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Chişinău (Moldawien)/Odessa (Ukraine)/Berlin. Es war – wie die Deutsche Presse-Agentur schrieb – eine „Solidaritätsreise im Zeichen des Krieges“: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hielt sich am gestrigen Samstag (1. Oktober) in der ukrainischen Hafenstadt Odessa auf. Aus Sicherheitsgründen war die Stippvisite bis zum Abend geheim gehalten worden. Zuvor hatte die Ministerin die ukrainische Nachbarrepublik Moldau besucht und dort in der Hauptstadt Chişinău mit ihrem Amtskollegen Anatolie Nosatîi gesprochen. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach Berlin am Sonntagmittag um kurz vor 13 Uhr gab Lambrecht der ARD ein Interview.

Gemeinsam mit Olexij Resnikow, Verteidigungsminister der Ukraine, hatte sich Lambrecht in Odessa in Gesprächen mit Soldaten ein Bild von der aktuellen Lage vor Ort gemacht. Besonderes interessierte sie der von der Bundesregierung gelieferte Flugabwehrkanonenpanzer Gepard. Das System schützt die kritische Infrastruktur des Getreidehafens bei der Abwehr russischer Luftangriffe. Lambrecht traf auch auf die in Deutschland ausgebildete Besatzung und stellte anschließend fest: „Unser Gerät kommt an.“

Nach einem Besuch in einem Militärkrankenhaus, bei dem sie sich bei den Soldaten persönlich für ihren Einsatz bedankte, besichtigte die Verteidigungsministerin dann gemeinsam mit Gastgeber Resnikow Verteidigungsstellungen im Süden des Landes.

Unmittelbar nach ihrer Rückkehr und Landung auf dem Flughafen Berlin Brandenburg stellte sich die SPD-Politikerin den Fragen von Matthias Deiß, Stellvertretender Chefredakteur des Hauptstadtstudios der ARD. Nachfolgend – mit freundlicher Genehmigung der ARD – das Interview, das in der Sendung „Bericht aus Berlin“ ausgestrahlt worden ist (wir haben den gelieferten Manuskripttext leicht überarbeitet) …

Putins Drohungen ernst nehmen, sich jedoch davon nicht lähmen lassen

Matthias Deiß, ARD-Hauptstadtstudio: Frau Lambrecht, auch Sie haben Putins Drohungen vernommen. Und in Selenskyjs Umfeld hieß es am Wochenende, die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes sei wahrscheinlicher geworden. Teilen Sie diese Analyse?
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht: Putin hat erleben müssen, dass er sowohl politisch als auch militärisch geschwächt ist. Und deswegen sind solche Drohungen sehr wohl äußerst ernst zu nehmen, absolut. Man darf sich aber davon nicht lähmen lassen. Und deswegen ist unsere Position klar: Wir werden die Ukraine auch weiter unterstützen und uns von solchen Drohungen in unserer Unterstützung nicht abhalten lassen.

Aber das ist ja ein Zwiespalt – auf der einen Seite eine Drohung ernst zu nehmen und auf der anderen Seite das zu tun, was Sie gerade sagen: sich nicht lähmen zu lassen. Wie sehen Sie diesen Zwiespalt?
Lambrecht: Wir beobachten sehr genau, wie Russland sich jetzt verhält, welche Vorbereitungen eventuell getroffen werden, denn solche Schläge bedürfen natürlich bestimmter Voraussetzungen. Deswegen sind wir da sehr genau dran und verfolgen, was passiert, um dann darauf auch eingestellt und vorbereitet zu sein.

Frau Lambrecht, die Bundesregierung tut ja alles, um zu verhindern, dass Deutschland, dass die EU, aber auch dass die NATO in dieser Auseinandersetzung zur direkten Kriegspartei werden. Jetzt sagt jedoch Ihr Kabinettskollege Karl Lauterbach am Wochenende: „Wir sind im Krieg mit Putin“ – Zitat. War das ein Ausrutscher? Oder ist das auch die Ihre Position und die der gesamten Bundesregierung?
Lambrecht: Es ist ganz klar – sowohl für die deutsche Bundesregierung als auch für die gesamte NATO: Wir werden keine Kriegspartei. Das hat uns von Anfang an geleitet. Und daran hat sich auch nichts geändert.

Gut vorbereitet sein im Falle von Angriffen auf die kritische Infrastruktur

Klare Aussage. Kommen wir mal zu den zerstören Pipelines in der Ostsee. Gibt es aus Ihrer Sicht, Frau Lambrecht, im Moment irgendwelche ernsthaften Anhaltspunkte, dass Russland dahintersteckt? Welche neuen Erkenntnisse haben Sie?
Lambrecht: Wir wissen oder wir gehen zumindest ziemlich gesichert davon aus, dass es sich um Sabotageakte handelt. Das hat mit der Größe der Lecks zu tun, aber auch mit der räumlichen Zuordnung. Darüber hinaus werten wir jetzt zusammen mit unseren Verbündeten natürlich auch Bewegungen in diesen Räumen aus, um eventuell Verantwortlichkeiten zuordnen zu können. Das ist jedoch äußerst schwer, weil sehr viele Bewegungen in diesem Bereich verzeichnet wurden und werden. Deswegen sind wir auch im engen Austausch sowohl mit den Dänen als auch mit den Schweden. Und wir werden auch mit Norwegen in den Austausch eintreten, um alle Informationen zusammenzutragen und – abhängig von diesen Informationen – dann auch zu klären, welche Schutzmöglichkeiten es gibt.

