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Berlin/Osnabrück. Deutschland entwickelt eine Nationale Sicherheitsstrategie, die sowohl nach innen als auch gegenüber internationalen Partnern – vor dem Hintergrund der aktuellen und erwartbaren schwierigen Sicherheitslage – mehr Orientierung bieten soll. Die Vorlage einer für Deutschland „erstmaligen und umfassenden nationalen Sicherheitsstrategie“ haben die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag verabredet. Die Nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands soll unter Federführung des Auswärtigen Amtes erstellt werden. Im März 2022 erfolgte dazu mit einer programmatischen Rede von Außenministerin Annalena Baerbock der Startschuss für den (geplanten einjährigen) Entwicklungsprozess. Mittlerweile befürchten Kritiker wie der Sicherheitsexperte Ulrich Schlie allerdings, dass das Papier nicht nur mit großer Verspätung fertig werden, sondern inhaltlich auch verwässert werden könnte …

Die Bundesregierung sucht bei der Erstellung der Strategie den Austausch mit dem Bundestag, mit Wissenschaftlern, Thinktanks, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen (NROs/NGOs), der Gesellschaft sowie mit Verbündeten und Partnern.

Die Sicherheit Deutschlands beruht auf einer starken Nordatlantischen Allianz sowie einer geeinten Europäischen Union. Mit dem Strategischen Kompass der EU und dem Strategischen Konzept der NATO haben beide Allianzen bereits neue essenzielle Grundlagendokumente beschlossen.

Die erste Nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands soll „umfassend“ geplant und entwickelt werden. Es wird dabei ein breiter Sicherheitsbegriff zugrunde gelegt. Die Strategie soll zudem ein Dachdokument werden, aus dem sich andere Strategien ableiten lassen und das auf bestehende Dokumente Bezug nimmt. Bislang waren deutsche Sicherheitsinteressen im sogenannten „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr“ aufgeschrieben – zuletzt neu aufgelegt im Juli 2016 von der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU).

Über Deutschlands künftige Rolle in der NATO

Jetzt hat sich der Sicherheitsexperte und Strategieforscher Ulrich Schlie zum Thema „Nationale Sicherheitsstrategie“ geäußert. Er mahnte die erst vor Kurzem von der Bundesregierung vertagte Strategiefindung an und warnte vor einer inhaltlichen Verwässerung des Projekts.

Der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) sagte Schlie für die gestrige Ausgabe (28. Mai): „Wir brauchen dringend eine Strategie. Und wir müssen in unserer Sicherheitspolitik auch dringend etwas ändern.“ Jeder Satz in der geplanten Nationalen Sicherheitsstrategie müsse „klar sein und sitzen“. Darin müsste etwa bestimmt werden, welche Rolle Deutschland künftig in der NATO übernehmen will. Oder welche Position es in der Taiwan-Frage vertreten will. Nicht zuletzt müssten sicherheitspolitische Abstimmungsprozesse für den Katastrophenfall klar geregelt sein. „Zu so einer Katastrophe wie im Ahrtal 2021 darf es nie wieder kommen; in so einem Fall muss sofort ein klar abgestimmtes Handeln einsetzen,“ forderte Schlie.

Offensichtlich kein Plan für künftige Krisensituationen

Die Beratung der Nationalen Sicherheitsstrategie im Bundeskabinett war zuletzt noch einmal vertagt worden. Schlie befürchtet nun, dass das Papier nicht nur verzögert, sondern auch inhaltlich unklar werden könnte. Er warnte gegenüber der NOZ: „Das wäre eine verpasste Chance in einer Zeit, in der wir uns das Verpassen von Chancen nicht leisten können. Wir machen eine komplett neue Politik, liefern in großem Umfang Waffen in Kriegsgebiete, aber haben keinen Plan, wie wir uns künftig in ähnlichen Situationen verhalten wollen. Würden wir dann künftig auch in gleicher Weise Länder wie Moldau oder Länder im arabischen Raum unterstützen?“

Schlie hat an der Universität Bonn den einzigen Lehrstuhl Deutschlands für Strategieforschung in der Außen- und Sicherheitspolitik inne.

Redaktioneller NACHBRENNER I

Die von der Bundesregierung angekündigte Unterrichtung zum Vorhaben „Nationale Sicherheitsstrategie“ steht am 15. Juni 2023 auf der Tagesordnung des Bundestages. An diesem Donnerstag soll nach knapp 70-minütiger Debatte die Regierungsvorlage an den federführenden Auswärtigen Ausschuss zur weiteren Beratung überwiesen werden.


Kompakt                           

Prof. Dr. Ulrich Schlie ist Direktor des Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS), einem interdisziplinären Forschungszentrum der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Bereich der strategischen Außen-, Europa- und sicherheitspolitischen Forschung. Er ist zudem Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie (IPWS) der Bonner Universität.

Nach einem Studium der Mittelalterlichen und Neueren Geschichte, der Politikwissenschaft und der Romanistik an der Universität Bonn war Schlie von 1991 bis 1993 bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen/Isar tätig. Anschließend trat er als Angehöriger des 48. Attaché-Lehrgangs in den Auswärtigen Dienst ein, den er 2020 verließ. In dieser Zeit war er von 2005 bis 2012 Leiter des Planungsstabes des Bundesministers der Verteidigung sowie von 2012 bis 2014 Politischer Direktor im Bundesministerium der Verteidigung in Berlin.

Ulrich Schlie habilitierte sich im Februar 2020 mit einer Arbeit „zum strategischen Wandel der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland seit 1949“ an der Andrássy Universität Budapest. 1992 wurde er an der Universität Bonn mit einer Arbeit über „Geheimgespräche mit dem Gegner. Die Westmächte und die Friedensfrage im Zweiten Weltkrieg“ promoviert.

Schlie war unter anderem Professor of Practice an der Tufts University (Medford, Massachusetts/USA), Fellow am Weatherhead Center der Harvard University (Cambridge, Massachusetts/USA), Visiting Fellow am NATO Defence College (Rom/Italien), Visiting Scholar an der University of Cambridge (Großbritannien) und schließlich Professeur associé als Inhaber des Alfred Grosser-Lehrstuhls am Institut d’Études Politiques de Paris/Sciences Po sowie Inhaber des Lehrstuhls für Diplomatie II an der Andrássy Universität Budapest (Ungarn).


Das Porträt zeigt Ulrich Schlie.
(Foto: CASSIS)

Kleines Beitragsbild: Unser Symbolbild zur „Nationalen Sicherheitsstrategie“ zeigt den Bundesadler im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, beleuchtet von der tiefstehenden Abendsonne.
(Foto: Thomas Trutschel/photothek/Deutscher Bundestag)


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