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Berlin. Mit Stand 30. Juni 2022 haben die Bundesländer insgesamt 103 Häftlinge aus dem Phänomenbereich des islamistisch motivierten Terrorismus gemeldet. Davon waren 43 Untersuchungshäftlinge und 60 Strafgefangene. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hervor. In ihrem Schreiben vom 22. September führt die Regierung zu den 103 Häftlingen aus: „Dieser Personenkreis umfasst sowohl Beschuldigte und Verurteilte wegen terroristischer Straftaten als auch Beschuldigte und Verurteilte aus dem Bereich der Allgemeintaten als auch Beschuldigte und Verurteilte aus dem Bereich der Allgemeinkriminalität, wenn die Tat mit islamistischem Hintergrund begangen wurde.“

Nach Auffassung der Fragesteller „ist und bleibt der islamistische Terrorismus eine der größten Bedrohungen der inneren Sicherheit in Deutschland und ganz Europa.“ Gerade das Jahr 2020 mit den tödlichen Anschlägen in Paris, Dresden, Nizza und Wien habe vor Augen geführt, dass die Gefährdung durch den islamistischen Terrorismus unvermindert anhalte.

Dabei sei auch durch die Terroranschläge von Paris im Jahr 2015 das Phänomen der Radikalisierung von islamistischen Extremisten beziehungsweise Terroristen in Justizvollzugsanstalten erstmals in den breiteren Fokus der Öffentlichkeit gerückt, so die Unionspolitiker in ihrer Vorbemerkung. Die späteren Pariser Attentäter hätten sich im Gefängnis radikalisiert und nach ihrer Haftentlassung unter anderem die Redaktionsräume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo gestürmt (bei dem Anschlag gab es zahlreiche Tote und Verletzte).

Auch die beiden Islamisten, die 2020 ihre tödlichen Anschläge in Wien und Dresden verübt hatten, seien zuvor aus der Gefängnishaft entlassen worden.

Unter besonderer Beobachtung durch die Vollzugsbehörden

Wie aus der Regierungsantwort weiter hervorgeht, wurden von den Ländern 104 Häftlinge gemeldet, denen keine islamistisch motivierten Straftaten vorgeworfen wurden (beziehungsweise die nicht wegen islamistisch motivierter Straftaten verurteilt worden waren), die aber unter besonderer Beobachtung durch die Vollzugsbehörden im Phänomenbereich „Islamismus“ stehen oder hinsichtlich des Phänomenbereichs „Islamismus“ verdächtigt werden.

Aus dem Phänomenbereich des islamistisch motivierten Terrorismus wurden seit dem 1. Januar 2022 (beziehungsweise werden bis Ende des Jahres) insgesamt 13 Häftlinge entlassen. Dieser Personenkreis umfasst sowohl Beschuldigte und Verurteilte wegen terroristischer Straftaten als auch Beschuldigte und Verurteilte aus dem Bereich der Allgemeinkriminalität, bei der die Tat mit islamistischem Hintergrund begangen wurde.

Von den Personen, die unter besonderer Beobachtung durch die Vollzugsbehörden im Phänomenbereich „Islamismus“ (beziehungsweise Verdacht auf Phänomenbereich „Islamismus“) stehen, wurden beziehungsweise werden im gleichen Zeitraum insgesamt 27 Häftlinge entlassen.

Geplante Entlassungen aus deutschen Haftanstalten im kommenden Jahr

Wie die Bundesregierung außerdem in ihrer Antwort mitteilt, werden im Zeitraum 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023 aus dem Phänomenbereich des islamistisch motivierten Terrorismus voraussichtlich 21 Häftlinge entlassen. Dieser Personenkreis umfasst sowohl Beschuldigte und Verurteilte wegen terroristischer Straftaten als auch Beschuldigte und Verurteilte aus dem Bereich der Allgemeinkriminalität (Taten mit islamistischem Hintergrund).

Von den Personen, welche unter besonderer Beobachtung durch die Vollzugsbehörden im Phänomenbereich „Islamismus“ (beziehungsweise Verdacht auf Phänomenbereich „Islamismus“) stehen, werden im gleichen Zeitraum insgesamt 18 Häftlinge entlassen.

Inhaftierte Kämpfer der Terrorbewegung „Islamischer Staat“

Die Fraktion der CDU/CSU wollte ferner wissen: „Wie viele Kämpfer [der Terrorbewegung ,Islamischer Staat‘/IS] wurden seit 1. Januar 2022 und werden noch nach Kenntnis der Bundesregierung wann voraussichtlich aus deutschen Justizvollzugsanstalten entlassen?“ Dazu teilte die Regierung mit: „Der Bundesregierung liegen Erkenntnisse bezüglich zwölf Personen im Sinne der Kleinen Anfrage vor. Seit dem 1. Januar 2022 wurden zwei dieser Personen aus der Strafhaft entlassen, bis 31. Dezember 2023 werden voraussichtlich drei weitere Personen entlassen.“ Die Bundesregierung erläuterte ergänzend: „Da es sich bei dem Begriff ,IS-Kämpfer‘ nicht um einen feststehenden rechtlichen Begriff handelt, wurde er dahingehend ausgelegt, dass alle Personen dazu gezählt wurden, welche an Kampfhandlungen des ,Islamischen Staates‘ teilgenommen haben, im Umgang mit Waffen ausgebildet wurden, um sich bei Bedarf an Kampfhandlungen des IS beteiligen zu können, Anschläge für den IS verübt oder vorbereitet haben oder im Umgang mit Sprengstoff ausgebildet wurden, um Anschläge für den IS begehen zu können.“