Also eine internationale Untersuchung. Wo läuft das denn zusammen? Welches Land und welche Behörden sollen diese Untersuchung am Ende leiten?
Lambrecht: Selbstverständlich sind alle Länder in dem, was sie an Informationen zusammentragen, selbstständig. Wir werten aus, was wir haben – über unsere Marine zum Beispiel. Das geben wir dann an Dänemark, an Schweden, an Norwegen und tauschen uns aus. Dies ist allerdings kein festes Format. Aber ich kann Ihnen sagen: Es gibt sehr genaue und sehr konkrete Abstimmungen in diesem Bereich.

Frau Ministerin, Sie haben gerade von Sabotage gesprochen – möglicher Sabotage. Man könnte ja auch die Position vertreten: Das war ein Anschlag auf unsere Infrastruktur – und damit auch auf die Bundesrepublik Deutschland. Der Bundesjustizminister argumentiert heute in eine ähnliche Richtung. Was sagen Sie? Ist der Angriff auf diese Pipelines nicht am Ende ein Fall für den Generalbundesanwalt?
Lambrecht: Dieser Fall zeigt auf jeden Fall klar, wie sensibel wir umgehen müssen mit der kritischen Infrastruktur im Bereich der Pipelines – aber auch darüber hinaus. Das ist jetzt das Gebot der Stunde: alles zu ermöglichen, damit wir gut vorbereitet sind, falls es zu solchen Angriffen kommen sollte. Deswegen bringen uns jetzt juristische Bewertungen auch nicht weiter. Sondern wichtig ist nun, dass wir dafür sorgen, in Bezug auf unsere kritische Infrastruktur insgesamt gut vorbereitet zu sein.

Deutschland liefert in Kürze das Abwehrsystem „Iris-T“ an die Ukraine

Frau Ministerin, es hat während Ihres Aufenthaltes vor Ort [in Odessa] mehrfach Luftalarm gegeben. Das erleben die Ukrainer jeden Tag. Sie mussten dann in den Luftschutzbunker. Was haben Sie gedacht, als Sie dort saßen?
Lambrecht: Wir haben in wenigen Stunden zweimal einen Luftalarm erlebt und mussten in einen Bunker verlegen. Für die Menschen in großen Teilen der Ukraine ist das die Realität, ist das Alltag. Das zeigt auch, wie sehr sie gequält, wie sehr sie beschränkt werden und wie sehr sie belastet werden. Und stellen Sie sich vor, was das für Kinder, für ältere Menschen bedeutet – ständig dieser Angst, dieser Bedrohung ausgesetzt zu sein, dass es jederzeit zu dieser schrecklichen Situation kommen kann. Deswegen ist es so wichtig, die Ukraine jetzt gerade bei der Luftverteidigung zu unterstützen, damit diesen Angriffen etwas entgegengesetzt werden kann. Und deswegen war es mir auch wichtig, meinem Amtskollegen jetzt mitzuteilen, dass das System „Iris-T“ in den nächsten Tagen geliefert wird – und dass wir uns aber auch bei der Drohnenbekämpfung noch weiter engagieren wollen. Auch da wird es Lieferungen geben. Die Luftverteidigung ist mittlerweile zentral in den Fokus gerückt – Deutschland wird hier an der Seite der Ukraine stehen.

Was dann doch überrascht hat: Sie haben zwar mit „Iris-T“ vorgezogene Lieferungen angekündigt, aber keine neuen oder weiteren Lieferungen. Das hat überrascht. Bleibt das so?
Lambrecht: Es wird jetzt ganz schnell zu dieser Lieferung kommen – und nicht nur „Iris-T“, sondern auch Panzerhaubitzen, Mehrfachraketenwerfer. Wir werden uns noch in vielfältiger Weise engagieren und auch wieder – so wie bisher auch schon – mit Partnern zusammen. Beispielsweise sollen in der Slowakei 16 Systeme der Radpanzerhaubitze „Zuzana“ – gemeinsam finanziert von Dänemark, Norwegen und Deutschland – produziert und im nächsten Jahr an die Ukraine ausgeliefert werden. Das alles zeigt, wie wichtig es ist, immer wieder mit seinen Partnern zusammen derartige Möglichkeiten auszuloten, aber dann auch gemeinsam umzusetzen. (Anm.: Laut Handelsblatt ist die „Zuzana“-Haubitze „das Vorzeigeprodukt der slowakischen Verteidigungsindustrie und das einzige im Land produzierte schwere Waffensystem“. Die Haubitze könne – so die täglich erscheinende Wirtschafts- und Finanzzeitung – alle Arten von NATO-Munition des Kalibers 155 Millimeter verschießen. Das Bundesministerium der Verteidigung beziffere den Gesamtwert der Beschaffung auf 92 Millionen Euro, die drei genannten Länder würden sich zu gleichen Teilen an den Kosten beteiligen.)

