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Göttingen/Berlin. „Lebendig hat man sie mitgenommen – lebendig wollen wir sie wieder“: Mit diesem Ruf erinnern immer wieder am 26. September in ganz Mexiko Menschen an die vor acht Jahren entführten und später vermutlich ermordeten 43 Studenten der Escuela Normal Rural „Raúl Isidro Burgos“, einer Hochschule in Ayotzinapa im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Die Studenten, die sich in ihrer Ausbildung zum Grundschullehrer befanden, wurden unter massiver Mitwirkung offizieller Sicherheitskräfte am 26. September 2014 im nahen Iguala gekidnappt. Danach verlor sich ihre Spur. Am morgigen Dienstag (30. August) erinnert der Internationale Tag der Verschwundenen wieder an die weltweite schreckliche Praxis, Menschen einfach auszulöschen – von einem auf den anderen Augenblick gibt es von ihnen kein einziges Lebenszeichen mehr …

Zum Internationalen Tag der Verschwundenen verweist die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) auf die weltweit zehntausende Opfer von Entführung und Mord. „Neben Kriminellen lassen vor allem autoritäre Regime Menschen verschwinden, die sich für die Rechte der ethnischen, religiösen oder sprachlichen Gruppe einsetzen, der sie selbst angehören“, weiß die 1970 gegründete Hilfsorganisation, die ihren Sitz in Göttingen hat.

Seit 1995 beispielsweise demonstrieren in verschiedenen Städten der Türkei die sogenannten „Samstagsmütter“. Sie fordern Aufklärung über das Schicksal ihrer Kinder, die der türkische Staat zwischen 1984 und 1999 verschwinden ließ. Heute gelten 17.000 Angehörige der kurdischen Volksgruppe in der Türkei als vermisst. Dazu Kamal Sido, Nahostexperte der GfbV: „Im Zuge der Annäherung an die EU wurde diese dunkle Seite der Türkei kurz öffentlich thematisiert.“ Aber: „Mit der Machtfestigung von Recep Tayyip Erdoğan nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 unterdrückt das Regime jede Forderung nach Aufklärung.“

Die türkische Armee und islamistischen Milizen praktizieren das Verschwindenlassen auch in Syrien. In von der Türkei besetzten Gebieten werden nach Angaben der Göttinger Organisation etwa 7000 Menschen vermisst, die meisten aus kurdischen Familien. „in den türkisch besetzten Gebieten herrscht totales Unrecht. Aus Angst, selbst getötet oder verschleppt zu werden, fragen die Familien nicht mehr nach ihren verschwundenen Kindern“, berichtet Sido.

Organisierte Verbrecherbanden kooperieren mit korrupten Staatsbediensteten

In Mexiko hat das Verschwindenlassen riesige Ausmaße angenommen. Rund 100.000 Fälle sind offiziell registriert – im Jahr 2011 waren es „lediglich“ etwa 5000. Die Dunkelziffer ist groß. Regina Sonk, GfbV-Referentin für indigene Völker, erklärt die Dimensionen: „Für diesen horrenden Anstieg sind organisierte Verbrecherbanden verantwortlich, die oft mit korrupten Staatsbediensteten kooperieren oder von ihnen geduldet werden. Zu deren Opfern gehören immer mehr Minderjährige. Einige sind erst zwölf Jahre alt.“

In ländlichen Gebieten geraten auch immer wieder Indigene ins Visier der Kartelle. Die Expertin ruft in Erinnerung: „2019 wurde die indigene Menschenrechtsaktivistin Obtilia Eugenio Manuel verschleppt. Anders als die meisten Opfer kam sie allerdings nach einigen Tagen wieder frei.“ Nur zwei bis sechs Prozent der Fälle von Verschwindenlassen führten zu einer strafrechtlichen Verfolgung, beklagt Sonk. Auch bei der internen Aufarbeitung von verwickelten Behörden und Militärs versagten staatliche Behörden regelmäßig und zumeist absichtlich.

Misshandlung, Vergewaltigung, Folter und Ermordung

In verschiedenen Ländern des afrikanischen Kontinents verschwinden ebenfalls regelmäßig Menschen. „Dafür sind nicht nur bewaffnete Gruppen wie Boko Haram und al-Shabaab verantwortlich, die mehrere Staaten terrorisieren. Auch die Sicherheitskräfte einiger Regierungen lassen Menschen verschwinden. Zivilpersonen sind also von verschiedenen Seiten gefährdet und sorgen sich um ihre verschwundenen Lieben“, berichtet Nadja Grossenbacher, GfbV-Referentin für Genozid-Prävention und Schutzverantwortung.

Die Gefahr, dass Opfer misshandelt, gefoltert, vergewaltigt oder ermordet werden, sei bei allen Tätergruppen groß, so Grossenbacher weiter. In Kenia werde beispielsweise neben der Anti-Terror-Einheit ATPU (ATPU = Anti-Terrorism Police Unit) auch die militarisierte staatliche Naturschutzbehörde Kenya Wildlife Service beschuldigt, Menschen verschwinden zu lassen. „In besonders konfliktgebeutelten Ländern wie Sudan oder Äthiopien wird das Problem massiv sein“, vermutet die GfbV-Mitarbeiterin.