Die Bundesregierung teilte zudem mit, dass durch das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum des Bundes und der Länder (GTAZ) die seit dem 1. Januar 2022 erfolgte Abschiebung von zwölf Personen aus dem islamistischen Spektrum in ihr Herkunftsland gemeldet worden sei.

Derzeit kein bundesweites Lagebild über inhaftierte islamistische Gefährder

Die Fragesteller erkundigten sich bei der Bundesregierung auch nach zukünftigen Entwicklungen und geplanten Maßnahmen. So wollten die Parlamentarier wissen, ob mittlerweile „Prognosen über eine Zunahme islamistischer Gefährder und relevanter Personen in deutschen Justizvollzugsanstalten“ vorliegen. Dazu die Antwort über mögliche Tendenzen: „Die Anzahl an Gefährdern und relevanten Personen sowie die Ermittlungsverfahren [sind] seit 2014 angestiegen, was Konsequenzen für den Justizvollzug haben könnte. Auch können mögliche Rückreisebewegungen aus den Kampfgebieten in Syrien und Irak Einfluss haben.“ Eine belastbare Prognose lasse sich aber aufgrund der Vielzahl der komplexen Rahmenbedingungen nicht treffen, meint die Bundesregierung.

In Erfahrung wollten die Bundestagsabgeordneten der Union auch bringen, ob die Bundesregierung „ein bundesweites Lagebild oder ein ähnliches Format über inhaftierte islamistische Gefährder oder relevante Personen beziehungsweise sonstige Extremisten“ einführen will. Dies sei, so geht aus der Regierungsantwort hervor, „derzeit nicht angezeigt“. Insbesondere durch die Etablierung der „Arbeitsgruppe Risikomanagement“ im GTAZ sei der erforderliche Austausch zwischen den zuständigen Polizeibehörden und den Staatsanwaltschaften beziehungsweise Justizvollzugsanstalten in den zurückliegenden Jahren in Bezug auf Gefährder und relevante Personen aus dem Phänomenbereich „Islamismus“ grundsätzlich sichergestellt.


Hintergrund                           

Ab September 2020 kam es in vier Ländern – Deutschland, Frankreich, Österreich und Saudi-Arabien – zu einer Reihe von Anschlagsversuchen und Anschlägen mit islamistischem Hintergrund. Bei den insgesamt sieben Gewalttaten im Jahr 2020 wurden neun Menschen getötet und mehr als 25 verletzt. Auslöser war vermutlich der Prozessauftakt gegen 14 mutmaßliche Komplizen der Attentäter, die am 7. Januar 2015 die Redaktionsräume der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo gestürmt und zwölf Menschen ermordet hatten.

Der Verfassungsschutz Baden-Württemberg veröffentlichte im Januar 2021 eine Chronik über die „Anschläge vom Oktober 2020 als islamistische Ereigniskette“. In dem Beitrag der Landesbehörde heißt es unter anderem:

Anlässlich des Prozessbeginns am 2. September 2020 in Paris veröffentlichte die Redaktion von Charlie Hebdo die Karikaturen von 2014 erneut. Daraufhin kam es auch in Mitteleuropa auf vielen Ebenen zu Ereignissen, die eine Art Dominoeffekt erkennen lassen. Damit wurde die bislang ruhige Wahrnehmungsphase des islamistischen Terrors 2020 in Europa unterbrochen. Weltweit gab es 2020 allerdings eine Vielzahl von islamistischen Anschlägen mit hohen Opferzahlen, die in Europa medial kaum wahrgenommen wurden.

Weiter befeuert wurde die Eskalationsspirale durch eine Grundsatzrede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron vom 2. Oktober 2020. Dieser sagte dem „islamistischen Separatismus“ in Frankreich den Kampf an und verteidigte die Meinungsfreiheit sowie die Veröffentlichung auch religionskritischer Karikaturen. Seine Rede provozierte ebenfalls heftige Reaktionen in islamistischen Milieus in Frankreich selbst, aber auch in weiten Teilen der muslimischen Welt.

