Berlin/Kabul (Afghanistan). Nach dem Fall der afghanischen Hauptstadt Kabul und der Machtübernahme durch die radikal-islamischen Taliban war und ist der Schock im Westen groß. Geheimdiensten wird nun vorgeworfen, die Entwicklung am Hindukusch falsch eingeschätzt oder mit unzureichendem Nachdruck kommuniziert zu haben. So ist der Bundesnachrichtendienst (BND), das außen- und sicherheitspolitische Frühwarnsystem der Bundesregierung, massiv in die Kritik geraten.
Matthias Gebauer und seine Mit-Autoren Fidelius Schmid und Maik Baumgärtner berichteten in ihrem am 20. August erschienenen SPIEGEL-Beitrag „Taliban-Einmarsch in Kabul“ über das Versagen dieses Frühwarnsystems, zu dessen Kernauftrag das Sammeln und die Auswertung relevanter „Informationen von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung“ und deren Bereitstellung für die Regierung „in Form von Meldungen und Analysen“ gehört. „Bis hoch zur Kanzlerin“ habe die Bundesregierung dem BND jetzt bereits attestiert, „die Lage in Afghanistan völlig falsch eingeschätzt“ zu haben, so das SPIEGEL-Team.
BND-Präsident Bruno Kahl musste bereits am 18. August in einer geheimen Sitzung des Verteidigungsausschusses und am 19. August in geheimer Rundes des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages, das für die Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes zuständig ist (und den Bundesnachrichtendienst, den Militärischen Abschirmdienst und das Bundesamt für Verfassungsschutz überwacht), unzählige unangenehme Fragen beantworten.
Harsche Kritik gegen den BND kommt vor allem aus den Lagern von SPD und Grüne. Dabei inszeniert vor allem Außenminister Heiko Maas scharfe Angriffe. Dem SPIEGEL sagte der SPD-Politiker, der wegen des außenpolitischen Debakels in Afghanistan selbst schwer unter Beschuss steht: „Der BND hat offensichtlich eine falsche Lageeinschätzung vorgenommen, so wie andere Dienste auch.“ Dies könne nicht ohne Konsequenzen für die Arbeitsweise der deutschen Nachrichtendienste bleiben, drohte Maas. Die Geheimdienste hätten zudem falsche Einschätzungen voneinander übernommen. Dazu der Minister: „Das muss sich ändern. In Zukunft sollte man die Erkenntnisse anderer Dienste noch einmal sehr intensiv überprüfen.“
Auch andere Sozialdemokraten stießen ins gleiche Horn, wenn auch weniger kräftig. Bundestagsabgeordneter Johannes Fechner, Obmann der SPD im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, machte in einem Interview mit dem Südwestrundfunk (SWR) ebenfalls den BND für die fast zu späte Rettungsaktion in Kabul verantwortlich. Er sagte dem SWR am 20. August mit Blick auf den Nachrichtendienst: „Wir alle, wir Abgeordnete, aber auch die Bundesregierung ärgern uns sehr über dessen Fehlleistung. Das werden wir jetzt alles aufklären, denn so ein Fall darf sich auf keinen Fall wiederholen.“
Der Stellvertretende Vorsitzende des Geheimdienst-Kontrollgremiums im Bundestag, Konstantin von Notz (Grüne), fordert ebenfalls Konsequenzen aus dem Agieren des BND in Afghanistan. Der Geheimdienst müsse vielmehr wissenschaftliche Expertise einbinden, erklärte Notz am 26. August gegenüber der Süddeutschen Zeitung (SZ). Die Kunst bestehe nicht nur darin, möglichst viele Daten zu sammeln. Man müsse den Gehalt aus der Masse an Informationen auch mit Wissenschaft und Forschung abgleichen, so der Parlamentarier von Bündnis 90/Die Grünen weiter. „Hier ist der BND seit Jahren zu schwach, dasselbe Problem hat auch das Bundesamt für Verfassungsschutz.“ Zwar rüste man bei den Diensten technisch immer weiter auf. Stattdessen aber sollte man „bei Fachkenntnissen im Bereich der Kulturwissenschaften und Sprachen deutlich aufholen“.
Schützend vor den Bundesnachrichtendienst stellte sich am gestrigen Samstag (28. August) der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Mathias Middelberg. Er sagte der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ), er halte – besonders jetzt nach den Bombenanschlägen von Kabul vom 26. August – „einen handlungsfähigen Auslandsnachrichtendienst für wichtiger denn je“. Die Bombenanschläge am Kabuler Flughafen hätten gezeigt, dass die Gefahr sehr wohl real sei, dass Afghanistan wieder ein Hort des islamistischen Terrorismus werden könnte. Middelberg prognostizierte: „Nach dem Ende der NATO-Mission in Afghanistan werden wir den BND für die Aufklärung von Terrorgefahren für Deutschland und Europa dringender brauchen denn je.“
Middelberg warnte SPD und Grüne davor, den BND an einer effektiven Arbeit zu hindern. „Wir haben gerade erst im Frühjahr die technische Nachrichtenbeschaffung des BND wie auch deren Kontrolle neu aufgestellt. Hier hat sich leider wieder gezeigt: Die Grünen wollen den Nachrichtendiensten immer neue Steine in den Weg legen, und die SPD verhindert, dass unsere Sicherheitsbehörden mit der digitalen Entwicklung Schritt halten können“, so Middelberg gegenüber der NOZ. Wer aber den Sicherheitsbehörden die notwendigen Befugnisse verweigere, der dürfe sich später „nicht über unzureichende Aufklärungserkenntnisse beklagen“.
Der CDU-Politiker schließt nicht aus, dass mögliche Fehleinschätzungen des BND zur Lage in Afghanistan Konsequenzen nach sich ziehen könnten. Middelberg kündigte an: „Sollte sich zeigen, dass rechtliche Hindernisse die Lageeinschätzung behindert haben, müssen diese konsequent beseitigt werden. Wir brauchen einen handlungsfähigen und effektiven Auslandsnachrichtendienst.“ Die Abläufe der vergangenen Monate in Afghanistan seien „rückhaltlos“ aufzuklären. „Das betrifft das Auswärtige Amt, aber auch den BND“, betonte der Innenpolitiker.
Zu unserem Bildmaterial:
1. Symbolbild „Bundesnachrichtendienst“ – die Aufnahme vom Juni 2020 zeigt das Hauptgebäude der BND-Zentrale an der Chausseestraße in Berlin.
(Foto: Bundesnachrichtendienst)
2. Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Mathias Middelberg bei einer Bundestagsdebatte am 18. Februar 2016.
(Foto: Achim Melde/Deutscher Bundestag)
Kleines Beitragsbild: Das Symbolfoto „Taliban auf dem Vormarsch“ stammt vom Propagandakanal „Islamic Emirate of Afghanistan – alemarah“. Die Aufnahme vom 13. Juni 2021 zeigt, so der Begleittext von Alemarah Media, Kämpfer nach ihrer erfolgreichen Ausbildung im „Abdullah bin Mubarak Jihad Training Camp“.
(Foto: Alemarah Media)