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Ixelles (Belgien)/Skillingaryd (Schweden). Behelfsmäßige Sprengkörper – Improvised Explosive Devices (IED) – sind effektive Waffen „des kleinen Mannes“ mit operationellen und teilweise auch strategischen Auswirkungen. IED stellen nach wie vor eine der größten Bedrohungen für Militärangehörige und Zivilisten in einem Konfliktgebiet dar. Die Gefahrenabwehr bei diesen „unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen“ übten vor Kurzem in Schweden rund 1000 Spezialisten aus 21 europäischen Ländern. Auch Bundeswehrangehörige nahmen teil. Die Bezeichnung der multinationalen Übung, die unter dem Dach der Europäischen Verteidigungsagentur (European Defence Agency, EDA) stattfand, ist gewöhnungsbedürftig: „Bison Counter 2016“.

Zu der Übung, die erstmals im Jahr 2013 in den Niederlanden durchgeführt worden war, hatte die EDA auch Vertreter internationaler Organisationen und Beobachter aus außereuropäischen Ländern eingeladen. Ausrichter von „Bison Counter 2016“ waren die Streitkräfte Schwedens, die Federführung dabei hatte das in Eksjö stationierte Götaland Pionierregiment (Göta ingenjörregemente).

„Bison Counter 2016“ fand im Zeitraum 15. bis 26. August statt. Das Geschehen konzentrierte sich dabei vor allem auf das Trainingsgelände Skillingaryd, Schwedens einzigem erhaltenen Übungsplatz aus dem 17. Jahrhundert. Weitere Übungsszenarien, die sowohl von konventionellen als auch von asymmetrischen Bedrohungen ausgingen, spielten in Jönköping, Karlskrona und Eksjö.

Folgende Nationen stellten Fachpersonal für „Bison Counter 2016“: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Georgien, Irland, Italien, Lettland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Serbien, Slowenien, Ukraine, Ungarn, USA und Zypern.

Experten rechnen mit zunehmender IED-Bedrohung weltweit

Die vor allem aus dem Irak und aus Afghanistan bekanntesten IED-Erscheinungsformen sind die unter der Fahrbahn oder am Straßenrand versteckte „Roadside Bomb“, die Sprengfalle im Gelände oder in Wohnbereichen, der zeitgesteuerte Raketenangriff auf eine militärische oder zivile Einrichtung sowie das Selbstmordattentat mit Sprengstoffweste oder beladenem Fahrzeug.

Nach Ansicht militärischer Experten werden IED in Zukunft aufgrund der wachsenden Verbreitung moderner Militärtechnologien und der Zunahme ferngesteuerter Vorrichtungen eher noch bedrohlicher sein. Auch gilt eine Kombination von IED mit CBRN-Stoffen (chemisch, biologisch, radiologisch und nuklear) längst nicht mehr als abwegig.

Die Abwehrmaßnahmen gegen unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen – im Militärjargon „Counter Improvised Explosive Device“ (C-IED) – gründen sich auf drei Säulen: „Prepare the Force“ (Ausbildung der Truppe), „Attack the Network“ (Identifizieren und Zerschlagen der Netzwerke), „Defeat the Device“ (Beseitigen aufgefundener IED).

An „Bison Counter 2016“ beteiligte sich „C-IED“-Fachpersonal verschiedener Couleur: Spezialisten für das Aufspüren der gefährlichen Konstruktionen, Suchteams mit speziell ausgebildeten Hunden, Pioniere für die Kampfmittelräumung, Kampfmittelbeseitiger, Minentaucher, Experten aus dem Bereich „CBRN“ und Waffenspezialisten von Heer, Luftwaffe und Marine.

Ein Übungsschwerpunkt in Schweden war es, den Übergabeprozess von Verantwortlichkeiten und Aufgaben zwischen den einzelnen Spezialbereichen zu trainieren – beispielsweise die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Spürtrupps (Route Clearance), Kampfmittelräumern, Waffenexperten und dem JDEAL.

Daten sammeln, Daten auswerten, Gefahren frühzeitig aufklären

Alle IED-Gegenmaßnahmen zielen auf die Abwehr aktueller (und auch künftiger) Gefahren und auf das dafür verantwortliche Netzwerk ab. Deswegen spielen auch die Aufklärung auf Grundlage einer möglichst kompletten Datensammlung sowie die Datenauswertung eine zentrale Rolle im Bereich „C-IED“. So hat beispielsweise der ISAF-Einsatz in Afghanistan gezeigt, wie wichtig eine gründliche Auswertung und Analyse von IED-Resten ist.

JDEAL (Joint Deployable Exploitation and Analysis Laboratory) ist ein Gemeinschaftsprojekt von Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Österreich, Portugal, Schweden und Spanien unter Leitung der Niederlande. Konkret verbirgt sich hinter dem Kürzel „JDEAL“ unter anderem ein mobiles Auswerte- und Analyselabor zur IED-Untersuchung.

Dessen Entwicklung beziehungsweise Beschaffung war am 26. April 2010 beim Treffen der EU-Verteidigungsminister in Luxemburg beschlossen worden. Grundlage dieser Entscheidung war und ist der „EU Action Plan on Enhancing the Security of Explosives“ vom 18. April 2008, der sich mit dem Aufbau einer europäischen Bomben-Datenbank, der Installation eines Informationsaustausch- und Frühwarnsystems sowie der Einrichtung eines Systems zur Identifikation und Rückverfolgung von Explosivstoffen befasst.

