Berlin/Mazar-e Sharif, Kabul (Afghanistan). Die Welt sieht fassungslos zu: In nur neun Tagen konnten die radikal-islamischen Taliban mehr als die Hälfte der afghanischen Provinzen unter ihre Kontrolle bringen. Am gestrigen Samstagnachmittag (14. August) fiel Mazar-e Sharif, Hauptstadt der Provinz Balkh und viertgrößte Stadt des Landes, in die Hände der Regierungsgegner. Deutschland hatte hier im Jahr 2015 als Rahmennation die Führung des damaligen Train, Advise and Assist Command North (TAAC-N) – später Command Mazar-e Sharif – übernommen. Mit Kräften aus zeitweise bis zu 21 Partnerländern war das Feldlager am Fuße des Marmal-Gebirges lange eine wichtige Basis der internationalen Streitkräfte im Norden Afghanistans.
Am 7. Juni erst hat der Führer des deutschen Einsatzkontingents „Resolute Support“, Brigadegeneral Ansgar Meyer, das Camp Marmal und das angrenzende Flugfeld in einer feierlichen Zeremonie symbolisch an General Mohammed Zaheer Nazari als Vertreter einer Delegation des afghanischen Verteidigungsministeriums übergeben. Die westlichen Geheimdienste hielten es zu diesem Zeitpunkt nicht für möglich, dass eine Taliban-Offensive die afghanischen Sicherheitskräfte wenige Wochen später in völlige Auflösung stürzen und hinwegfegen würde – eine Implosion gewaltigen Ausmaßes.
Am 6. August eroberten die Taliban Zaranj (auch Sarandsch), Hauptstadt der Südwestprovinz Nimroz. Danach übernahmen die Radikalislamisten ohne nennenswerte Gegenwehr weitere Provinzhauptstädte und Provinzen. Am 7. August fiel Shebirghan, Hauptstadt der Nordprovinz Jowzan. Am 8. August überrannten die Taliban die nördlichen Provinzen Kunduz, Sar-i Pul und Takhar mit ihren Hauptstädten Kunduz, Sar-i Pul und Taloqan. Am 9. August besetzten sie Aybak in der Nordprovinz Samangan. Am 10. August wehte die Flagge der Aufständischen über Farah, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz Farah im Westen Afghanistans. Ebenfalls am 10. August erlangten die Taliban die Kontrolle über die Provinz Baghlan mit der Hauptstadt Pol-e Chomri.
In der Baghlan-Provinz hatte die damalige internationale ISAF-Truppe eine Operationsbasis unterhalten (ISAF: International Security Assistance Force). Am „Observation Post North“ waren seit dem Sommer 2010 Kampftruppen der Bundeswehr in Bataillonsstärke – etwa 600 Mann – stationiert. Von dort aus erfolgte die Überwachung der Fernstraßen von Kabul nach Mazar-e Sharif beziehungsweise nach Kunduz. Am 18. Februar 2011 tötete ein Innentäter, ein Attentäter in der Uniform der afghanischen Armee, drei Bundeswehrsoldaten und fügte sechs weiteren deutschen Soldaten teils schwere Verwundungen zu. Der Attentäter wurde erschossen. Am 15. Juni 2013 wurde OP North in einer feierlichen Zeremonie an die afghanischen Streitkräfte übergeben.
Am 10. August nahmen die Taliban schließlich auch Faizabad ein, Hauptstadt der Provinz Badakhshan im äußersten Norden Afghanistans. Seit dem Sommer 2004 hatte die Bundeswehr in Faizabad im Rahmen von ISAF ein PRT gestellt (PRT: Provincial Reconstruction Team). Unterstützt worden waren die deutschen Soldaten dabei vom Kräften aus der Mongolei. Die Leitung des PRT wurde Ende 2011 an die afghanischen Behörden übergeben.
