Berlin. Am Sonntag widmete das ARD-Hauptstadtstudio seinen „Bericht aus Berlin“ den Ereignissen in der Ukraine. Neben Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), der sich unter anderem zu den möglichen Auswirkungen der Russland-Sanktionen auf Deutschland äußerte, sprach Studioleiterin Tina Hassel auch mit Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD).
Lambrecht zeigte sich im ARD-„Bericht aus Berlin“ besorgt darüber, dass der russische Präsident Wladimir Putin seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt hat. Solche Ankündigungen seien ernst zu nehmen. Es werde auch in der NATO darüber zu sprechen sein, wie man darauf reagieren werde, ohne jetzt weiter eskalierend zu wirken. Es gehe jetzt auch darum, einen kühlen Kopf zu bewahren „in dieser sehr, sehr schwierigen Situation“.
Ein wichtiger Punkt in dem Gespräch zwischen Moderatorin Hassel und Ministerin Lambrecht war auch die von Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am Sonntag angekündigte Ausstattung der deutschen Streitkräfte mit einem „Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro“. Das zusätzliche Geld ist für Investitionen in Rüstungsprojekte vorgesehen, um eine „leistungsfähige, hochmoderne Bundeswehr“ zu schaffen.
Wir dokumentieren das komplette Interview nachfolgend mit Erlaubnis der ARD. An einigen Stellen haben wir den Text aus Verständnisgründen leicht redigiert. Auf die ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ und die von der ARD zuvor übertragene Sondersitzung des Bundestages zu den Ereignissen in der Ukraine hatten wir übrigens am Vorabend hingewiesen (siehe hier).
Tina Hassel: Wir erleben an diesem Wochenende eine Kehrtwende nach der anderen. Gestern Waffenlieferungen in die Ukraine. Heute sehr, sehr viel Geld für die Bundeswehr. Räumt die SPD-geführte Bundesregierung gerade viele Positionen? Oder anders gefragt: Kommt sie an, in der brutalen Wirklichkeit?
Christine Lambrecht: Wir haben in dieser Woche erleben müssen, was ein brutaler Angriffskrieg bedeutet. Und bis zu diesem Zeitpunkt haben wir alle Gesprächskanäle genutzt, um dieses nun entstandene unermessliche Leid zu verhindern. Aber es ist missglückt, weil Putin gelogen hat, betrogen hat, hinters Licht geführt hat und dann seinen Angriffskrieg begonnen hat. Darauf muss es nun auch die entsprechende Reaktion geben – und die Reaktion ist die, dass wir die Ukraine auch mit Waffenlieferungen unterstützen.
Aber noch am Freitag hat es im Verteidigungsausschuss geheißen, „das kommt viel zu spät – wir bekommen das Zeug gar nicht mehr dahin, weil Krieg ist“.
Lambrecht: Wir haben Kanäle und Möglichkeiten, jetzt das, was zugesagt ist – da geht es ja um Panzerfäuste, da geht es um Flugabwehrraketen, da geht es um Treibstoff – zu liefern. Und wir haben Kanäle, das auch noch in die Ukraine hinein zu liefern. Da gibt es Abstimmungen, die laufen. Das ist auf den Weg gebracht und das erreicht sein Ziel.
Aber da muss man sich fragen, warum hat man so lange gewartet?
Lambrecht: Wie gesagt, wir haben bis Mittwoch alle miteinander noch gehofft und – ja, manche mögen es naiv nennen – auch unmöglich Erscheinendes auf dem Weg des Dialogs versucht. Aber wir müssen erkennen, es kam alles völlig anders. Putin hat uns alle hinters Licht geführt. Und dann muss es auch die klare Antwort geben.
Jetzt hat – möglicherweise als Reaktion – Präsident Putin die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft gesetzt. Viele Menschen hierzulande und auch in Europa machen sich große Sorgen, in welcher Geschwindigkeit die Situation im Moment eskaliert. Gibt es denn noch überhaupt das Rote Telefon? Haben Sie noch irgendwelche Kanäle zum russischen Militär?
Lambrecht: Es ist sehr schwer, zu Putin einen Kanal offenzuhalten. Zu jemandem, der lügt und betrügt, der völlig unberechenbar ist. […] Aber nichts destotrotz sind seine Ankündigungen natürlich ernst zu nehmen. Wir beobachten [die Entwicklung] äußerst besorgt und es wird auch in der NATO darüber zu sprechen sein, wie man darauf reagiert. Allerdings: ohne jetzt weiter eskalierend zu wirken. Denn darum geht es jetzt auch: einen kühlen Kopf bewahren in dieser sehr schwierigen Situation.
