menu +

Nachrichten



Kabul (Afghanistan)/Brüssel (Belgien)/Washington (USA)/Berlin. ISAF ist Geschichte. Der NATO-geführte Militäreinsatz in Afghanistan – der vor ziemlich genau 13 Jahren als Friedenserzwingende Mission der Vereinten Nationen in der afghanischen Hauptstadt Kabul begonnen hatte – wurde in der Nacht vom 31. Dezember 2014 auf den 1. Januar 2015 von der Nachfolgemission „Resolute Support“ abgelöst. Ihr Kernauftrag beschränkt sich auf die Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte. Eine Beteiligung an Kampfhandlungen ist grundsätzlich nicht mehr vorgesehen. Erlaubt ist jedoch bei Bedarf der Schutz eigener und verbündeter Kräfte mit Waffengewalt. Die NATO beendete den ISAF-Kampfeinsatz formell mit einer schlichten Feier im Hauptquartier in Kabul am 28. Dezember. Am 8. Dezember war bereits das ISAF Joint Command (IJC) in einer feierlichen Zeremonie außer Dienst gestellt worden. Mit dem Jahreswechsel übernahmen auch die rund 350.000 Mann starken afghanischen Kräfte (Afghan National Security Forces, ANSF) die alleinige Verantwortung für die landesweite Sicherheit. ISAF ist Geschichte – Teil 1 …

Der Kampfeinsatz der NATO-geführten Streitkräfte hatte bereits mit der Außerdienststellung des IJC sein offizielles Ende gefunden (wir berichteten). Das im Norden der afghanischen Hauptstadt Kabul im militärischen Teil des internationalen Flughafens beheimatete Kommando war im Jahr 2009 vom damaligen ISAF-Kommandeur, US-General Stanley A. McChrystal, installiert worden. Es unterstand dem Hauptquartier von ISAF (ISAF: International Security Assistance Force/Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe) und war für das operative Tagesgeschäft der Koalitionstruppen zuständig gewesen. Zu Hochzeiten hatte das IJC am Hindukusch mehr als 130.000 Soldaten aus rund 40 Nationen, die quer durchs Land auf sechs Regionalkommandos verteilt gewesen waren, geführt.

Vertrauen, Freundschaft und gemeinsame Interessen

Bei der Abschlusszeremonie am 28. Dezember rollte der letzte Kommandeur von ISAF und erste Befehlshaber der „Resolute Support Mission“ (RSM), US-General John F. Campbell, die grüne Fahne der vergangenen Mission ein und enthüllte danach das grüne Tuch der Folgemission. Etliche hohe Militärs, die an diesem Sonntag an der Feier teilnahmen, trugen wie Campbell bereits das neue Abzeichen mit dem NATO-Emblem und den Buchstaben „RS“ am Uniformärmel.

Campbell wandte sich mit einer kurzen Botschaft an die afghanische Bevölkerung. Er versicherte, dass Afghanistan niemals mehr zu einem „sicheren Hafen“ für den Terrorismus werden könne. Die vergangenen 13 Jahre sei man immer eng an der Seite der afghanischen Sicherheitskräfte gewesen, dies werde nun auch mit Beginn der neuen Mission so sein. „Wir sind stolz auf unsere guten Beziehungen zu Afghanistan, seinen Menschen und seinen Militär- und Polizeiangehörigen. Diese guten Beziehungen beruhen auf Vertrauen, Freundschaft und auch auf gemeinsamen Interessen.“ Das gegenseitige Vertrauen und die gemeinsame Vision von einem stabilen, sicheren und geeinten Afghanistan ließen ihn zuversichtlich in die Zukunft blicken, so der Kommandeur weiter.

Überzeugt und entschlossen versprach Campbell – dies auch an die Adresse der militanten Regierungsgegner gerichtet: „Der Weg, der vor uns liegt, birgt noch zahlreiche Herausforderungen – ich bin mir aber sicher, dass wir am Ende triumphieren werden.“

Auch in Zukunft Verpflichtungen gegenüber Afghanistan

Der deutsche Vier-Sterne-General Hans-Lothar Domröse, Commander in Chief des Joint Force Command (JFC) im niederländischen Brunssum, erinnerte beim Abschlussappell in Kabul an die vielen Soldatinnen und Soldaten aller ISAF-Kontingente. „Ich nehme an der heutigen Feier auch teil, weil ich damit die herausragenden Leistungen dieser Frauen und Männer würdigen will. Zugleich gedenke ich der Opfer, die unsere Truppen und die afghanischen Sicherheitskräfte bislang bringen mussten. Nicht zuletzt ist es mir wichtig, an diesem Tag noch einmal mit Nachdruck an unsere fortdauernden Verpflichtungen gegenüber dem Land Afghanistan hinzuweisen.“

