Berlin. Zum Ende des zweiten Quartals dieses Jahres (Stichtag 1. Juli 2021) haben die Bundesbehörden im Phänomenbereich der „Politisch motivierten Kriminalität – religiöse Ideologie“ insgesamt 564 Personen als Gefährder und 529 Personen als sogenannte „relevante Personen“ eingestuft (zum Kreis der „relevanten Personen“ zählt, wer in der Szene beispielsweise als „Logistiker“ oder „Unterstützer“ fungiert). Von den ermittelten Personen hielten sich 330 Gefährder und 470 „relevante Personen“ zum Ende des zweiten Quartals 2021 in der Bundesrepublik auf. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung vom 27. August auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion zum Themenkomplex „Islamisten in Deutschland“ hervor. Laut den der Bundesregierung vorliegenden Erkenntnissen befanden sich zum Ende des zweiten Quartals 96 dieser Gefährder und 18 der „relevanten Personen“ in Deutschland in Haft.
Die Fragen formulierten unter anderem die AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann, Gottfried Curio und Martin Hess – alle Mitglieder des Innenausschusses. Sie wollten zunächst wissen, wie viele „extremistisch-islamistisch geprägte Personen“ sich nach Kenntnis der Bundesregierung zum Ende des zweiten Quartals 2021 in Deutschland aufgehalten haben.
Dazu die Bundesregierung: „Für das Jahr 2020 im Bereich „Islamismus/Islamistischer Terrorismus“ [ergibt sich] ein Personenpotenzial – welches einmal jährlich ermittelt wird – von 28.715 Personen.“
12.150 Personen davon rechnen die Dienste dem Bereich „Salafistische Bestrebungen“ zu (Anm.: Definitionen dazu siehe am Schluss unseres Beitrages). Die entsprechenden Zahlenangaben, die jährlich im Verfassungsschutzverbund abgestimmt werden, sind zum Teil geschätzt und gerundet.
So gelten 1250 Personen als zugehörig zu „Hizb Allah“ („Partei Gottes“), auch bekannt als Hisbollah. Gegen diese schiitische Terrororganisation hat das Bundesinnenministerium am 26. März 2020 ein Betätigungsverbot erlassen, das am 30. April 2020 verkündet und umgesetzt worden ist. Es wurde in der Verfügung unter anderem festgestellt, dass die Organisation nach wie vor das Existenzrecht Israels in Frage stellt und zu dessen gewaltsamer Beseitigung aufruft.
1450 Personen gehören nach den Erkenntnissen der Dienste zu der „Muslimbruderschaft“ beziehungsweise zur „Deutschen Muslimischen Gemeinschaft“.
Etwa 10.000 Personen gelten als Anhänger der „Millî Görüş“-Bewegung und Vereinigungen, die dieser Bewegung zugeordnet werden können.
Von den 330 Gefährdern und 470 „relevanten Personen“ aus dem Phänomenbereich der „Politisch motivierten Kriminalität – religiöse Ideologie“, die sich zum Ende des zweiten Quartals 2021 laut Bundesregierung in Deutschland aufhielten, hatten 144 Gefährder und 180 „relevante Personen“ (im Sinne von „Unterstützer“) weder eine deutsche noch eine deutsche plus weitere Staatsangehörigkeit – sprich doppelte/mehrfache Staatsangehörigkeit – aufzuweisen. Unter den 144 ausländischen islamistischen Gefährdern waren beziehungsweise sind 61 Syrer (dazu 50 Unterstützer). Danach folgen mit großem Abstand Iraker (17 Gefährder, sieben Unterstützer) sowie russische Staatsbürger (13 Gefährder, 26 Unterstützer) und radikale Islamisten aus der Türkei (11 Gefährder, 26 Unterstützer). Bei acht islamistischen Gefährdern war die Staatsangehörigkeit ungeklärt, zwei waren staatenlos.
Von den 330 islamistischen Gefährdern, die sich mit Stichtag 1. Juli 2021 in Deutschland aufhielten, waren laut Bundesregierung 96 Gefährder in Haft. Auch 18 „relevante Personen“ aus dem Phänomenbereich der „Politisch motivierten Kriminalität – religiöse Ideologie“ waren inhaftiert.