Zurück in die Gegenwart. Am Abend des 13. August konnten die Angreifer weitere Geländegewinne und Eroberungen vermelden: Die Regierung in Kabul verlor nacheinander die Provinz- beziehungsweise Bezirkshauptstädte Qalat/Provinz Zabul, Tarin Kot/Provinz Uruzgan, Pul-i Alam/Provinz Logar sowie Tschaghtscharan (auch Fayroz Koh)/Provinz Ghor. Es folgte die Hauptstadt der gleichnamigen Südprovinz und drittgrößten Stadt des Landes Kandahar. Eingenommen wurde am 13. August auch Lashkar Gah, Hauptstadt der südafghanischen Provinz Helmand. In die Hände der Taliban fielen an diesem Freitag auch die Herat-Provinz im Westen sowie die Bezirkshauptstadt Qala-i-Naw in der Provinz Badghis.
Am 14. August meldete die internationale Presse den Fall der ostafghanischen Hauptstädte Gardez/Provinz Paktiya, Sharan/Provinz Paktika, Mihtarlam/Provinz Laghman, Asadabad/Provinz Kunar und Maidan Shahr/Provinz Wardak. Im Norden nahmen die Taliban Maimana/Provinz Faryab ein. Mit dem Sieg der Aufständischen in den Provinzen Daykundi und Balkh (die Hauptstadt Mazar-e Sharif fiel nach übereinstimmenden Twitter-Nachrichten von Augenzeugen am 14. August um 19:19 Uhr Mitteleuropäische Sommerzeit/MESZ) waren zu diesem Zeitpunkt bereits 25 von 34 Provinzhauptstädten unter Taliban-Herrschaft geraten.
Von einer ernsthaften Verteidigung, die diese Bezeichnung auch verdiente, war bei den afghanischen Sicherheitskräfte fast nichts zu sehen. Die BILD-Zeitung sprach am 14. August in einem Beitrag über die Ereignisse am Hindukusch vielmehr von der „katastrophalen Kampfmoral“ der Regierungstruppen und schrieb: „Mit einer echten Gegenwehr des afghanischen Militärs müssen die Taliban offenbar nicht rechnen. Im Gegenteil: Die Trümmer-Truppen türmen regelrecht vor den Kämpfern der Terror-Gruppe.“
General a.D. Hans-Lothar Domröse, im Jahr 2008 Chef des Stabes von ISAF in Kabul unter dem Kommando von US-General David D. McKiernan, hält den Afghanistaneinsatz der NATO schon jetzt für komplett gescheitert. Das Konzept „train, assist, advise“ („trainieren, unterstützen, beraten“) sei nicht aufgegangen, sagte er am gestrigen Samstag auf NDR Info. Obwohl die afghanische Armee gut ausgebildet und ausgestattet sei, setze sie ihre Mittel einfach nicht ein. Die Soldaten wüssten offenbar nicht, wofür sie kämpfen sollten, analysierte Domröse. Für ihn stelle sich die Frage, ob überhaupt ein afghanischer Staat existiere oder nicht einzelne Stammesfürsten das Land beherrschten.
Seine Frustration kaum verbergen konnte jetzt der Pressesprecher des US-Verteidigungsministeriums John Kirby (Anm.: Der ehemalige Konteradmiral der U.S. Navy war bereits von Mai 2015 bis Januar 2017 in der Obama-Administration Pressesprecher des US-Außenministeriums gewesen). Bei einer Pressekonferenz am Freitag wies er darauf hin, dass die afghanischen Regierungstruppen den Taliban zahlenmäßig überlegen seien. Sie hätten zudem eine fähige Luftwaffe, die tagtäglich Luftangriffe geflogen sei. Und sie verfügten über eine moderne Ausrüstung sowie eine Organisationsstruktur. „Sie profitieren von der Ausbildung, die wir ihnen rund 20 Jahre lang zuteilwerden ließen. Sie haben die materiellen, die physischen, die greifbaren Vorteile – es ist jetzt an der Zeit, diese Vorteile zu nutzen“, so Kirby weiter.