Heeresgeneral Domröse ist seit dem 14. Dezember 2012 Oberbefehlshaber des JFC Brunssum. Dieses NATO-Kommando – neben dem JFC Neapel (Italien) das zweite europäische Kommando der Allianz auf operativer Führungsebene – ist unter anderem verantwortlich für die Durchführung und Unterstützung von NATO-Operationen, darunter auch der Einsatz in Afghanistan. An „Resolute Support“ sollen rund 13.000 ausländische Soldaten aus den NATO-Staaten und weiteren 14 Nationen teilnehmen.

Sicherheitsverantwortung jetzt ausschließlich in afghanischen Händen

Für die afghanische Regierung bedankte sich Mohammad Hanif Atmar, Nationaler Sicherheitsberater des afghanischen Staatspräsidenten, bei den internationalen Truppen und bat um weitere Unterstützung. Bei der Abschlusszeremonie sagte er: „Wir wollen nicht und wir erwarten nicht, dass Sie uns unbegrenzt unterstützen. Trotzdem benötigen wir Ihre Partnerschaft heute mehr denn je.“ Eingedenk der vielen toten und verwundeten Koalitionssoldaten der vergangenen 13 Jahre versprach Atmar zudem: „Wir werden niemals Ihre Söhne und Töchter vergessen, die auf afghanischem Boden ihr Leben ließen. Sie sind nun auch unsere Kinder. Afghanischen Soldaten und Soldaten der Koalition haben ihr Blut vergossen, um unserem Land eine hellere Zukunft zu ermöglichen und zugleich die Welt ein Stück sicher zu machen.“

Afghanistans Präsident Ashraf Ghani wandte sich später in seiner Neujahrsansprache selbst an die westlichen Truppen und dankte den Kontingenten für ihren Einsatz. In der im Fernsehen übertragenen Rede aus dem Präsidentenpalast bezeichnete er den Missionswechsel in der Nacht zum 1. Januar 2015 als historischen Moment für sein Land, der die erfolgreiche Übergabe der gesamten Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Streit- und Polizeikräfte mit sich gebracht habe. Ghani forderte die Afghanen auf, ihre Sicherheitskräfte vorbehaltlos zu unterstützen und so am Aufbau „eines starken und friedlichen Afghanistans“ mitzuwirken. „Unsere Bürgerinnen und Bürger können ohne Sicherheit nicht leben“, erklärte der Präsident in seiner Ansprache. „Und globale Sicherheit ist untrennbar mit der Sicherheit unseres Landes verbunden.“

2014 so viele zivile Opfer wie seit Jahren nicht mehr

Der Afghanistaneinsatz war und ist insgesamt äußerst verlustreich. In den vergangenen 13 Jahren starben nach Angaben des Onlinedienstes iCasualties 3485 Angehörige der Koalitionstruppen aus 29 Ländern, unter ihnen 2356 US-Soldaten. 2014, im letzten ISAF-Jahr, kamen in Afghanistan 75 Koalitionssoldaten zu Tode, 55 waren Amerikaner.

Nach Informationen des Presse- und Informationsstabes des Bundesministeriums der Verteidigung fielen beim Einsatz in Afghanistan von 2001 bis zum 31. Dezember 2014 „durch Fremdeinwirkung“ 35 deutsche Soldaten, 20 starben „durch sonstige Umstände“.

Karl Ake Roghe, Chef der zivilen Mission EUPOL Afghanistan, teilte vor Kurzem mit, dass alleine im Jahr 2014 etwa 5000 Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen die regierungsfeindlichen Kräfte umgekommen seien. EUPOL, eine von der Europäischen Union finanzierte Mission, berät seit Juni 2007 die afghanische Regierung beim Polizeiaufbau und bei der Entwicklung eines Rechtsstaates.

Kurz vor Ende des internationalen Kampfeinsatzes in Afghanistan erreichte auch die Gewalt gegen Zivilisten einen neuen Höchststand. Nach Angaben der Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (United Nations Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) wurden im Zeitraum von Januar bis November 3188 Zivilisten getötet und 6429 weitere verletzt. So viele zivile Opfer in einem Jahr habe es seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2009 nicht gegeben, beklagte UNAMA-Missionsleiter Nicholas Haysom am 19. Dezember bei einer Pressekonferenz in New York. In rund drei Vierteln aller Fälle stammten die Täter aus dem radikalislamischen Umfeld der Taliban.

