forderten (192 Vorfälle in der Türkei mit 3142 zivilen Todesopfern, 71 Vorfälle in Russland mit 765 zivilen Todesopfern).

Seit Oktober 2010 wurden dabei in ganz Europa und Nordamerika auch mindestens 74 Selbstmordanschläge verübt (davon 25 Anschläge in der Türkei und 25 in Russland, weitere in anderen Regionen). Von den 2886 zivilen Opfern dieser Selbstmordattentate entfielen 1614 auf die Türkei und 530 auf Russland.

Von den insgesamt 11.971 IED-Zwischenfällen ereigneten sich 6.889 in besiedelten Gebieten – rund 58 Prozent. Wenn IEDs in Städten und Gemeinden eingesetzt wurden, waren die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung – wie wahrscheinlich von den Tätern beabsichtigt – weitaus größer.

Von allen IED-Opfern in bewohnten Gebieten waren mindestens 136.156 Menschen Zivilisten (90 Prozent). Das bedeutet, dass in den letzten zehn Jahren 123.198 Zivilisten von weitgehend nichtstaatlichen Akteuren mittels Sprengstoffwaffen getötet oder verletzt wurden. Darüber hinaus waren von den 39.842 Menschen, die bei IED-Angriffen in besiedelten Gebieten starben, 90 Prozent der Opfer Zivilisten (33.091).

Die zunehmende Brutalität und Gewissenlosigkeit der Täter zeigt auch folgende Jahrzehnt-Statistik: 397 Gotteshäuser waren Schauplatz von IED-Gewalt (davon 116 im Irak, 63 in Pakistan, 56 in Afghanistan und 42 in Nigeria). Mindestens 2197 zivile Opfer – darunter 406 Kinder – waren durch IED-Explosionen in Schulen zu beklagen.

Hat das Zeitalter der Selbstmordattentäter erst begonnen?

Klar und deutlich benennt die Arbeit von Overton auch den Kreis der Mörder. In seinem Bericht heißt es: „Die Hauptverantwortlichen für den IED-Einsatz waren und sind – wie erwartet – bewaffnete nichtstaatliche Akteure. Die Mehrheit der Täter behauptet, den Prinzipien des Islam und des Dschihadismus zu folgen.“

Von allen Angriffen nichtstaatlicher bewaffneter Akteure entfielen die meisten auf den IS in Syrien und im Irak (1079), gefolgt von den Taliban in Afghanistan (506), al-Shabaab in Somalia (249), Boko Haram in Nigeria mit seinen Anrainerstaaten Tschad, Niger und Kamerun (138), der maoistisch orientierten CPI Naxal in Indien (96), den pakistanischen Taliban (130) und der kurdisch, sozialistisch ausgerichteten militanten Untergrundorganisation PKK (108). Insgesamt 75 Prozent aller IED-Angriffe der letzten zehn Jahre wurden von unbekannten Tätern verübt.

Overton hat auch herausgearbeitet, dass sich das 21. Jahrhundert unstrittig zu einem Zeitalter des Selbstmordattentats entwickelt hat. Im Jahr 2015 gab es rund 600 Selbstmordanschläge, vor den Terroranschlägen des 11. September 2001 waren es – betrachtet man die Zeit bis Ende des Zweiten Weltkriegs – nicht mehr als etwa 20 Anschläge pro Jahr. In den letzten zehn Jahren gab es 2113 Selbstmordanschläge in 47 Ländern. Die fünf Länder, in denen am häufigsten Selbstmordattentate verübt wurden, sind Afghanistan (510), Irak (507), Nigeria (208), Pakistan (178) und Syrien (172).

Der AOAV-Report zeigt auch auf, dass bei IED-Vorfällen mit einem Selbstmordattentäter die Zahl der Todesopfer zumeist am höchsten ist (durchschnittlich 36 Getötete).


Zu unserem Bildmaterial:
1. Patrouille der Bundeswehr im Rahmen der Mission MINUSMA in Mali nahe Gao. An der Spitze im Transportpanzer Fuchs ein Störtrupp, der versteckte Sprengsätze aufspüren soll. Die Aufnahme wurde am 2. August 2018 gemacht.
(Foto: Michael Weckbach/Bundeswehr)

2. Unsere erste Infografik führt die Terrorbewegungen auf, die für die meisten der IED-Attacken weltweit verantwortlich sind. Das Hintergrundbild – entstanden am 10. Februar 2014 im Camp Eagle in der südafghanischen Provinz Zabul – zeigt die Schulung afghanischer Soldaten auf dem Gebiet „Counter-IED“.
(Foto: Clay Beyersdorfer/damaliges ISAF-Regionalkommando Süd/U.S. Army;
Infografik © Christian Dewitz/mediakompakt 11.20)

3. Die zweite Infografik nennt einige markante Zahlen aus dem Bericht der Organisation AOAV, der am 15. Oktober 2020 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorgestellt wurde. Die Aufnahme für den Hintergrund zeigt ein IED-Kampfmittel der Aufständischen, das bei einer Razzia am 11. Januar 2012 im Khugyani-Bezirk in der afghanischen Zentralprovinz Ghazni entdeckt wurde. Die afghanischen Truppen und ihre Partner fanden an diesem Tag bei der Suche nach einem Talibanführer unter anderem selbstproduzierten Sprengstoff, etliche vorbereitete Sprengfallenvorrichtungen und Material für den Bombenbau, dazu eine Fülle an Handfeuerwaffen und Munition.
(Foto: Brian Kohl/Combat Camera Afghanistan/U.S. Army;
Infografik © Christian Dewitz/mediakompakt 11.20)


Kommentieren

Bitte beantworten Sie die Frage. Dies ist ein Schutz der Seite vor ungewollten Spam-Beiträgen. Vielen Dank *

OBEN