Köln/Bunnik (Utrecht, Niederlande)/Berlin. Zwei Jahre nach der Machtübernahme in Afghanistan durch die Taliban und der militärischen Evakuierungsmission aus der Hauptstadt Kabul durch die Bundeswehr warten noch immer tausende gefährdete Afghanen auf ein Visum zur Einreise nach Deutschland. Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung (SZ)– in Zusammenarbeit mit dem niederländischen Investigativbüro „Lighthouse Reports“ – zeigen nun, dass die Bundesregierung seither auch immer wieder afghanische Ortskräfte abgewiesen hat. Und dies, obwohl die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) zu der Einschätzung gekommen war, dass es sich bei den Menschen um potenziell oder auch „besonders gefährdete“ Personen gehandelt hatte.
Den Recherchen zufolge hatten auch immer wieder Personen eine Ablehnung erhalten, denen zuvor beispielsweise attestiert worden war, dass sie „in ihrer Rolle als Vermittlung zwischen afghanischer Polizei und der Bevölkerung im Auftrag der GIZ deutlich wahrgenommen“ worden waren und somit „in exponierter Stellung“ gearbeitet hatten.
Die GIZ ist eine GmbH, die sich zu einhundert Prozent in Bundesbesitz befindet und im Auftrag der Bundesregierung zahlreiche Entwicklungsprojekte weltweit durchführt. In Afghanistan war sie die größte deutsche Entwicklungsorganisation bis die Taliban im August 2021 die Macht übernahmen und Tausende panisch versuchten, das Land zu verlassen.
Weil der Umgang der Bundesregierung mit ihren Ortskräften damals für große Empörung in der Öffentlichkeit sorgte, will inzwischen ein Untersuchungsausschuss im Bundestag aufklären, wie es dazu im Sommer vor zwei Jahren kommen konnte.
Das Rechercheteam von WDR, NDR, SZ und „Lighthouse Reports“ hat nun beispielhaft 20 Fälle ehemaliger bedrohter und gefährdeter GIZ-Ortskräfte überprüft und dazu unter anderem mit Betroffenen und Zeugen gesprochen. Auch konnten vertrauliche Regierungsdokumente eingesehen werden.
Die Recherchen zeigen, dass die Ablehnungen besonders häufig im Bereich eines einstigen Polizeiprojektes namens „Police Cooperation Project“ (PCP) stattfanden und immer noch stattfinden. Dabei handelt es sich um ein Projekt, bei dem afghanischen Polizisten nach Darstellung der Bundesregierung unter anderem Lesen und Schreiben beigebracht werden sollte. In einer Einschätzung der GIZ heißt es zu dieser Gruppe dagegen: „[Beschäftigte] des PCP gelten als besonders gefährdet durch ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit und Zusammenarbeit mit der Polizei.“ Das PCP-Projekt wurde vor der Machtübernahme durch die Taliban in allen Teilen des Landes durchgeführt, auch in gefährlichen Regionen, in die deutsche GIZ-Mitarbeiter selbst oft nicht reisen durften.
Dass PCP-Mitarbeiter besonders häufig abgelehnt werden, bestätigen auch Zahlen, die das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) auf Nachfrage mitgeteilt hat. Demnach erstatteten aus dem Polizeiprojekt insgesamt 1318 Menschen eine Gefährdungsanzeige. Lediglich 56 von ihnen wurde eine Aufnahmezusage erteilt. Mehr als 1000 Anträge wurden bereits abgelehnt.
Das BMZ wollte die Einzelfälle nicht kommentieren. Es teilte lediglich mit: „Nur wenige der ehemaligen Werkvertragsnehmer konnten eine Gefährdung plausibel darstellen, die sich aus ihrer ehemaligen Tätigkeit für das PCP ergibt und die über das allgemeine Gefährdungsniveau in Afghanistan hinausgeht.“ Auch verwies das BMZ auf die Bemühungen der Bundesregierung, besonders gefährdeten Personen aus Afghanistan in Deutschland Schutz zu gewähren.
Laut Angaben der Bundesregierung sind seit August 2021 bereits mehr als 30.000 Menschen aus Afghanistan nach Deutschland eingereist.
Für die Recherchen sprach das internationale Team von Journalisten mit ehemaligen Ortskräften und Regierungsmitarbeitern und verifizierte Zeugenaussagen und Dokumente. Außerdem wertete das Team tausende vertrauliche E-Mails, Leitungsvorlagen und interne Unterlagen verschiedener Ministerien und Bundesbehörden aus.
Einen Exklusiv-Beitrag von Volkmar Kabisch und Martin Kaul für die ARD finden Sie hier:
https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/ortskraefte-afghanistan-bundesregierung-100.html
Volkmar Kabisch hat Islamwissenschaft und Judaistik studiert. Für den Rechercheverbund von NDR, WDR und SZ hat er in der Vergangenheit immer wieder auch über Dschihadisten in Syrien und im Irak berichtet.
Der Journalist Martin Kaul, Mitglied im Vorstand der Organisation „Reporter ohne Grenzen“, arbeitet für das Investigativressort des WDR in der Recherchekooperation von NDR, WDR und SZ.
Neueste Zahlen zu den mittlerweile nach Deutschland eingereisten früheren afghanischen Ortskräften lieferte die Bundesregierung in ihrer Antwort vom 8. November 2023 auf eine Kleine Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion
Laut Regierung sind seit dem 15. Mai 2021 (mit Stand vom 30. Oktober 2023) insgesamt 4122 afghanische Ortskräfte nach Deutschland eingereist. Zusammen mit ihren eingereisten Familienangehörigen beläuft sich die Gesamtzahl auf insgesamt 19.345 Menschen. Danach sind mit Stand vom 6. Oktober 2023 im Rahmen des Ortskräfteverfahrens 1388 afghanische Ortskräfte – mit Familienangehörigen 5975 Afghanen – noch nicht eingereist, für die eine Aufnahmeerklärung besteht.
Angefragt hatten die AfD-Abgeordneten Bernd Baumann, Gottfried Curio, Martin Hess sowie weitere Abgeordnete der Fraktion.
Im Rahmen der militärischen Evakuierungsoperation im August 2021 hat die Bundeswehr fast 5400 Personen aus Afghanistan ausgeflogen. Unser Bildmaterial entstand bei der damaligen Luftbrücke von Kabul nach Taschkent, Usbekistan.
(Fotos: Marc Tessensohn/Bundeswehr)