In Afghanistan mehr als 6000 Reste von Sprengsätzen untersucht

Mit der Entwicklung und Lieferung eines ersten verlegefähigen Auswerte- und Analyselabors hatte die EDA im Jahr 2010 das spanische Technologieunternehmen Indra beauftragt. Indra lieferte zunächst einen „Multinational Theatre Exploitation Laboratory Demonstrator“ (MNTEL), der dann im Zeitraum August 2011 bis Mitte 2014 von den ISAF-Truppen am Hindukusch zur Untersuchung von rund 6000 IED-Beweisstücken genutzt werden konnte. Danach wurde das MNTEL von Afghanistan nach Soesterberg in den Niederlanden gebracht, wo es nun als Ausbildungs- und Trainingskomplex für den Bereich „Counter-IED“ genutzt wird.

Zusätzlich zu dieser Trainingseinrichtung baut und bestückt Indra auch zwei weitere mobile Auswerte- und Analyselabore für den Kunden EDA. Diese Labore für die forensische Untersuchung von Improvised Explosive Devices bestehen aus 13 Modul-Containern, in denen bis zu 20 Experten arbeiten können.

Das JDEAL-Projekt verfolgt insgesamt vier konkrete Ziele: Neben der Bereitstellung einer permanenten Trainingsinfrastruktur und der Beschaffung von zwei Auswertelaboren (im Gesamtwert von rund vier Millionen Euro) sollen die Fähigkeit der EDA-Mitgliedstaaten zur technischen Analyse von IED verbessert und außerdem eine Basis für Forschung und Entwicklung bereitgestellt werden.

Bei „Bison Counter 2016“ in Schweden war der Laborkomplex erstmals in einem Einsatz komplett betriebsbereit. Er konnte erfolgreich in die Befehlskette der Übung integriert werden. Die Container waren rund um die Uhr mit fast 30 Kräften besetzt, darunter Spezialisten, Auszubildende und Beobachter. Insgesamt bearbeiteten die Experten bei „Bison Counter“ mehr als 50 verschiedene „Fälle“ – von den Überresten einer Autobombe über die Nutzung verschiedener Mobiltelefone für die Sprengsatzzündung bis hin zur Wiederherstellung gelöschter Daten.

Tausende Tote und Verletzte in Syrien und im Irak durch IED

Das EU-Projekt um JDEAL kooperiert eng mit dem „Counter Improvised Explosive Devices Centre of Excellence“ (C-IED COE) in Hoyo de Manzanares nahe Madrid. Dieses spanische militärische Kompetenzzentrum im NATO-Rahmen wird heute von folgenden Nationen finanziell mitgetragen: Deutschland, Frankreich, Niederlande, Portugal, Rumänien, Tschechien, Ungarn und die Vereinigten Staaten. Die Türkei streben eine fördernde Mitgliedschaft im C-IED COE an. Auch Schweden zeigt großes Interesse.

Im Juni veröffentlichte das Kompetenzzentrum einen Bericht über die Nutzung von IED durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien und im Irak. Im Berichtszeitraum März 2015 bis einschließlich Februar 2016 gab es in Syrien 3841 IED-Vorfälle, 6418 Menschen wurden dabei verletzt oder getötet. Noch schlimmer war die Situation im gleichen Zeitraum im Irak: Bei 12.045 Vorfällen mit IED gab es 34.431 Verletzte oder Tote.

Dschihadisten des IS stellen Spreng- und Brandsätze fast industriell her

Auch wenn die Dschihadisten in den beiden Ländern einer wachsender Gegenwehr der jeweiligen nationalen Sicherheitskräfte sowie dem anhaltenden Druck der Internationalen Allianz ausgesetzt seien und deswegen mehr und mehr in die Defensive gerieten, so der Bericht, sei die Herstellung und Nutzung von Improvised Explosive Devices durch den IS nicht rückläufig. Im Gegenteil! Das Kompetenzzentrum in seiner Bewertung: „Der wesentliche Unterschied zu anderen Konflikten, bei denen IED-Konstruktionen zum Einsatz kommen, ist die vielfältige und massenhafte Herstellung dieser Waffen durch den IS. Seine IED-Produktion hat mittlerweile fast schon industrielle Maßstäbe angenommen. Angefertigt wird im Auftrag des ,Islamischen Staates‘ nahezu alles: Sprengstoffgürtel und Sprengstoffwesten, magnetische Sprengkörper, Sprengsätze für den Einzeltäter, Sprengladungen für Personenfahrzeuge und tonnenweise Sprengstofffracht für Lastwagen und andere rollende Bomben.“

Der IS baue nach wie vor auf dieses heimtückische Waffenarsenal und verwende es sowohl bei der Verteidigung als auch bei Attacken auf den Gegner. Im Falle des IS hat sich die „Waffe des kleinen Mannes“ zu einer massenhaft und in allen möglichen Varianten produzierten Kriegstechnik entwickelt – eingesetzt gegen Sicherheitskräfte im Hinterhalt oder im Gefecht, gegen Zivilisten in Moscheen oder auf Märkten, als Mordwaffe gegen Einzelne.

Die Europäische Verteidigungsagentur beabsichtigt, „Bison Counter“ nun regelmäßig alle zwei Jahre anzubieten. Die nächste multinationale Übung soll 2018 stattfinden. Hoffen wir, dass dann das „Kalifat“ des IS bereits untergegangen ist …


Unser Bild entstand bei der multinationalen Übung „Bison Counter 2016“ in Schweden.
(Foto: Jimmy Croona/Schwedische Streitkräfte)

Kleines Beitragsbild: IED-Training im Mai 2011 auf einer irakischen Luftwaffenbasis. Die Aufnahme zeigt einen Übungssprengsatz.
(Foto: Brian Chaney/U.S. Army)


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