Berlin. Auch in diesem Jahr marschierten sie wieder, rund 150 aktive Bundeswehrangehörige und Reservisten, von Brandenburg bis ins Zentrum Berlins. Ein „Marsch zum Gedenken“ an die Toten der deutschen Streitkräfte – Kameradinnen und Kameraden, die in Auslandseinsätzen und anerkannten Missionen ihr Leben ließen oder im Dienst verstarben. Der Gedenkmarsch, den es seit 2018 gibt, ist 116 Kilometer lang mit zusätzlichen 3600 Metern. 116 Personen sind in mandatierten Einsätzen und anerkannten Missionen der Bundeswehr ums Leben gekommen. 3600 Meter werden zusätzlich bewältigt, um die 3600 im Dienst Verstorbenen zu ehren.
Marcel Bohnert, Jahrgang 1979, ist Oberstleutnant im Generalstabsdienst der Bundeswehr und Stellvertretender Bundesvorsitzender des Deutschen Bundeswehr-Verbandes (DBwV). Oberstleutnant i.G. Bohnert ist seit 1997 Soldat. Er hat sich früh entschieden, den Dienst in der Bundeswehr zu seinem Beruf zu machen. Der Heeresoffizier ist nicht nur ein Veteran, der im Kosovo, in Afghanistan und zuletzt im Irak gedient hat. Er ist auch engagierter Autor wehr- und sicherheitspolitischer Beiträge. Bisher hat Bohnert mehr als einhundert Aufsätze zu militärischen Fragen verfasst, die beispielsweise im SPIEGEL, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie in Fachperiodika wie der Österreichischen Militärischen Zeitschrift oder der Europäischen Sicherheit & Technik veröffentlicht wurden. Zu seinen vieldiskutierten Schriften zählen unter anderem „Innere Führung auf dem Prüfstand“ und „Armee im Aufbruch“.
Bohnert, der im DBwV-Bundesvorstand auch für Veteranenfragen zuständig ist, hat am „Marsch zum Gedenken 2023“ teilgenommen. In seinem nachfolgenden Gastbeitrag berichtet er – mit Blick auf sein Herzensanliegen „Ein Tag für die Veteranen der Bundeswehr“ – auch von dieser Veranstaltung. Das Land brauche den „Veteranentag“, sagt er. „Und alle, die diesem Land treu gedient haben und treu dienen.“ Offiziellen Schätzungen zufolge dürfte es in Deutschland gut zehn Millionen Veteranen geben – Männer und Frauen, die als Soldaten und Soldatinnen im aktiven Dienst der Bundeswehr stehen oder aus diesem Dienstverhältnis ehrenhaft ausgeschieden sind.
Marcel Bohnert – „Zeit für einen Veteranentag!“: Da standen sie nun im Regen, 150 Soldatinnen und Soldaten auf der Reichstagswiese. In durchgeschwitzten Feldanzügen blickten sie mit stolzen und abgekämpften Gesichtern auf den Sitz unseres Parlamentes. 120 Kilometer Fußmarsch steckten ihnen in den Knochen. Sie waren vier Tage lang für die Toten und Gefallenen der Bundeswehr marschiert. Von Brandenburg ins Zentrum Berlins. Einer von ihnen ist der Bruder von Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein, der 2011 in der afghanischen Provinz Tachar starb. Ein Selbstmordattentäter hatte auf einer Sicherheitskonferenz einen Sprengsatz gezündet.
In den Reihen der angetretenen Soldaten fallen einige Personen in ziviler Kleidung auf. Zum Beispiel der Vater von Hauptmann Markus Matthes, den 2011 eine Sprengfalle auf einer Patrouille in Kunduz zerfetzte. Oder die Mutter von Oberfeldwebel Florian Pauli. Ihr Sohn starb in der afghanischen Provinz Baghlan, als sich 2010 ein Selbstmordattentäter an einem Außenposten in die Luft sprengte. Auch die Eltern von Oberstabsgefreitem Christoph Sauter sind vor Ort. Ihr Sohn war im letzten Jahr in einem Militärkonvoi unterwegs zu einem Truppenübungsplatz in Brandenburg. Ein ziviler Lkw drängte sein Fahrzeug ab und ließ es gegen einen Betonpfeiler prallen. Er und ein weiterer Soldat starben.
