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Brüssel (Belgien)/Strasbourg (Frankreich). Die Botschaft aus dem französischen Strasbourg – Sitz des Europäischen Parlaments, des Europarats und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – ist überdeutlich: „Die Kriegstreiber im Kreml müssen auf die Anklagebank, denn ohne Gerechtigkeit kann es keinen Frieden geben“. Die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten des Europaparlaments ist überzeugt davon, dass in naher Zukunft ein Sondertribunal dafür sorgen soll, dass die politische und militärische Führung in Moskau zur Rechenschaft gezogen wird – Präsident Wladimir Putin inklusive. Auch um das Regime des belarussischen Staatschefs Alexander Lukaschenko solle sich ein derartiges Tribunal kümmern.

In einer am vergangenen Donnerstag (19. Januar) mit 472 gegen 19 Stimmen bei 33 Enthaltungen angenommenen Entschließung erklärt nun das Europäische Parlament, dass an den aus Butscha, Irpin und vielen anderen ukrainischen Städten gemeldeten Gräueltaten der Streitkräfte Russlands die Brutalität des Angriffskriegs der Russischen Föderation gegen die Ukraine greifbar werde. Außerdem werde dadurch „die Bedeutung koordinierter internationaler Maßnahmen zur Feststellung der Verantwortlichkeit für das Verbrechen der Aggression und für alle Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht“ klar hervorgehoben.

Die Abgeordneten fordern die EU auf, in enger Zusammenarbeit mit der Ukraine und der Internationalen Gemeinschaft auf die Einrichtung eines Internationalen Sondergerichtshofs zu drängen, „der das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine, das von der politischen und militärischen Führung der Russischen Föderation und ihren Verbündeten begangen wurde, strafrechtlich verfolgt“.

Die große Lücke im institutionellen Gefüge internationaler Strafjustiz schließen

Die Einrichtung eines solchen Gerichtshofs würde nach Ansicht der EU-Abgeordneten die „große Lücke im derzeitigen institutionellen Gefüge der internationalen Strafjustiz“ schließen und die Ermittlungsbemühungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ergänzen, da das Verbrechen der Aggression in Bezug auf die Ukraine nicht unter dessen Gerichtsbarkeit fällt.

Die Abgeordneten weisen darauf hin, dass die genaue Zusammensetzung und die Arbeitsweise eines Sondergerichtshofs noch festzulegen seien. Sie betonen jedoch, dass dem Sondergerichtshof die Zuständigkeit übertragen werden müsse, nicht nur gegen Putin und die politische und militärische Führung der Russischen Föderation zu ermitteln, sondern auch gegen Lukaschenko und die politische und militärische Führung in Belarus.

Rückkehr Moskaus zu normalen West-Beziehungen nur noch schwer möglich

Die Parlamentarier unterstreichen zudem, dass die Vorbereitungsarbeiten im Hinblick auf die Einrichtung einer solchen Institution „unverzüglich beginnen sollten und in Zusammenarbeit mit der Ukraine vorrangig die Regelungen für den Sondergerichtshof festgelegt und die ukrainischen und internationalen Behörden dabei unterstützt werden sollten, Beweismittel für die spätere Verwendung vor dem künftigen Sondergerichtshof zu sichern“.

In der Entschließung heißt es dann: [Das Parlament] „ist der festen Überzeugung, dass durch die Einrichtung dieses Sondergerichtshofs für das Verbrechen der Aggression ein sehr klares Signal sowohl an die Gesellschaft in Russland als auch an die Internationale Gemeinschaft gesendet würde, dass Putin und die politische und militärische Führung Russlands für das in der Ukraine begangene Verbrechen der Aggression verurteilt werden können.“ Es sei für die Russische Föderation unter Putins Führung nicht mehr möglich, mit dem Westen zum „Business as usual“ zurückzukehren.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock will ebenfalls ein Sondertribunal

In seinem Onlinebeitrag „Kriegsverbrechen in der Ukraine: EU-Parlament für Sondertribunal“ am 19. Januar für die Tagesschau wies Brüssel-Korrespondent Stepan Ueberbach noch einmal auf die aktuelle juristische Lage hin. Für das Verfolgen von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gebe es mit dem Internationalen Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag zwar schon ein Gericht. Ermittlungen gegen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine seien aktuell aber so gut wie unmöglich, weil Moskau die Rechtsgrundlage für das Gericht nicht unterschrieben habe, so der ARD-Journalist