Vor allem verschwinden Flüchtlinge, Journalisten und Aktivisten

Zum Internationalen Tag der Verschwundenen äußert sich unter anderem auch der Bundestagsabgeordnete Boris Mijatović (Bündnis 90/Die Grünen). Mijatović, Mitglied des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie Sprecher seiner Fraktion für Menschenrechtspolitik, erklärt: „Mehr als 100.000 Personen gelten allein in Mexiko als vermisst. Das zeigt: Gewaltsames Verschwindenlassen ist kein Verbrechen, das der Vergangenheit der lateinamerikanischen Militärdiktaturen angehört. Im Gegenteil! Mit Abstand die meisten Opfer gab es in Mexiko von 2006 bis heute. 98 Prozent der dokumentierten Fälle vermisster Menschen sind in diesem Zeitraum Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens geworden. In Kolumbien geht man von etwa 85.000 verschwundenen Personen aus.“

Auch Mijatović ist der Ansicht, dass Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens in Mexiko oder Kolumbien häufig im Kontext der organisierten Kriminalität im Drogenhandel stehen. In diesen Ländern würde die Lage durch die Auswirkungen eines jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts außerdem noch verschärft, so der Politiker. Es seien vor allem Migranten, Flüchtlinge, Journalisten und Aktivisten, die verschwinden. Oder, wie eingangs beschrieben, im Jahr 2014 insgesamt 43 Lehramtsstudenten der Fachhochschule von Ayotzinapa in Mexiko. Dies alles zeige: Es könne jeden treffen, der „zur falschen Zeit am falschen Ort“ sei. Besonders häufig würden Männer zwischen 15 und 40 Jahren verschwinden, beklagt Mijatović.

Mütter graben in der Erde mit den Händen nach Überresten ihrer Kinder

Aber nicht nur in Mexiko und Kolumbien hat das Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens ungeheure Dimensionen erreicht. Mijatović führt weitere Beispiele an: „In Nicaragua setzte Präsident Daniel Ortega vor der Wahl vergangenes Jahr das Verschwindenlassen gezielt als Waffe ein, um kritische Stimmen auszublenden. Auf den Philippinen sind seit dem Beginn des sogenannten ,War on drugs‘ – ausgerufen durch den vormaligen Präsidenten Rodrigo Duterte – zahlreiche Menschen spurlos verschwunden. Auch aus Syrien, der Ukraine und anderen Konflikt- und Kriegsregionen erreichen uns immer wieder Berichte über gewaltsam verschwundene Menschen.“

Außer Nicaragua haben alle lateinamerikanischen Länder die Konvention der Vereinten Nationen zum Schutz aller Menschen gegen gewaltsames Verschwindenlassen unterzeichnet. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen fordert in diesem Zusammenhang: „Es muss endlich ein deutliches Bekenntnis dieser Länder zu der Konvention geben: Polizei und Staatsanwaltschaften müssen die Hinweise von Angehörigen ernstnehmen und in jedem Fall umfassend ermitteln. Hierzu bedarf es ausreichender finanzieller und forensischer Mittel und der intensiven Korruptionsbekämpfung. Die Straflosigkeit beim Verbrechen des gewaltsamen Verschwindenlassens liegt in einigen Ländern bei über 90 Prozent.“

Abschließend weist der Sprecher für Menschenrechtspolitik darauf hin: „Angehörige von Verschwundenen dürfen nicht vergessen werden. Sie leben jahrelang oder bis zum Ende ihres Lebens in Ungewissheit. Bei einigen bestimmt die Suche nach vermissten Angehörigen ihr ganzes Leben. Bilder von Müttern, die mit bloßen Händen in der Erde graben, in der Hoffnung, Überreste ihrer Kinder zu finden, sind nur schwer zu ertragen.“ Zu Recht würden Angehörige von Verschwundenen ebenfalls als Opfer anerkannt, meint Mijatović: „Diese Menschen müssen wir bei ihrer Suche nach Angehörigen und nach Gerechtigkeit unterstützen.“


Zu unserem Bildmaterial:
1. „Lebendig hat man sie mitgenommen – lebendig wollen wir sie wieder“: Botschaft an einer Mauer in Mexiko. Bis heute lässt das Verschwinden von 43 Lehramtsstudenten der Hochschule in Ayotzinapa die Menschen im Land nicht los. Alljährlich gibt es zum Jahrestag des Verbrechens Gedenkveranstaltungen für die Opfer und Demonstrationen in Mexiko gegen das korrupte System.
(Foto: Sortica/Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz CC BY-SA 4.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

2. Porträtfotos von mexikanischen Opfern anlässlich des Internationalen Tages der Verschwundenen. Die Aufnahme entstand am 30. August 2017 an der Escuela Normal Rural „Raúl Isidro Burgos“ in Ayotzinapa. Von hier stammten die 43 entführten und aller Wahrscheinlichkeit nach ermordeten Studenten, deren Überreste – bis auf drei Ausnahmen – immer noch nicht gefunden werden konnten.
(Foto: Ginnette Riquelme/Inter-American Commission on Human Rights, IACHR)

Kleines Beitragsbild: 30. August 2017 – Erinnerung an die 43 verschwundenen jungen Lehramtsanwärter aus Ayotzinapa, die am Abend des 26. September 2014 in Iguala von Sicherheitskräften festgesetzt und möglicherweise danach sofort an ein Drogenkartell ausgeliefert wurden.
(Foto: Ginnette Riquelme/Inter-American Commission on Human Rights, IACHR)


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