Nun hat das NATO-Mitgliedsland Türkei gedroht, russische Kriegsschiffe nicht mehr durch den Bosporus zu lassen. Da lauert die nächste Eskalation. Also wie gefährlich ist das, was im Moment in immer schnellerer Frequenz geschieht?
Lambrecht: Die Eskalation geht sehr schnell vonstatten. Wir erleben, dass Putins martialischen Ankündigungen auch gleich Taten folgen. Und deswegen ist es gut, dass wir uns auch immer abstimmen in der NATO, gemeinsam reagieren – nicht einzeln, sondern wohl wissen, wie unser kollektives Vorgehen ist. Das ist momentan das Gebot der Stunde. Deeskalierend, ohne jedoch naiv und unvorbereitet zu sein …
Man hat das Gefühl, es brennt und der deutschen Feuerwehr fehlt es an Schläuchen und Wasser. Als ja gerade erst frisch im Amt verantwortliche Verteidigungsministerin: Wenn Sie auf diese runtergesparte Truppe gucken, wird Ihnen da nicht auch angst und bange?
Lambrecht: Es wird auf jeden Fall deutlich, dass sich etwas verändern muss. Und ich bin Kanzler Scholz sehr dankbar, dass er auch diese klare Ansage [in seiner Regierungserklärung] gemacht hat. Das gibt uns jetzt auch den Spielraum, den wir dringend brauchen, um für die Bundeswehr Beschaffungen vornehmen zu können, aber auch um Verträge eingehen zu können, langfristige Verträge eingehen zu können, die wir ansonsten gar nicht planen könnten. Aber natürlich geht es auch ums Beschaffungswesen. Da müssen wir vordringlich an das Vergaberecht ran. Also: Das Geld alleine ist sehr, sehr wichtig. Es ist ein ganz wichtiges Zeichen auch quasi als Anerkennung gegenüber dem, was die Bundeswehr leistet. Aber darüber hinaus sind weitere Maßnahmen erforderlich.
Genau darum geht es. Also sehr viel Geld, ja. Aber das hilft kurzfristig nicht, wegen zu viel Bürokratie bei der Beschaffung. Alle Ihre Vorgänger und Vorgängerin haben sich die Zähne ausgebissen an diesem Beschaffungswesen. Was wollen Sie denn besser, anders machen?
Lambrecht: Da ist noch viel Spielraum. Ich kann beispielsweise das Vergaberecht noch verändern. Wir haben das bereits jetzt schon, dass Vergabeverfahren nicht mehr so weit ausgelagert sein müssen, wenn es um die Einsatzfähigkeit geht. Das möchte ich ändern. Wenn es um die Landes- und um die Bündnisverteidigung geht, müssen wir beim Vergaberecht unbedingt Änderungen vornehmen. Ich habe deswegen heute auch direkt mit Bundesjustizminister Marco Buschmann, der ja für das Vergaberecht zuständig ist, darüber gesprochen. Da müssen wir ran. Wir müssen auch mehr Verantwortung in die Truppe delegieren, also auch da die Summen anheben, die direkt […] ausgegeben werden können. Das sind nur kleine Maßnahmen, aber sie werden helfen. Sie werden helfen, dass schnell dort auch etwas ankommt, wo es sein muss. […]
Aber selbst, wenn das klappen sollte, dass die Beschaffung beschleunigt wird, dann sind bei der Bestellung von Großgerät – beispielsweise von Flugzeugen oder von Hubschraubern – jahrelange Lieferzeiten zu erwarten …
Lambrecht: Wir haben uns ganz klar darauf verständigt und uns im Koalitionsvertrag auch dazu bekannt, dass wir beispielsweise weiterhin die Nukleare Teilhabe sicherstellen. Der Tornado, der das leistet, wird 2030 nicht mehr im Einsatz sein können. Deswegen ist es wichtig, jetzt die Nachfolge-Entscheidungen zu treffen. Jetzt auch die Kampfhubschrauber zu bestellen oder die Bewaffnung der Drohnen – auch darauf haben wir uns verständigt. Also da gibt es richtig viel zu tun.
Aber wir haben gerade [in unserem Beitrag] gehört: „Hoffentlich will die NATO nicht mehr von uns“, weil „unsere A-Besetzung mit der A-Ausrüstung bereits im Einsatz ist“. Und: „Vielmehr haben wir nicht“. Würden Sie das so sehen?