Ein Sondertribunal könnte diese Lücke im Völkerrecht schließen, glaubt der deutsche Europapolitiker Sergey Lagodinsky. Mit dem promovierten Juristen, der seit der Europawahl 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments als Teil der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament (kurz Grüne/EFA) ist, hatte Ueberbach ebenfalls gesprochen. Lagodinsky erinnerte ihn daran, dass bereits eine Reihe von Staaten in Europa – darunter die baltischen Länder, Frankreich, die Niederlande und Polen – die Forderung nach einem neuen Gerichtshof unterstützten. Auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sei dafür. Baerbock hatte außerdem erst im Januar ein Tribunal unter ukrainischem Recht mit internationalen Richtern vorgeschlagen, wo Russlands Angriffskrieg zur Anklage gebracht werden solle.

„Welche Optionen gibt es für die Gerechtigkeit?“

Im Zusammenhang mit der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 werden nach wie vor unterschiedliche Optionen diskutiert, wie die militärische Aggression Moskaus juristisch aufgearbeitet und sanktioniert werden kann. Dabei nehmen – wie bereits dargestellt – Überlegungen über ein „Sondertribunal“ nach Vorbild der Nürnberger Prozesse eine wichtige Rolle ein. Welche Möglichkeiten würde solch ein Sondertribunal bieten und worin liegen die Herausforderungen der juristischen Sanktionierung?

Fragen wie diese will ein Beitrag der ukrainischen Völkerrechtlerin Dr. Oksana Senatorova beantworten. Die Bundeszentrale für Politische Bildung dokumentierte die Arbeit im Juli 2022 (in einer Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche) in ihrem Onlineauftritt. Der Text basiert auf einem Vortrag Senatorovas, den die Wissenschaftlerin am 6. Mai 2022 im Vilnius, der Hauptstadt Litauens, bei der internationalen Konferenz „Strafrechtliche Verantwortung für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine: Welche Optionen gibt es für Gerechtigkeit?“ gehalten hatte.

Senatorova ist Direktorin des Forschungszentrums für Transitional Justice (Research Center for Transitional Justice, RCTJ) und Associate Professorin an der Nationalen Juristischen Universität Jaroslav Mudryj in Charkiw/Ukraine. Sie hat seit dem Frühjahr 2022 eine Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa-Forschung (IOS) in Regensburg inne.

Wir haben die Analyse „Welche Rolle ein ,Sondertribunal zum Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine‘ für die Opfer des Krieges spielen könnte“ für Sie in unserem Servicebereich „bundeswehr-journal (Bibliothek)“ beim Dienstleister Yumpu-Publishing eingestellt. Sie können dort das Dokument ausdrucken. Über die ESC-Taste in Yumpu kommen Sie hierhin wieder zurück. Zu dem Senatorova-Beitrag:

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Redaktionelle ERGÄNZUNG

Mit dem Thema „Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine“ befasste sich vor Kurzem auch eine Anfrage der CDU-Bundestagsabgeordneten Silvia Breher. Die Unionspolitikerin (Wahlkreis Cloppenburg – Vechta) wollte wissen: „Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine im Hinblick auf die […] in der Presse [erschienenen] Berichte über die systematischen Kriegsverbrechen der Vergewaltigung von Frauen und Kindern als Kriegswaffe sowie der Verschleppung ukrainischer Kinder in russische Gebiete?“ Und: „Welche konkreten Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, um diese Kriegsverbrechen zu dokumentieren, zu verhindern und aufzuarbeiten?“

Am 21. Februar antwortete dazu umfassend die Staatssekretärin des Auswärtigen Amtes Susanne Baumann. Sie teilte der Fragestellerin mit: „Es liegen zahlreiche Berichte verschiedener internationaler Organisationen und Nichtregierungsorganisationen über durch russische Streitkräfte (oder mit diesen verbundenen bewaffneten Gruppierungen) in der Ukraine begangene schwere und systematische Verletzungen des humanitären Völkerrechts und Kriegsverbrechen vor. Dies betrifft insbesondere auch konfliktbezogene sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt.“

Baumann bezieht sich im Verlauf ihrer weiteren Antwort dann zunächst auf die Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen (VN) zu sexueller Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, eine Juristin aus Mauritius. Die Staatssekretärin schreibt: „Nach Einschätzung der VN-Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen vom Oktober 2022 folgen Vergewaltigungen durch russische Soldaten einer militärischen Strategie.“ Neben der Unterstützung der Opfer sei aus Sicht der Bundesregierung deshalb die Verfolgung und Bestrafung solcher Verbrechen von höchster Bedeutung. Die Regierung unterstütze daher auch die Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs, die mutmaßliche Kriegsverbrechen und insbesondere auch die Verschleppung ukrainischer Kinder zum Gegenstand hätten.