Nach Angaben der Bundesregierung besitzen von diesem Personenkreis 25 Gefährder und acht Unterstützer ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit, 20 Gefährder und drei Unterstützer die deutsche sowie eine weitere Staatsangehörigkeit und 51 Gefährder und sieben Unterstützer eine rein ausländische Staatsangehörigkeit.
Wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der AfD weiter mitteilt, gab es zum Stichtag 31. März 2021 zu insgesamt 136 Gefährdern im Phänomenbereich der „Politisch motivierten Kriminalität – religiöse Ideologie“ 150 offene Haftbefehle (Anm.: in Einzelfällen liegen zu einer Person mehrere Haftbefehle auf Grund verschiedener Delikte vor). Außerdem gab es zu 18 Unterstützern in diesem Phänomenbereich 19 offene Haftbefehle. All diese Haftbefehle beziehen sich – so die Bundesregierung – „ausschließlich auf Personen, die sich nach derzeitigem Kenntnisstand an bekannten oder unbekannten Orten im Ausland aufhalten“.
Zum Ende des zweiten Quartals 2021 befanden sich nach Kenntnis der Bundesregierung außerdem 80 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, von denen 30 Personen neben der deutschen noch eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen, im Ausland in Haft oder Gewahrsam. Diese Personen verbindet eine Zugehörigkeit oder ein Bezug zur Terrororganisation „Islamischen Staat“ (IS). Von den 80 Personen waren beziehungsweise sind 70 Personen (41 weiblich, 29 männlich) in Syrien sowie zehn Personen (sieben weiblich, drei männlich) im Irak oder in der Türkei inhaftiert.
Zu den Begriffen „Gefährder“ und „Relevante Person(en)“ liegen polizeifachlich bundeseinheitlich abgestimmte Definitionen vor. In einer Antwort der Bundesregierung – Drucksache 18/13422 – vom 28. August 2017 auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linken heißt es: „Demnach ist im polizeilichen Sinne ein Gefährder eine Person, zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird. Zudem ist eine Person als relevant anzusehen, wenn sie innerhalb des extremistischen/terroristischen Spektrums die Rolle a) einer Führungsperson, b) eines Unterstützers/Logistikers, c) eines Akteurs einnimmt und objektive Hinweise vorliegen, die die Prognose zulassen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a StPO, fördert, unterstützt, begeht oder sich daran beteiligt, oder d) es sich um eine Kontakt- oder Begleitperson eines Gefährders, eines Beschuldigten oder eines Verdächtigen einer politisch motivierten Straftat von erheblicher Bedeutung, insbesondere einer solchen im Sinne des § 100a StPO, handelt.“
Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages äußerten sich am 27. Februar 2017 (WD 3 – 3000 – 046/17) ebenfalls zur Legaldefinition des Begriffes „Gefährder“. Die Erklärung: „Der Begriff des Gefährders ist ein Arbeitsbegriff der Sicherheitsbehörden, der insbesondere bei der Bekämpfung des Terrorismus Anwendung findet. Die Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamtes hat im Jahr 2004 eine Definition beschlossen, die von der Bundesregierung und verschiedenen Sicherheitsbehörden der Länder verwendet wird. Seitdem gilt folgende Definition: ,Ein Gefährder ist eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen wird.‘ Rechtliche Verbindlichkeit besitzt diese Definition nicht. Die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern könnten auch eigene Definitionen verwenden.“
Über den Islamismus (Quelle Bundesamt für Verfassungsschutz): Der Islamismus bezeichnet eine Form des politischen Extremismus, in dem die Existenz einer gottgewollten und daher „wahren“ und absoluten Ordnung postuliert wird, die über den von Menschen gemachten Ordnungen steht. Unter dem Oberbegriff werden dabei verschiedene Strömungen zusammengefasst, die sich hinsichtlich ihrer ideologischen Prämissen, ihrer geografischen Orientierung und ihrer Strategien und Mittel unterscheiden.