Lambrecht: Wir sind momentan nach den USA der zweitgrößte Truppensteller in Europa. Es geht hier nicht um 1000 Soldatinnen und Soldaten, sondern wir stellen etwa 14.000 Soldatinnen und Soldaten europaweit. Wir haben gerade die Kräfte in Litauen um 300 auf nun fast 1000 verstärkt. Wir werden eine Battlegroup unterstützen, wahrscheinlich auch führen. Wir sind beim Air Policing dabei und, und, und. Also wir sind ein verlässlicher Partner. Wir haben außerdem jetzt eine Fregatte und eine Korvette im Einsatz – auch das ist ein Beitrag, der sehr wesentlich ist für die NATO und der auch so wahrgenommen wird. Deswegen kann ich sagen: Da, wo wir Zusagen gemacht haben, da können wir diese auch erfüllen. Nun müssen wir besser werden. Jetzt müssen wir deutlich besser werden und uns in die Lage versetzen, die Landes- und Bündnisverteidigung auch wirklich durchführen zu können.
Genau und das sollte eigentlich seit acht Jahren schon laufen und hängt. Aber sehen wir uns jetzt diese ganz besondere Situation an. Die baltischen Staaten zum Beispiel sind sehr nervös, dass Putin auch sie angreifen könnte. Wie groß ist Ihre Sorge, dass er es nicht bei der Ukraine belässt oder andersrum gefragt, dass wirklich der Artikel 5 der NATO, der Beistandsfall, ausgelöst werden könnte?
Lambrecht: Wir haben keine konkreten Hinweise, dass es tatsächlich dazu kommt, dass Putin NATO-Gebiet oder NATO-Länder angreift. Aber das will nichts heißen. Wir haben ja erlebt, dass er Zusagen gemacht hat und Ankündigungen – deswegen müssen wir gut vorbereitet sein. Und wenn ich in Gesprächen bin mit meinen Kollegen auch vor Ort, wie jetzt gerade aktuell in Litauen, dann spürt man, dass dort Angst herrscht. Da müssen wir als Partner dann auch zeigen, dass wir der Abschreckung dienen. Das werden wir künftig auch noch mehr leisten – beispielsweise mit unseren Patriot-Systemen. Wir sind da an der Seite unserer Verbündeten.
Frau Ministerin, zwei konkrete Fragen mit auch einer konkreten Antwort. Der russische Präsident droht ja indirekt mit dem Einsatz von Atomwaffen. Muss der Westen jetzt auch sein Nuklear-Arsenal aufstocken?
Lambrecht: Also das ist eine Drohung und man muss ernst nehmen, was Putin sagt. Aber wir müssen uns auch mit kühlem Kopf jetzt darauf vorbereiten. Das werden wir jetzt in der NATO auch machen – uns abstimmen und entscheiden, wie wir darauf reagieren.
Und brauchen wir auf Dauer in dieser – ich sage jetzt mal, „ungemütlichen Welt“ – am Ende nicht doch wieder die Wehrpflicht zurück?
Lambrecht: Ich glaube nicht, dass die Wehrpflicht uns gerade in der aktuellen Diskussion jetzt wirklich weiterhilft. Das wäre eine große Reform. Es wären auch große rechtliche Fragen zu klären, was machen wir beispielsweise in Bezug auf Frauen, die davor noch nicht von der Wehrpflicht erfasst waren. Also ich glaube, wir haben momentan ganz andere große Herausforderungen, die es jetzt erst einmal zu bewältigen gilt. Die gegenwärtige Krisensituation ist ernst.
Ihre Vorgängerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, hat von einem „historischen Versagen“ gesprochen, weil wir – sagt sie – keine Vorkehrungen getroffen hatten, um Putin abzuhalten. Sehen Sie das auch so?
Lambrecht: Ich will jetzt nicht das Handeln von Frau Kramp-Karrenbauer bewerten. Aber ich glaube, wir haben Putin alle falsch eingeschätzt. Ja! Das müssen wir uns zurechnen lassen. Aber nichtsdestotrotz sind wir in der Lage, auch Abschreckung zu leisten. Darauf müssen wir jetzt setzen …
Das Bild zeigt Verteidigungsministerin Christine Lambrecht am 27. Februar 2022 in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“. Sie wurde von Moderatorin Tina Hassel interviewt.
(Videostandbild: Quelle „Bericht aus Berlin“/ARD-Hauptstadtstudio)
Kleines Beitragsbild: Schriftzug am Gebäude des ARD-Hauptstadtstudios in Berlin.
(Foto: nr)