Berlin/Perdasdefogu (Quirra, Sardinien, Italien). Rund neun Jahre nach Außerdienststellung des Seeziel-Lenkflugkörpers AS.34 Kormoran 2 war das Waffensystem – man sollte es nicht glauben – noch einmal Thema im Deutschen Bundestag. Der Abgeordnete Tobias Pflüger (Die Linke) erkundigte sich in der Fragestunde des Parlaments am heutigen Mittwoch (19. Mai) nach der Entsorgung der Raketen und Raketensprengköpfe und wollte von der Bundesregierung wissen, ob damals das Waffensystem abgereichertes Uran enthalten habe. Antworten gab der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung Thomas Silberhorn.
Pflüger fragte zunächst: „Aus welchen Erwägungen ist die Außerdienststellung der Kormoran-2-Lenkflugkörper ab 2012 erfolgt, und wie wurde diese durchgeführt?“ Dazu Staatssekretär Silberhorn: „Der Lenkflugkörper AS.34 Kormoran 2 hatte das Ende der Nutzungsdauer erreicht und wurde daher ausgesondert und der Entsorgung zugeführt. Die Entsorgung erfolgte durch die Firma Spreewerk Lübben GmbH, eine zugelassene Entsorgungsfirma für konventionelle militärische Munition.“
Im Anschluss daran erkundigte sich Pflüger nach den Sprengköpfen des Systems: „Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass Sprengköpfe der in den 1980er-Jahren von Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) entwickelten und später von EADS (Anm.: EADS = European Aeronautic Defence and Space, heute Airbus SE) produzierten Lenkflugkörper Kormoran 2 abgereichertes Uran enthielten, und wann erfolgte deren Außerdienststellung aus den Bundeswehr-Beständen?“ Die Antwort Silberhorns: „Der in die Bundeswehr eingeführte Lenkflugkörper AS.34 Kormoran 2 enthielt kein abgereichertes Uran. Die Aussonderung des Lenkflugkörpers erfolgte am Nutzungsdauerende.“
Ein Blick zurück auf die Jahreswende 2011/2012 lässt erahnen, warum Pflüger heute noch einmal die Frage nach dem abgereicherten Uran stellte. Vor gut einem Jahrzehnt hatte vor allem die linksalternative beziehungsweise linksliberale Presse ausführlich über das „Quirra-Syndrom“ berichtet. Salto di Quirra auf Sardinien, der größte Schießplatz der NATO in Europa, hatte zu jener Zeit bereits lange Anlass zu heftigen Spekulationen gegeben. Das militärische Sperrgebiet umfasst knapp 120 Quadratkilometer an Land und etwa 21.000 Quadratkilometer auf See. Zeitungen wie die taz oder der Freitag, aber auch der Deutschlandfunk oder der SWR hatten im Dezember 2011 und Januar 2012 den Verdacht aufgegriffen, dass bei der Nutzung von Salto di Quirra als Testgelände auch Uran- oder DU-Munition (aus dem Englischen: depleted uranium/abgereichertes Uran) zum Einsatz gekommen sein könnte. Ausführlich hatten die jeweiligen Autoren die gesundheitlichen Folgen von DU-Munition für Tiere und Menschen beschrieben – Fehlbildungen und Krebserkrankungen. Ihren Berichten zufolge sollen sich damals die Fälle in der Nähe des sardischen NATO-Schießplatzes gehäuft haben.
Man vermutete, dass auf Salto di Quirra auch uranhaltige Waffen getestet wurden. Auch die von MBB entwickelte Kormoran-Rakete war 1988 auf Sardinien erprobt worden; nach Aussage des früheren italienischen Hauptmanns Giancarlo Carrusci habe die Kormoran DU-Gefechtsköpfe gehabt. Carrusci war von 1976 bis 1992 verantwortlich gewesen für die Planung der Raketenabschüsse in Quirra. Er ist im Zusammenhang mit den Kormoran-Testreihen auf Sardinien der einzige Zeuge, der behauptet: „Die Raketen von MBB hatten Gefechtsköpfe mit Uran-Munition.“ Er habe das an der Rauchentwicklung der Explosion erkannt, versicherte Carrusci.
