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Hamburg. Panik auf dem Flughafen in Kabul. Viele Menschen wollen fliehen. Doch wer ist schuld an ihrer verzweifelten Lage? Die USA und auch Deutschland weisen auf die afghanischen Streitkräfte – diese hätten zu wenig Kampfeswillen gezeigt. Aber stimmt das? Der ehemalige US-General David H. Petraeus, vom 2. Juli 2010 bis zum 18. Juli 2011 Kommandeur der damaligen ISAF-Truppen in Afghanistan, widerspricht energisch (ISAF: International Security Assistance Force/Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe). Die Lage der afghanischen Streitkräfte sei „aussichtslos“ gewesen, nachdem die Amerikaner viel zu schnell ihre Luftwaffe abgezogen hätten, so Petraeus. Kann man erwarten, dass jemand kämpft, wenn er weiß, dass keine Unterstützung mehr kommt?

US-Präsident Joe Biden und die Bundesregierung machen fehlenden Kampfeswillen der afghanischen Armee für den Erfolg der Taliban verantwortlich. Im Interview mit dem Online-Reportageformat STRG_F (STR_F steht für „Suchen & Finden“), das der Norddeutsche Rundfunk (NDR) produziert, widerspricht der frühere Kommandeur der US-Streitkräfte in Afghanistan und Befehlshaber der damaligen ISAF-Kräfte, David H. Petraeus. „Sie hatten plötzlich keine Rückendeckung mehr“, sagt Petraeus mit Blick auf die afghanischen Streitkräfte. „Unsere Luftwaffe war weg!“

Das Interview wurde am gestrigen Freitag (20. August) auf dem YouTube-Kanal von STRG_F veröffentlicht: https://www.youtube.com/watch?v=O3C88y0OTak
Das Online-Reportageformat STRG_F wird vom NDR für das Medienangebot funk (das Content-Netzwerk von ARD und ZDF) produziert und auch über YouTube angeboten. Behandelt werden politisch oder gesellschaftlich relevante Themen für eine Zielgruppe zwischen 14 und 29 Jahren.

Abzug der US-Luftwaffe leitete das Ende der afghanischen Sicherheitskräfte ein

Petraeus sagte dem NDR-Rechercheformat, er habe als Kommandeur in Afghanistan selbst erlebt, in welch riesiger Anzahl afghanische Sicherheitskräfte kämpften und starben. Nach dem Abzug der US-Luftwaffe sei aber die wichtige Rückendeckung aus der Luft weggefallen. Der General a.D. beklagte: „Wie kann man von Streitkräften erwarten, dass sie kämpfen, wenn sie wissen, dass keiner mehr zur Unterstützung kommt?“

Petraeus widersprach damit der Darstellung von US-Präsident Biden, der die Schuld für den schnellen Erfolg der Taliban auf die afghanische Armee geschoben hatte. „Amerikanische Truppen können und sollten nicht in einem Krieg kämpfen und sterben, den die afghanischen Streitkräfte selbst nicht zu kämpfen gewillt sind“, hatte Joe Biden diese Woche gesagt. Auch die Bundesregierung hatte sich dieser Darstellung angeschlossen. Man habe die „Durchhaltefähigkeit und den Durchhaltewillen der afghanischen Armee falsch eingeschätzt“, äußerte Regierungssprecher Steffen Seibert. Die afghanischen Streitkräfte seien „nicht bereit gewesen, sich den Taliban entgegenzustellen“, urteilte Außenminister Heiko Maas.

Militärische Führung entwickelte alternativen Vorschlag für die Politik

Der frühere Vier-Sterne-General sagte im STRG_F-Interview weiter, er finde die Aussage von Biden bedauerlich. „Die Fakten sind, dass 27 Mal so viele afghanische Sicherheitskräfte im Kampf für ihr Land gestorben sind, als US-Kräfte“, argumentierte Petraeus. Tatsächlich starben nach Recherchen der Brown University (Providence, US-Bundesstaat Rhode Island), eine der ältesten und renommiertesten Universitäten des Landes, insgesamt 2442 Angehörige der US-Streitkräfte und mindestens 66.000 afghanische Sicherheitskräfte in dem 20-jährigen Krieg.

Petraeus machte im Gespräch mit STRG_F außerdem die politischen Entscheidungsträger für den chaotischen Abzug der USA verantwortlich. „Die Situation, in der sich die afghanischen Streitkräfte als Resultat unserer politischen Entscheidung befanden, war eine ausweglose“, meinte Petraeus. Er selbst und führende Militärs hätten vorgeschlagen, eine geringe Streitkraft mit Drohnen- und Luftunterstützung im Land zu lassen. „Ich glaube, das hätte die jetzige Situation verhindert.“

„Nation Building“ versus Terrorismusbekämpfung

Petraeus hatte sich in seiner Zeit als Kommandeur dafür eingesetzt, Terrorismusbekämpfung mit dem Aufbau eines funktionierenden Staates zu verbinden, dem sogenannten „Nation Building“. Präsident Biden sagte dagegen diese Woche, es habe bei dem Einsatz der USA am Hindukusch nie um den Aufbau eines Staates gehen sollen, sondern rein um Terrorismusbekämpfung. Biden verbuchte den Afghanistaneinsatz demnach als Erfolg: „Unsere Mission, die Gefahr durch das Terrornetzwerk al-Qaida zu reduzieren und Osama Bin Laden zu töten, war erfolgreich“, lautete sein Fazit.