Die Hinterbliebenen haben inmitten der Antreteformation ihren Platz gefunden. Man merkt ihnen trotz ihrer schmerzlichen Verluste an, dass sie sich im Kreise der Marschteilnehmer aufgehoben fühlen. Sie gehören dazu.
Die Solidarität ist groß an diesem Tag. Zwischen den Soldaten und den Angehörigen der Toten und Gefallenen. Sie war auch während der vorangegangenen Marschtage groß: Die Bevölkerung hatte neugierig und interessiert auf die Truppe reagiert. Vor dem Reichstag applaudierten sogar einige Passanten. Und sie wird auch später an diesem Tage noch groß sein: Vorbei am Brandenburger Tor marschiert die Truppe zu einer Gedenkminute am Holocaust-Mahnmal und schließlich zu einem Abschlussappell, einer Trauerfeier und einem Empfang in das Bundesministerium der Verteidigung.
Die Bundeswehr bereitet den Ankömmlingen ein würdiges Willkommen. Ansonsten blieb man aber unter sich. Nur der Tagesspiegel und ein paar Lokalmedien hatten im sechsten Jahr über den „Marsch zum Gedenken“ berichtet. Und wer sich gar nicht hat blicken lassen, waren wieder einmal die Vertreterinnen und Vertreter der Politik.
Ähnlich auf sich gestellt müssen sich wohl die Afghanistan-Heimkehrer zwei Jahre zuvor am niedersächsischen Fliegerhorst in Wunstorf gefühlt haben. Dort verließ eine in Wüstentarn gekleidete Truppe abseits jeglicher politischer Repräsentanz ihren Transportflieger, um von einem Generalleutnant der Bundeswehr begrüßt zu werden. Damit sollten zwanzig Jahre Einsatz am Hindukusch enden. Die Entrüstung über dieses trostlose Bild entlud sich seinerzeit in den sozialen Medien, wo sich Veteranen und ihre Unterstützer in ungewöhnlicher Schärfe empörten. Es ging hier eben nicht nur um die gerade gelandeten 264 Kräfte, sondern um ein Symbol für zwei Jahrzehnte militärischen Engagements am Hindukusch.
Aus der Verteidigungspolitik wurde sich mehrfach für diese unsägliche Rückkehr entschuldigt. Parallel lief da bereits die Rückeroberung des Landes durch die Taliban. Knappe zwei Monate später, als die afghanische Hauptstadt Kabul schließlich überrannt wurde und Bundeswehrangehörige nach der Evakuierung von mehr als 5000 Menschen erneut heimkehrten, machte Politik vieles richtig: Flughafenempfang, späterer Appell, Zapfenstreich vor dem Reichstag.
Wie nachhaltig dieses Interesse an der Bundeswehr wirklich ist, lässt sich allerdings hinterfragen. Im Alltag wird den Männern und Frauen in Uniform oft gleichgültig, manchmal auch mit Ablehnung oder intellektueller Überheblichkeit begegnet. Die dunklen Erfahrungen des Nationalsozialismus’ wirken nach und haben hierzulande alles Militärische zu einem mühevollen Thema gemacht. Dabei ist die Bundeswehr heute eine der demokratischsten Armeen der Welt.
Noch zu Beginn der 1990er-Jahre hätte es wohl kaum jemand für möglich gehalten, dass deutsche Kräfte ihre Stiefel im Rahmen von NATO-, UN- oder EU-Missionen auf den Balkan, in den Mittleren Osten und in die Sahelzone setzen würden. Das Kapitel von Auslandseinsätzen im Rahmen des internationalen Krisenmanagements dauerte mehr als drei Jahrzehnte. Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Sudan, Kongo, Horn von Afrika, Mittelmeer oder Mali – binnen weniger Jahre fand sich die Bundeswehr in einer Situation wieder, in der sich zeitweise etwa 10.000 ihrer Angehörigen zeitgleich in weltweiten Missionen befunden haben.
Beim Heranreifen zur international agierenden Einsatzarmee haben Politik und Gesellschaft jedoch kaum Schritt halten können. Die idealisierte Vorstellung von bewaffneten Wiederaufbauhelfern wurde auch durch zunehmende Anschläge und Gefechte in Einsatzgebieten wie Afghanistan nicht nachhaltig erschüttert.