Sein Name taucht in allen Berichten über das „Quirra-Syndrom“ auf. Carrusci in der taz, Carrusci in der Wochenzeitung der Freitag, Carrusci im Deutschlandfunk, Carrusci im SWR. Auch ein 60 Seiten starker Spezialreport von IPPNW (Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung) in Zusammenarbeit mit ICBUW (International Coalition to Ban Uranium Weapons), erschienen im Dezember 2012, beruft sich auf den „früheren Hauptmann Giancarlo Carrusci“. Weitere Zeugen oder Belege für einen Kormoran-Sprengkopf mit abgereichertem Uran gibt es nicht. Offensichtlich hatte hier ein Medium vom anderen abgeschrieben …
Die offizielle Stellungnahme der Bundesregierung aus dem Jahr 2011 lautete übrigens: „Im Zeitraum 1985 bis 1999 erprobte die Bundeswehr [auf Sardinien] mit Luftfahrzeugen der damaligen Marineflieger die Kormoran 1 und 2 mit insgesamt elf Erprobungsraketen. Das Ziel für die Kormoran-Erprobung befand sich ausschließlich auf See, innerhalb des Übungsseegebietes. Die Bundeswehr verfügt und verfügte nicht über Raketen, Lenkflugkörper oder anderweitige Munition, die abgereichertes Uran beinhalten. Eine Beteiligung deutscher Soldaten an ,Sprengungen von Uran-Waffen in Quirra‘ ist nicht bekannt.“
Der Lenkflugkörper Kormoran diente bei der Bundeswehr als Abstandslenkwaffe zur Zerstörung feindlicher Überwassereinheiten. Die Firma MBB hatte die Kormoran, welche weitgehend auf dem Projekt AS.34 von Aerospatiale beruhte, ab 1964 entwickelt. Das Waffensystem war das erste große Flugkörper-Beschaffungsprogramm in der Bundesrepublik überhaupt gewesen. Die Flugerprobung hatte 1970 mit dem F-104G Starfighter begonnen. Die ersten Serienflugkörper wurden ab 1973 an die beiden damaligen Marinefliegergeschwader ausgeliefert.
Ab 1983 startete die Entwicklung der verbesserten Version Kormoran 2. Bei ihr wurde die analoge Elektronik gegen digitale ausgetauscht, um sie widerstandsfähiger gegen elektronische Gegenmaßnahmen zu machen. Zudem wurde der Radarsuchkopf ersetzt, sowie die Booster und der Hauptantrieb. Dadurch wurde die Kormoran 2 zwar schwerer, aber da die neue Elektronik weniger Platz einnahm, konnte ein größerer Gefechtskopf installiert werden. Erste Flugerprobungen fanden 1986 statt.
Die Beschaffung des Lenkflugkörpers Kormoran 2 mit Gesamtkosten von 396,8 Millionen Euro wurde am 30. September 1991 vom Haushaltsausschuss des Bundestages gebilligt. Der ursprüngliche Beschaffungsumfang von 262 Lenkflugkörper wurde 1994 auf 124 Lenkflugkörper reduziert. Darauf basierend erfolgte die Auslieferung an die Deutsche Marine mit einem Kostenumfang von 284 Millionen Euro in der Zeit von 1992 bis 1998.