Der Islamismus basiert auf der Überzeugung, dass die Weltreligion des Islam nicht nur eine persönliche beziehungsweise private Angelegenheit ist, sondern auch das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung bestimmen oder zumindest teilweise regeln sollte. Dies steht im klaren Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Prinzipien der Volkssouveränität, der Trennung von Staat und Religion, der freien Meinungsäußerung und der allgemeinen Gleichberechtigung. Islamisten verfolgen das Ziel, die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland unter Berufung auf ihre Religion ganz oder teilweise abzuschaffen und begründen damit eine Verfassungsschutzrelevanz.
Über den Salafismus (Quelle Bundesamt für Verfassungsschutz): Eine seit Jahren wachsende Strömung im Islamismus ist der Salafismus. Salafisten geben vor, sich – im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung – in ihrem Denken und Handeln ausschließlich an einem wortgetreuen Verständnis von Koran und Sunna (zur Nachahmung empfohlene Handlungsweisen und Aussagen des Propheten) sowie am Vorbild der Gefährten des Propheten zu orientieren. Dabei negieren Salafisten die Geschichte des Islam und der Muslime weitestgehend und erheben einen Exklusivitätsanspruch als „die einzig wahren Muslime“.
Die salafistische Szene in Deutschland befindet sich den Erkenntnissen der Dienste zufolge momentan in einer Art „Konsolidierungsphase“. Allgemein akzeptierte und deutschlandweit aktive Führungspersonen, die eine Identifikation und eine Marschrichtung vorgeben, gibt es nicht (mehr) – die Szene ist fragmentiert. Einzelne, gut vernetzte Personen üben vor allem lokal und regional Einfluss aus. In der Öffentlichkeit agiert die Szene gegenwärtig eher zurückhaltend. Häufig ist die Ideologie auf den ersten Blick kaum noch erkennbar.
Über legalistische Gruppierungen (Quelle Bundesamt für Verfassungsschutz): Legalistische Strömungen versuchen, über politische und gesellschaftliche Einflussnahmen eine nach ihrer Interpretation islamkonforme Ordnung durchzusetzen. Dabei zielen sie auf eine langfristige Änderung der Gesellschaft ab und verfolgen dieser Strategie entsprechend eine Durchdringung der Gesellschaft. Ihr Ziel ist die perspektivische Errichtung eines auf der Scharia basierenden gesellschaftlichen und politischen Systems.
Zu den legalistischen Gruppierungen zählen beispielsweise die der „Muslimbruderschaft“ nahestehende Organisationen, schiitische Vereine wie das „Islamische Zentrum Hamburg e.V.“ (IZH), unterschiedliche Gruppierungen der „Millî Görüş“-Bewegung sowie die „Furkan Gemeinschaft“.
Über die „Millî Görüş“-Bewegung (Quelle Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg): Die „Millî Görüş“-Bewegung („Nationale Sicht“) will die westliche „Ordnung des Unrechts“ durch eine islamische „Gerechte Ordnung“ ersetzen. Sie ist ein Sammelbecken von Anhängern des früheren türkischen Politikers Necmettin Erbakan, dessen Ideologie bis heute eine große Rolle in allen Teilen der Bewegung spielt. Bundesweit betätigen sich etwa 10.000 Personen aktiv für „Millî Görüş“-Organisationen.
Bedeutendster Teil der Bewegung in Deutschland ist die „Islamische Gemeinschaft Millî Görüş“ (IGMG). Diese versteht sich selbst als „Gemeinschaft, die der umfassenden Religionsverwirklichung dient“; sie arbeitet also darauf hin, normativen Vorgaben der Religion langfristig politisch-gesellschaftliche Geltung zu verschaffen. Um ihre islamistische Agenda voranzubringen, nutzt sie die Mittel des Rechtsstaats. Auffällig ist, dass die IGMG bei ihren Aktivitäten auf Geschlechtertrennung achtet. Darüber hinaus erklärt sie die islamkonforme Verhüllung für Frauen zur Pflicht und fördert diese bereits bei Mädchen.
Unser Symbolbild ist ein Ausschnitt des Titelbildes der Studie „Deutsche muhajirat: Radikalisierungshintergründe und -verläufe von Mädchen und Frauen aus Baden-Württemberg“, herausgegeben vom Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg (Analysegruppe „Internationaler Extremismus und Terrorismus“), November 2019.
(Bild: Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg;
grafische Bearbeitung: mediakompakt)