Baumann wies zugleich darauf hin, dass der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof am 8. März vergangenen Jahres ein Strukturermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Begehung von Kriegsverbrechen […] mit dem Ziel eingeleitet habe, Beweise zu sammeln und mögliche Täter zu identifizieren.

Darüber hinaus unterstütze Deutschland die ukrainischen Behörden bei der Dokumentation und Aufklärung konfliktbezogener sexualisierter Gewaltverbrechen. Die Staatssekretärin erklärte: „An das ukrainische Innenministerium wurden seit Beginn des russischen Angriffskrieges DNA-Analysegeräte und weitere forensische Ausrüstung im Wert von mehreren Millionen Euro geliefert.“

Weiterhin fördere Deutschland ein dreijähriges Vorhaben der „International Commission on Missing Persons“ (ICMP) mit insgesamt 7,6 Millionen Euro mit dem Ziel, in Kooperation mit den ukrainischen Behörden das Schicksal in Folge des russischen Angriffskrieges vermisster Personen aufklären zu können. „Es soll Angehörigen Gewissheit über das Schicksal gestorbener, entführter oder aus anderen Gründen vermisster Personen verschaffen und einen Beitrag zu laufenden Prozessen der Strafverfolgung leisten“, so Baumann.

Deutschland fördere zudem das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office for Democratic Institutions and Human Rights, ODIHR), welches schwere Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht und Menschenrechte – etwa den Einsatz konfliktbezogener sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe – dokumentiert. Darüber hinaus führte Baumann auf: „Weitere Unterstützung erhalten die OHCHR Human Rights Monitoring Mission in der Ukraine sowie die VN-Sonderbeauftragte zu sexueller Gewalt in Konflikten. Im Rahmen des Gesamtansatzes der Vereinten Nationen ,Strengthening prevention and response to conflict-related sexual violence in Ukraine‘ sollen damit die Stärkung von Rechtstaatlichkeit und Rechenschaft für konfliktbezogene sexualisierte Gewalt in enger Zusammenarbeit mit ukrainischen Strafverfolgungsstellen unterstützt werden.“

Abschließend wies die Vertreterin des Auswärtigen Amtes noch auf folgende schwere Straftaten hin: „Es liegen Berichte vor, wonach zahlreiche ukrainische Kinder aus durch Russland besetzten Gebieten der Ukraine nach Russland verbracht wurden.“ Bundesaußenministerin Annalena Baerbock habe am 16. Januar dieses Jahres in Den Haag diese Kindesentführungen scharf verurteilt, so Baumann weiter. Im Rahmen einer gemeinsamen Initiative mit den Niederlanden und anderen internationalen Partnern werde sich Deutschland für die Aufklärung dieser Vorgänge und die Rückführung verschleppter ukrainischer Kinder zu ihren Familien einsetzen.


Unser Symbolbild „Russlands Kriegsverbrechen in der Ukraine“ entstammt als Screenshot dem Video „Gräueltaten in der Ukraine: Welche Folgen?“. Der Beitrag war am 5. April 2022 vom ARD-Mittagsmagazin erstmals ausgestrahlt worden.
(Bildschirmfoto: Quelle ARD-Mittagsmagazin; Bildbearbeitung: mediakompakt)

Kleines Beitragsbild: Die Europaflagge und Fahnen der Ukraine vor dem EU-Parlament im französischen Strasbourg erinnern an den brutalen Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022. Der zunächst als „militärische Spezialoperation“ getarnte Krieg gegen das Nachbarland dauert nun bereits ein Jahr. Die Europäische Union hisste die Flaggen zum Jahrestag des Überfalls am 23. Februar 2023.
(Foto: Presse Europaparlament)


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