„Von Afghanistan wirkt kein Terror mehr in die Welt“

Die Bundesregierung zog in einem am 29. Dezember veröffentlichten „Offenen Brief“ ein überwiegend positives Fazit des 13 Jahre währenden deutschen Engagements und der NATO-Mission in Afghanistan.

In der von den Ministern Frank-Walter Steinmeier (Auswärtiges), Thomas de Maizière (Inneres), Ursula von der Leyen (Verteidigung) und Gerd Müller (Entwicklung) verfassten gemeinsamen Presseerklärung heißt es unter anderem: „Der 11. September 2001 hat die Welt erschüttert. 3000 Tote beim Anschlag auf das World Trade Center; Anschläge islamistischer Attentäter auf Bali, Djerba und in Casablanca. Überall dort wurden auch Deutsche zu Opfern. Auch Europa ist nicht verschont geblieben. Hunderte starben bei Anschlägen in London und Madrid. Die Blutspuren der Attentäter hatten ihren Ausgang in den Trainingscamps von Afghanistan. Die Weltgemeinschaft versammelte sich gegen die terroristische Bedrohung und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen verabschiedete ein Mandat mit dem Ziel, dass Afghanistan nicht ein Ort bleiben würde, an dem der internationale Terrorismus ungestört rekrutieren, ausbilden und Anschläge planen kann. Auf dieser Grundlage begann 2001 gemeinsam mit 40 anderen Nationen unser Engagement in Afghanistan.“

Entscheidend für alle vier Minister ist: „Von Afghanistan wirkt kein Terror mehr in die Welt, wie es unter der Schreckensherrschaft der Taliban im Vorfeld der Anschläge des 11. September 2001 der Fall war.“

In den vergangenen 13 Jahren, so bilanzieren die Ressortchefs, seien mit westlicher Hilfe in Afghanistan „beachtliche Fortschritte“ erzielt worden, die „für die Menschen unmittelbar spürbar“ sind. So habe sich das Bruttoinlandsprodukt Afghanistans seit 2001 mehr als versechsfacht. Mehr Menschen als jemals zuvor hätten heute Zugang zu sauberem Wasser und Strom, zu ärztlicher Versorgung und zu Bildung. Die Lebenserwartung der Afghanen sei erheblich gestiegen. Mit Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft seien Straßen, Schulen, Krankenhäuser oder Kraftwerke gebaut worden; andere Infrastruktur seien wieder hergerichtet worden. Zudem gebe es erste Fortschritte beim Aufbau von Verwaltung und rechtsstaatlichen Strukturen.

Allerdings habe man auch gelernt: „Von anfänglich zu hohen Erwartungen, manchen zu ambitionierten Vorhaben, vielen noch unerledigten Projekten. Die Bekämpfung von Korruption und Drogenproduktion erfolgt bis heute nur schleppend. Die Sicherheitslage ist zwar deutlich besser als zu Beginn der ISAF-Mission, aber weiterhin fragil.“

Der längste Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sprach in seiner Grußadresse zum Jahreswechsel von „weiterhin großen Herausforderungen in Afghanistan“. „Es gibt in dem Land für uns noch eine Menge Arbeit – die afghanischen Sicherheitskräfte werden für ihre zukünftige Entwicklung nach wie vor unsere Hilfe benötigen.“

US-Präsident Barack Obama würdigte in Washington den Abschluss des NATO-Kampfeinsatzes in Afghanistan als „Meilenstein“. Seit mehr als 13 Jahren hätten sich die Vereinigten Staaten „in Afghanistan im Krieg befunden“, erklärte Obama in einem Pressestatement am 28. Dezember. Das Land am Hindukusch bleibe ein „gefährlicher Ort“, doch seien die USA heute „sicherer“. Der Präsident erinnerte an ein Versprechen aus den ersten Tagen seiner Amtszeit. „Wenn ich zurückdenke an das Jahr 2009, so fallen mir die rund 180.000 US-Soldaten ein, die zu der damaligen Zeit immer noch im Irak und in Afghanistan stationiert gewesen waren. Heute sind in diesen beiden Ländern weniger als 15.000 unserer Frauen und Männer im Einsatz – 90 Prozent unserer damaligen Truppen sind längst wieder in die Heimat zurückgekehrt.“

Obama dankte den Sicherheitskräften und Geheimdienstmitarbeitern für ihren Afghanistaneinsatz an der Seite der Alliierten und Partner. Dieser Einsatz habe dazu geführt, dass das internationale Terrornetzwerk „ins Mark getroffen“ worden sei. „Unser Kampfauftrag in Afghanistan ist beendet, der längste Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten ist zu einem verantwortungsvollen Schluss gelangt.“

Afghanistan – von echter Demokratie noch weit entfernt?