Heimkehrer strömten mit intensiven Erfahrungen zurück nach Deutschland, ohne dass ihnen eine besondere politische oder gesellschaftliche Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist. Hinterbliebene wurden allein gelassen, Traumatisierte in eine bürokratische Hölle geschickt. Auch deshalb berichten selbst belastete Veteranen immer wieder davon, dass sie die Zeit ihrer Einsätze vermissen. Gemeinsam durchlebte Strapazen, Kameradschaft, Teamgeist und Zusammenhalt – alles Dinge, die sie in der Heimat nicht finden konnten.
Unverändert kehrte ohnehin niemand aus seinen Auslandseinsätzen zurück. Intensive Erfahrungen lassen sich mit der Ankunft in Deutschland nicht einfach abschütteln. Sie hinterlassen oft nachhaltige Spuren und prägen die Sicht auf die Welt, die sozialen Beziehungen, manchmal auch den Charakter und das gesamte weitere Leben.
Der Stolz auf die eigene Bewährung und das Zerbrechen an bitteren Erfahrungen liegen dabei nah beieinander. Sie sind mitunter nur ein Erlebnis weit voneinander entfernt – ein Gefecht, eine Explosion, ein Blick in ein Massengrab. Um sie zu einem akzeptierten Teil des Daseins von belasteten Rückkehrern zu machen, braucht es Verständnis, Unterstützung, Reflexion und Zeit.
Um sich selbst zu helfen, haben sich Einsatzveteranen in Vereinen und Initiativen zusammengeschlossen und sind auf vielen Feldern aktiv geworden. Sie schaffen sich so seit Jahren eigene Traditionen und eine Identität. Die Ausprägungen dieser neuen deutschen Veteranenkultur zeigen sich inzwischen auf vielfältige Weise – bei Motorradgedenkfahrten, aufsehenerregenden Plakataktionen oder eben beim „Marsch zum Gedenken“. Fast alle Ideen gehen jedoch auf private Impulse zurück, die weder politisch initiiert noch gefördert werden. Dabei wäre genau das die Aufgabe der Politik: Sie ist Herrin der Parlamentsarmee und es obliegt ihr, Veteraninnen und Veteranen aktiv zu mehr Geltung zu verhelfen.
Zwischenzeitlich haben sich die wichtigsten Vertreter der deutschen Veteranenbewegung zusammengetan und ihre Forderungen synchronisiert. Eines ihrer wichtigsten Anliegen ist die Einführung eines jährlich wiederkehrenden Veteranentages. Ein solcher Tag gehört in vielen anderen Ländern zur gesellschaftlichen Kultur und bietet die Möglichkeit, Veteraninnen und Veteranen näher mit der Bevölkerung zusammenzubringen.
Als erstmaliger Termin wären beispielsweise der 9. oder 16. September 2023 geeignet – das Datum der Eröffnung beziehungsweise des Abschlusses der „Invictus Games“ in Düsseldorf. Dabei handelt es sich um eine durch Prinz Harry, Herzog von Sussex ins Leben gerufene paralympische Sportveranstaltung, die in diesem Jahr erstmals in Deutschland stattfindet.
Rund 500 verwundete, traumatisierte und verletzte Einsatzkräfte aus 22 Nationen werden sich in zehn Wettkampfdisziplinen miteinander messen. Als prominente Gäste aus dem politischen Raum haben sich der Bundespräsident, die Bundestagspräsidentin und der Bundesminister der Verteidigung angekündigt. Absehbar wird es wohl keine vergleichbare Fokussierung auf die Belastungen und Risiken des soldatischen Dienstes geben.
Durch den Konflikt an der europäischen Ostflanke ist derzeit vielen Menschen die Bedeutung eines wehrhaften Staates wieder gegenwärtig. Während die Auslandseinsätze der vergangenen Jahrzehnte weitgehend außerhalb der deutschen Lebensrealität stattgefunden haben, sind die Auswirkungen des Ukrainekrieges für die Einzelnen nun unmittelbar spürbar. Das hat in Teilen der Bevölkerung auch zu einem Umdenken im Umgang mit der Bundeswehr geführt. Trotz aller Tragik bietet dieses historische Momentum deshalb auch die Gelegenheit zu einer neuen Austarierung des Verhältnisses von Bundeswehr und Gesellschaft. Und damit auch zu einem neuen Umgang mit Veteraninnen und Veteranen.
Ein Veteranentag, öffentliche Zeremonielle oder die Förderung anderer militärischer Rituale können Heimkehrern dabei helfen, ihren Platz in der gesellschaftlichen Mitte wiederzufinden. Sie haben das Potenzial, die einander fremden Lebens- und Erfahrungswelten zusammenzubringen.