Das sind also weitere Haubitzen, die Sie jetzt verkünden. Die Ukraine – und das wissen Sie – wünscht sich aber auch unbedingt Marder- und Leopard-Panzer. Sie lehnen das ja weiter ab. Warum eigentlich, wenn Sie jetzt auch vor Ort gesehen haben, wie groß die Not ist?
Lambrecht: Wir haben dafür gesorgt, dass die Ukraine über den Ringtausch jetzt schnell mit etwa 100 Panzern beliefert werden kann. Und vor allen Dingen: Dies sind Panzer, mit denen sofort gekämpft werden kann, wofür es keiner aufwändigen Ausbildung mehr bedarf und wo auch im Falle einer Instandsetzung die nötigen Ersatzteile da sind. Das ist jetzt – wie gesagt – schnell über den Ringtausch machbar. Wir helfen den Ländern, die diese Abgaben machen – beispielsweise Griechenland oder der Slowakei – diese Lücken zu schließen. Deswegen: Es geht darum, jetzt schnell zu helfen. Und das ist über die Panzerlieferungen, über den Ringtausch möglich.

Das heißt, Frau Lambrecht, noch mal nachgefragt: Die Weigerung der Bunderepublik, schwere Kampfpanzer – also vor allen Dingen Leopard 2 – zu liefern, ist für Sie nicht Teil der Lähmung, die Sie auf der anderen Seite ja unbedingt verhindern wollen?
Lambrecht: Uns geht es darum, die Ukraine rasch zu unterstützen, rasch zu liefern, dafür zu sorgen, dass sie sofort kämpfen kann. Das ist – ich wiederhole mich – über die Panzer, über den Ringtausch möglich. Das ist eine ganz klare Ansage, dass wir da helfen. Genauso wie über ein System „Iris-T“ oder jetzt auch wieder mit den Partnern zusammen, dass wir Radhaubitzen organisieren. Darum geht es jetzt: schnell zu helfen. Und wir werden immer in der Abstimmung mit unseren Partnern agieren, immer in der Abstimmung mit unseren Partnern entscheiden, so wie wir das bisher gemacht haben. So wird es auch in Zukunft sein.

Russische Armee nach dem Fall von Lyman offenbar „extrem geschwächt“

Frau Ministerin, Sie haben sich ja vor Ort auch lange mit dem ukrainischen Verteidigungsminister ausgetauscht. Womit rechnen Sie denn jetzt nach der Eroberung der Stadt Lyman als nächstes? Und was sind die strategischen Ziele der Ukraine bis zum Winter?
Lambrecht: Der Fall von Lyman war und ist erneut ein riesiger Erfolg für die ukrainischen Streitkräfte. Und das ist besonders wichtig gewesen, denn diese Stadt war ein Umschlagplatz zur Versorgung der russischen Armee. Durch den Verlust von Lyman sind die russischen Truppen in der Ukraine extrem geschwächt. Also: Wieder einmal hat die ukrainische Armee gezeigt, wie gut und vor allen Dingen wie mutig sie kämpfen kann – ganz hervorragende Ausgangssituation. Es darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser großartige militärische Erfolg noch lange kein Wendepunkt im Ukraine-Krieg ist. Kiew muss weiter unterstützt werden. Und deswegen ist es auch so wichtig, ukrainische Soldaten auszubilden – auch und gerade für die Zukunft. Leider müssen wir damit rechnen, dass dieser Krieg noch Wochen und Monate dauert. Schon deswegen ist es so wichtig, dass die ukrainische Armee nicht nur gut ausgerüstet, sondern auch ausgebildet wird. Auch darüber habe ich mich intensiv mit meinem Kollegen Olexij Resnikow ausgetauscht. Wir haben bereits viel an Ausbildung gemacht. Ich erinnere nur an die Geparden-Ausbildung – oder auch an der Panzerhaubitze, am Mehrfachraketenwerfer. Nun haben wir noch weitere Angebote gemacht, damit so auch weitergekämpft werden kann.

Frau Lambrecht, bitte um eine kurze Antwort: Abschließend, nach Ihrem Besuch in der Ukraine – was ist eine neue Erkenntnis, die Sie selbst vor Ort gewonnen haben?
Lambrecht: Wenn Sie mit Menschen im Militärkrankenhaus sprechen, die am eigenen Leibe erfahren haben, was ein brutaler Krieg bedeutet – das ist dann das, was sehr, sehr eindrücklich in meiner Erfahrung bleibt.


Zu unserem Bildmaterial: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht am 2. Oktober 2022 im Gespräch mit Matthias Deiß vom ARD-Hauptstadtstudio. Ihr Interview unmittelbar nach der Rückkehr aus der Ukraine wurde in der Sendung „Bericht aus Berlin“ direkt ausgestrahlt.
(Bildschirmfotos: Quelle ARD-Hauptstadtstudio mit dem „Bericht aus Berlin“ vom 2. Oktober 2022)


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