Die Einschätzungen über Misserfolge und Erfolge des Westens im 13 Jahre langen Afghanistaneinsatz gehen teilweise weit auseinander. Während beispielsweise der Stellvertretende Kommandeur von ISAF (und jetzt „Resolute Support“), der deutsche Generalleutnant Carsten Jacobson, von einer erfolgreichen Mission spricht, zogen und ziehen Teile der deutschen Presse eine „bittere Bilanz“. Diese Beschreibung nutzte etwa die Südwest Presse, die meint, dass trotz einzelner Erfolge die „Zeichen insgesamt schlecht“ stünden. „Die Korruption in Afghanistan blüht wie der Schlafmohn, von echter Demokratie, die der Westen mit militärischen Mitteln exportiert, ist das Land weit entfernt“, so das Blatt.

Aber es lassen sich auch optimistische Kommentare finden. Stimmen zum Ende von ISAF finden Sie im Teil 2 unseres Beitrages…


Video-Hinweis: Das Video aus dem Multimediaangebot der NATO (YouTube-Kanal der NATO) entstand am 28. Dezember 2014 im ISAF-Hauptquartier in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Es zeigt die Abschlusszeremonie der ISAF-Mission mit dem nahtlosen Übergang in die „Resolute Support Mission“. Der militärische Appell fand unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen statt.
(Video: NATO)

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden



Zu unserer Bildsequenz „ISAF-Ende, Teil 1“:
1. Abschlusszeremonie der ISAF-Mission am 28. Dezember 2014 in Kabul. Die Aufnahme zeigt die Formation der Fahnenträger, während die Nationalhymne Afghanistans erklingt.
(Foto: Janine Fabre/Commonwealth of Australia)

2. Die beiden Generäle Hans-Lothar Domröse (links) und John F. Campbell bei der Abschlusszeremonie.
(Foto: Janine Fabre/Commonwealth of Australia)

3. General Domröse bei seiner Ansprache in Kabul. Der deutsche Offizier ist seit dem 14. Dezember 2012 Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command im niederländischen Brunssum.
(Foto: Janine Fabre/Commonwealth of Australia)

4. Mohammad Hanif Atmar, Nationaler Sicherheitsberater des afghanischen Staatspräsidenten, bei der Abschlusszeremonie am 28. Dezember 2014.
(Foto: Janine Fabre/Commonwealth of Australia)

5. In den vergangenen 13 Jahren starben nach Angaben des Onlinedienstes iCasualties in Afghanistan 3485 Angehörige der Koalitionstruppen, unter ihnen 2356 US-Soldaten. Die Bundeswehr trauert um 55 Kameraden. Das Foto entstand am 30. Juli 2010 in Afghanistan während eines Gedenkappells für Sergeant Joe L. Wrightsman, der kurz zuvor während eines Gefechts ums Leben gekommen war.
(Foto: Mark Fayloga/U.S. Marine Corps)

6. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der zum Ende der ISAF-Mission eine Grußbotschaft nach Kabul sandte, war bereits am 6. November 2014 mit Afghanistans Präsident Ashraf Ghani Ahmadzai (links) zusammengetroffen und hatte mit ihm über die weitere Unterstützung des Westens gesprochen.
(Foto: NATO)

7. US-Präsident Barack Obama am 25. Mai 2014 während seines überraschenden Afghanistanbesuchs. In Bagram Airfield betrachtete er lange die Galerie des gefallenen amerikanischen Militärpersonals.
(Foto: Pete Souza/White House)

Unser Großbild auf der START-Seite zeigt den Moment, an dem am 28. Dezember 2014 in Kabul erstmals die Flagge der neuen NATO-geführten „Resolute Support Mission“ präsentiert wurde. Neben der Flagge salutiert Delbert D. Byers, der Command Sergeant Major der ISAF- und nun RS-Mission.
(Foto: Janine Fabre/Commonwealth of Australia)


Kommentieren

Bitte beantworten Sie die Frage. Dies ist ein Schutz der Seite vor ungewollten Spam-Beiträgen. Vielen Dank *

OBEN