Der vermutlich erste konkrete Angriff der Serie ereignete sich am 25. September 2020 vor dem früheren Sitz der Charlie Hebdo-Redaktion in Paris. Dort attackierte ein Angreifer zwei Personen mit einem Hackmesser und verletzte beide schwer. Kurze Zeit später wurde der flüchtige Hauptverdächtige festgenommen; er legte ein Geständnis ab. Nach Angaben des Staatsanwalts wollte er die Redaktionsräume in Brand stecken. Der 25-jährige Pakistaner lebte seit 2018 mit falscher Identität in Frankreich. Als Auslöser für seine Tat gab er an, er habe ein pakistanisches Video über die erneute Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen gesehen.

Am 4. Oktober 2020 wurden zwei Männer in der Dresdener Innenstadt unvermittelt mit Messern angegriffen. Einer von ihnen starb, der andere wurde schwer verletzt. Die Bundesanwaltschaft geht von einem islamistischen Hintergrund und mutmaßlich einem homophoben Motiv aus. Der als islamistischer Gefährder eingestufte Tatverdächtige war von „Violence Prevention Network“ (VPN), einer bundesweiten Einrichtung für Deradikalisierung, betreut worden. Er befand sich erst seit wenigen Tagen nach seiner Haftentlassung in Freiheit.

Am 16. Oktober 2020 enthauptete ein 18-jähriger Tschetschene den Geschichtslehrer Samuel Paty im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine. Grund dafür soll die Besprechung der Mohammed-Karikaturen in einer Unterrichtsreihe zum Thema Meinungsfreiheit gewesen sein. Der Angreifer wurde kurz nach der Tat von Polizisten erschossen.

Am 29. Oktober 2020 gab es gleich drei Vorkommnisse: In Nizza wurden gegen neun Uhr morgens bei einer Attacke in einer Kirche drei Menschen getötet. Der aus Tunesien stammende mutmaßliche Attentäter wurde durch die Polizei angeschossen. Er war im September 2020 über die italienische Insel Lampedusa als Asylbewerber in die EU eingereist und befand sich erst seit wenigen Tagen in Frankreich. Nur wenige Stunden später randalierten rund 30, mutmaßlich überwiegend türkische Jugendliche in einer katholischen Kirche in Wien-Favoriten. Sie riefen „Allahu akbar“ („Allah ist größer“/„Allah steht über allem“) und traten gegen Sitzbänke und gegen den Beichtstuhl. Als der Pfarrer die Polizei rief, flüchteten die Jugendlichen unerkannt. Am selben Tag wurde ein Wachmann vor dem französischen Konsulat in Dschidda (Saudi-Arabien) verletzt, der einheimische Angreifer wurde festgenommen.

Die Ereigniskette gipfelte im Terroranschlag von Wien am Abend des 2. November 2020. Bei dem Amoklauf wurden vier Personen getötet und 23 weitere teils schwer verletzt. Gegen 20 Uhr Ortszeit wurden die ersten Schüsse in der Wiener Innenstadt gemeldet. Der mutmaßliche Täter, der 20-jährige Kujtim Fejzulai, wurde in Österreich geboren und stammt aus der Volksgruppe der Albaner in Nordmazedonien. Er wurde von der Polizei erschossen. Fejzulai war Mitglied der Terrororganisation „Islamischer Staat“, die sich zwei Tage später zu dem Anschlag bekannte und ein Video des Attentäters mit dem Schwur auf den IS-„Kalifen“ Abu Ibrahim al-Haschimi al-Quraischi, Nachfolger des im Oktober 2019 getöteten Abu Bakr al-Baghdadi, veröffentlichte.

Der Verfassungsschutz berichtet in seiner Aufstellung über die Anschläge des Jahres 2020 abschließend von weiteren, weniger dramatischen Aktionen.

So demonstrierten am Abend des 29. Oktober 2020 in Berlin-Neukölln rund 150 Menschen, vorwiegend Männer, gegen die angeblich islamfeindliche Politik in Frankreich.

Am nächsten Tag, am 30. Oktober 2020, protestierten in Berlin etwa 60 komplett schwarzgekleidete Männer einer muslimischen Gruppe vor dem Brandenburger Tor sowie der französischen Botschaft am Pariser Platz.

Am 1. November 2020 führte ein syrischer Flüchtling in Berlin-Neukölln bei einer bizarren Aktion einen als „Präsident Macron“ kostümierten, gefesselten Mann an einem Seil durch die Straßen. Dabei wurden unter „Allahu akbar“-Rufen Papiermasken mit dem Bild von Macron verbrannt. Diese Aktion erzeugte ein großes Medienecho.


Unser Symbolfoto „Gefängnis“ aus dem Bildangebot von Pixabay entstand vor der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim.
(Foto: Ute Friesen/unter Pixabay License = freie kommerzielle Nutzung, kein Bildnachweis erforderlich)

Kleines Beitragsbild: Symbolbild „Inhaftierter“ aus dem Bildangebot von Pixabay.
(Foto: Pete Linforth/The Digital Artist/unter Pixabay License = freie kommerzielle Nutzung, kein Bildnachweis erforderlich)


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