Zuletzt wurde die Kormoran 2 beim Tornado verwendet. Die „Ära der Kormorane in Schleswig-Holstein …“ – so schrieb Frank Behling im Februar 2012 in den Kieler Nachrichten – „… geht zu Ende“. Und: „Das in Jagel stationierte Waffensystem des Aufklärungsgeschwaders 51 wird verschrottet. Damit hat die Bundeswehr vorerst keine wirkungsvolle Waffe mehr gegen feindliche Kriegsschiffe mehr.“
Ja, der Seeziel-Lenkflugkörper AS.34 Kormoran 2 ist fast schon in Vergessenheit geraten – wäre da jetzt nicht am 19. Mai im Rahmen der Fragestunde der Bundestagsabgeordnete Tobias Pflüger mit seinen Frage 48 und 49 gewesen …
„Sizilien? Sardinien? Hauptsache Spanien“, so genüsslich kommentierte am 1. Juni der in Tübingen ansässige Verein „Informationsstelle Militarisierung“ – kurz IMI – den fatalen Fehler, der uns in unserem Artikel „Kein abgereichertes Uran im Lenkflugkörper Kormoran 2“ unterlaufen ist. Wir haben den NATO-Schießplatz Salto di Quirra diesmal (im Gegensatz zu früheren Arbeiten) konsequent falsch auf Sizilien verortet. Der Mitte der 1950er-Jahre in Betrieb genommene Truppenübungsplatz und Raketenstartplatz liegt jedoch an der Ostküste Sardiniens. Dafür müssen wir uns bei unserer Leserschaft entschuldigen! Der Autor des Beitrages hatte wohl nicht seinen besten Tag …
Nicht seinen besten Tag hatte auch Alexander Kleiß, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Tobias Pflüger (Die Linke) und ebenfalls tätig für IMI in Tübingen. Anstatt uns fairerweise direkt zu kontaktieren und auf den Fehler aufmerksam zu machen, wurden wir (offenbar mit seiner Hilfe) am 1. Juni im Onlineauftritt von IMI erst einmal öffentlich vorgeführt (wobei wir die Pointe in der IMI-Überschrift „Sizilien? Sardinien? Hauptsache Spanien“ immer noch nicht verstehen). Vier Tage später, am 4. Juni, forderte uns Kleiß dann hämisch in einem „Leserbrief“ auf, „gewisse Minimalstandards der journalistischen Sorgfaltspflicht zu erfüllen“. Noch tiefer unter die Gürtellinie geht es an anderer Stelle seines Schreibens: „Beim einfachen Abschreiben scheint es bei Ihnen […] bereits Probleme zu geben.“
Wir danken dem Mitarbeiter von Tobias Pflüger natürlich für seine Wachsamkeit. Ohne ihn wäre unser Lapsus vermutlich unentdeckt geblieben. Allerdings hoffen wir inständig, dass Kleiß sich inzwischen wieder schmerzfrei bewegen kann – denn vier Tage hämisches Schenkelklopfen hinterlassen so seine Spuren. Unser Fehler – so ließ er uns wissen – habe „bereits auch auf anderen Plattformen ein gewisses Vergnügen“ hervorgerufen.
Mit den „anderen Plattformen“ meint unser aufmerksamer Leser offenbar nur seinen Tübinger Verein. Die „Informationsstelle Militarisierung“ hat sich als gemeinnütziger Zusammenschluss auf die Fahne geschrieben: „Unser Ziel [ist es] mit unseren Analysen und Informationen einen Beitrag zur Völkerverständigung zu leisten.“ IMI-Mitarbeiter Alexander Kleiß sollte da lieber mal ein paar Nummern kleiner anfangen – mit zwischenmenschlicher Verständigung.
Das Munitionsentsorgungsunternehmen Spreewerk Lübben GmbH, das seinen Firmensitz in Brandenburg im Lübbener Ortsteil Börnichen hat, produzierte in der früheren DDR überwiegend Munition. Nach der Wende spezialisierte sich das Unternehmen auf die Munitionsentsorgung. 1992 erwarb der US-Konzern General Atomics Spreewerk Lübben von der Treuhandanstalt und investierte Millionen in die notwendigen Spezialanlagen.
Zunächst wurde Munition der Nationalen Volksarmee entsorgt, danach Streumunition der Bundeswehr. Später wurden auch internationale Aufträge angenommen. Die Spreewerk Lübben GmbH geriet 2002 und 2018 wegen tödlicher Unglücksfälle auf dem Betriebsgelände in die Schlagzeilen.
Zu unserem „nostalgischen“ Bildmaterial:
1. Lenkflugkörper Kormoran der Bundeswehr in der Wehrtechnischen Studiensammlung in Koblenz.
(Foto: Alf van Beem/Wikipedia/Wikimedia Commons/Gemeinfrei)
2. Industriesticker des damaligen Unternehmens MBB aus dem Jahr 1988. Anlass: Die Amts- und Truppenerprobung der verbesserten Waffensystemversion „Kormoran 2“.
(Bild: nr; grafische Bearbeitung: mediakompakt)
Kleines Beitragsbild: Tornado des ehemaligen Marinefliegergeschwaders 1 aus dem schleswig-holsteinischen Jagel bei einem Flugtag („Air Fete“) auf dem britischen Militärflugplatz Mildenhall, Grafschaft Suffolk. Der Jagdbomber ist unter anderem mit zwei Kormoran-Raketen bestückt. Die Aufnahme wurde 9. Juni 1984 gemacht.
(Foto: Jose Lopez Jr./U.S. Air Force)