General a.D. Petraeus sagte dazu gegenüber STRG_F kopfschüttelnd: „Ich weiß nicht, wie die Machtübernahme der Taliban als positive Entwicklung für die nationale Sicherheit der USA gedeutet werden kann.“


Randnotiz                                  

David H. Petraeus (Jahrgang 1952) war bis zu seinem Eintritt in die Privatwirtschaft vom 6. September 2011 bis zum 9. November 2012 Direktor der CIA. Wenige Tage nach der US-Präsidentschaftswahl 2012 trat der New Yorker im Zuge einer später nach ihm benannten politischen Affäre „aus privaten Gründen“ vom Amt des CIA-Direktors zurück. Sein Rücktritt wurde von US-Präsident Barack Obama am 9. November 2012 angenommen.

Zuvor hatte Petraeus mehr als 37 Jahre lang in den Streitkräften der Vereinigten Staaten gedient, zuletzt im Dienstgrad eines Vier-Sterne-Generals. Während dieser Zeit führte er sechs aufeinanderfolgende Kommandos, darunter fünf im Gefecht.

Petraeus war unter anderem ab 2003 im Zweiten Irakkrieg („Operation Iraqi Freedom“) in exponierten Positionen eingesetzt. Am 10. Februar 2007 übernahm er von seinem Vorgänger George William Casey jr. den Oberbefehl über die Koalitionstruppen im Irak (Multi-National Force Iraq). Bis zur Kommandoübergabe schien die US-Mission dort nahezu gescheitert. Seit Sommer 2007 gingen Gewalt und Terror im Irak jedoch merklich zurück – ein Verdienst von Petraeus.

Durch den Rücktritt von Admiral William J. Fallon als Oberbefehlshaber des US Central Command (USCENTCOM) wurde im März 2008 dieser Posten unerwartet frei. Petraeus, bereits Vier-Sterne-General, wurde einen Monat später als Fallons Nachfolger nominiert und im Juli vom US-Senat bestätigt. Am 31. Oktober 2008 übernahm er schließlich von Interimskommandeur Martin Dempsey die Leitung von USCENTCOM auf der MacDill Air Force Base in Florida. Nachfolger von Petraeus im Irak als Kommandeur der Multi-National Force Iraq war am 16. September 2008 General Raymond T. Odierno geworden.

Am 25. Juni 2010 wurde Petraeus für den Posten des Kommandeurs der ISAF-Truppen und somit als Nachfolger von General Stanley A. McChrystal nominiert, nachdem dieser sich in einem Interview mit der Zeitschrift Rolling Stone abfällig über US-Präsident Obama geäußert hatte und seines Amtes enthoben worden war. Der US-Senat bestätigte am 30. Juni einstimmig die Ernennung von Petraeus zum Kommandeur der internationalen Truppen in Afghanistan. Er trat am 2. Juli 2010 in Kabul sein neues Kommando an. In diesen Funktionen galt Petraeus später als führender Kopf hinter der Neuausrichtung der US-Streitkräfte in Afghanistan hin zur Aufstandsbekämpfung, die in einer neuen Einsatzdoktrin mündete. Am 18. Juli 2011 übergab Petraeus das ISAF-Kommando wie geplant an seinen Nachfolger, General John R. Allen.

Seit 2013 ist David H. Petraeus Partner der weltweit agierenden Investmentgesellschaft KKR und Vorsitzender des KKR Global Institute, das die Ausschüsse, Portfoliounternehmen und Partner von KKR bei der Analyse geopolitischer und makroökonomischer Trends sowie von Umwelt-, Sozial- und Governance-Fragen berät und unterstützt.


Zu unserem Bildmaterial
1. General David H. Petraeus am 15. März 2011 bei einer Senatsanhörung in Washington.
(Foto: Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz CC BY 2.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

2. Petraeus am 11. Januar 2011 bei einem Besuch mit dem damaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden und dem afghanischen Verteidigungsminister Abdul Rahim Wardak (links) im Kabul Military Training Center (Anm.: Wardak erklärte nach einer verlorenen Vertrauensabstimmung im afghanischen Parlament Anfang August 2012 seinen Rücktritt vom Ministeramt).
(Foto: Brian Brannon/U.S. Navy)

Kleines Beitragsbild: Das Symbolfoto „Taliban auf dem Vormarsch“ stammt vom Propagandakanal „Islamic Emirate of Afghanistan – alemarah“. Die Aufnahme vom 13. Juni 2021 zeigt, so der Begleittext von Alemarah Media, Kämpfer nach ihrer erfolgreichen Ausbildung im „Abdullah bin Mubarak Jihad Training Camp“.
(Foto: Alemarah Media)


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