Neuere Studien des Potsdamer Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zeigen, dass es aktuell eine erstaunlich ausgeprägte gesellschaftliche Bereitschaft für die Anerkennung und Wertschätzung soldatischer Leistungen gibt. Die Politik muss es nur angehen. Und den Mut haben, offizielle Initiativen auch gegen mögliche Widerstände durchzusetzen.
Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich mittlerweile klar für die Einführung eines Veteranentags ausgesprochen. „Ich zeige mich da absolut offen“, sagte er dem ZDF am späten Samstagabend (9. September). Da die Bundeswehr eine Parlamentsarmee sei, sollte die Initiative dafür allerdings vom Bundestag ausgehen. Er könne sich vorstellen, „wenn man das richtig macht, ist das eine richtig gute Idee“.
Am Samstag hatte sich auch die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, Eva Högl, für einen solchen Tag starkgemacht. „Ich setze darauf, dass diese Debatte auch während der ,Invictus Games‘ an Fahrt gewinnt und werde dafür werben“, sagte sie der Rheinischen Post und dem Bonner General-Anzeiger.
Zu unserem Bildmaterial:
1. Die letzten Soldaten des deutschen Afghanistaneinsatzes gehen im Juni 2021 an Bord eines Airbus A400M Richtung Heimat. Auch sie sind nun Veteranen der Bundeswehr.
(Foto: Torsten Kraatz/Bundeswehr)
2. Die Teilnehmer am „Marsch zum Gedenken 2023“ im Zentrum Berlins – im Hintergrund die Siegessäule auf dem Großen Stern im Großen Tiergarten …
(Foto: DBwV)
3. … und das Brandenburger Tor auf dem Pariser Platz.
(Foto: DBwV)
4. Die internationale Veranstaltung „Invictus Games“ verbindet nach Ansicht von Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert zwei Elemente: „Mit dem sportlichen Wettkampf geht ein heilsamer Effekt für die einsatzversehrten Teilnehmer einher – aber darüber hinaus bedeutet auch das dort gelebte Miteinander von Zivilgesellschaft, Bundeswehr und Veteranen einen wichtigen Schritt für die Veteranenkultur in Deutschland.“ Unser Symbolbild, entstanden am 10. Mai 2016 bei den „Invictus Games“ in Orlando (US-Bundesstaat Florida), zeigt Stabsfeldwebel Manfred Faget (rechts) bei einem Laufwettbewerb.
(Foto: Sebastian Wilke/Bundeswehr)
5. Bohnert – erste Reihe mit grünem Barett – bei einer Veranstaltung des Deutschen Bundeswehr-Verbandes in Berlin zum Thema „Veteranentag“. Der Stellvertreter des Bundesvorsitzenden der Interessenvertretung wirbt für sein Herzensanliegen: „Ein Veteranentag, öffentliche Zeremonielle oder die Förderung anderer militärischer Rituale können Heimkehrern dabei helfen, ihren Platz in der gesellschaftlichen Mitte wiederzufinden.“
(Foto: DBwV)
6. Bohnert beim „Marsch zum Gedenken 2023“. In Kürze veröffentlicht der Heeresoffizier gemeinsam mit Julia Egleder, Redakteurin beim sicherheitspolitischen Magazin loyal des Reservistenverbandes, das Buch „Deutschlands Veteranen. (Über-)Leben nach dem Einsatz“. Das Buch erscheint bei Mittler/Maximilian Verlag GmbH & Co. KG.
(Foto: DBwV)
Kleines Beitragsbild: Symbolaufnahme „Bundeswehr-Abzug aus Afghanistan“.
(Foto: Torsten Kraatz/Bundeswehr)
Ein sehr guter Artikel, der die Situation treffend beschreibt.
„Landes- und Bundespolitiker ignorierten den Gedenkmarsch komplett“. Leider ist es so. Es verwundert aber nicht, wenn man sich die politische Jugendzeit unserer Spitzenpolitiker anschaut. Viele müssten zugeben, dass sie falsch gedacht und auch falsch gehandelt haben. Dazu bedarf es charakterlicher Größe. Diese ist nicht so oft anzutreffen. Vergesslichkeit, beispielsweise was die Zwei-Prozent-Quote betrifft, ist da schon eher bemerkbar.
Aus diesem Grund braucht es mehrere Artikel dieser Art – und es braucht selbstverständlich einen Veteranentag.