Dann aber musste der Pentagon-Sprecher auf Nachfrage eingestehen: „Den Regierungskräften fehlt es an Kampfeswillen, sich den Taliban zu stellen. Geld kann keinen Willen kaufen.“ Dafür sei allein die politische und militärische Führung Afghanistans zuständig. Die USA hätten den „fehlenden Willen zum Widerstand“ nicht vorhersehen können, räumte Kirby schließlich ein.
Warnende Stimmen über die mangelhafte Kampfmoral der afghanischen Sicherheitskräfte hatte es in der Vergangenheit genügend gegeben. Wir erinnern an die 2019 erschienenen „Afghanistan Papers“ der Washington Post, die eine ernüchternde Bestandsaufnahme des Afghanistaneinsatzes der USA und des Westens darstellen. Bei den „Afghanistan Papers“ handelt es sich um eine Sammlung von Interviews, die von der US-Regierung mit rund 400 Personen geführt worden sind. Die Befragten hatten während des Afghanistaneinsatzes eine tragende Rolle gespielt. Die Washington Post musste drei Jahre lang vor amerikanischen Gerichten darum kämpfen, die Interviews – rund 2000 Dokumentenseiten – veröffentlichen zu dürfen. Die freigegebenen Unterlagen enthüllen, wie Präsidenten, Generäle, Diplomaten sonstige Regierungsmitarbeiter die Öffentlichkeit fast zwei Jahrzehnte lang über den Konflikt am Hindukusch täuschten.
So rief die Washington Post im Rahmen ihrer großangelegten Veröffentlichung auch noch einmal öffentliche Einschätzungen prominenter Zeitgenossen zur Lage in Afghanistan und zur Verfasstheit der afghanischen Sicherheitskräfte in Erinnerung. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse am Hindukusch tun diese Zitate heute richtig weh …
Am 8. September 2008 versicherte beispielsweise Generalmajor Jeffrey Schloesser in einem Pressegespräch: „Werden wir diesen Krieg in Afghanistan verlieren? Auf keinen Fall! Kann der Gegner ihn gewinnen? Auf keinen Fall!“
Am 19. November 2008 erklärte General David McKiernan, zum damaligen Zeitpunkt Oberbefehlshaber der US- und NATO-Truppen in Afghanistan: „Ich darf Ihnen mitteilen, dass die afghanische Armee auf dem richtigen Weg ist. Sie hat gute Soldaten. Wir entwickeln sie von Grund auf neu. Die Armee ist ausgezeichnet ausgebildet und sie wird hervorragend geführt.“
Weitere Beispiele gefällig? Bitte! Am 4. September 2013 lobte Mark A. Milley, damals Generalleutnant und heute als „Viersterner“ Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, die afghanischen Sicherheitskräfte in hellsten Tönen. Er sagte bei einem Pressebriefing in Kabul: „Die afghanische Armee und Polizeikräfte sind Tag für Tag im Kampf gegen die Aufständischen äußerst effektiv. Ich denke, dass dies eine wichtige Geschichte ist, über die überall berichtet werden sollte.“
Brigadegeneral Charles Cleveland teilte Pressevertretern am 1. Juni 2016 mit: „Die afghanischen Sicherheitskräfte haben in diesem Jahr besser abgeschnitten als im letzten – deshalb sind wir auch für die kommenden Monate vorsichtig optimistisch.“
Und General John W. Nicholson, Befehlshaber der US-Truppen in Afghanistan, schwadronierte am 23. Juli 2018: „Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich betone nochmals: Dies ist ein harter Krieg. Es ist ein Krieg. Ein Krieg ist ein Wettstreit des Willens. Die afghanische Armee und Polizei zeigen, dass sie den absoluten Willen zum Erfolg haben.“
Die in den „Afghanistan Papers“ der Washington Post dokumentierten Aussagen der befragten Afghanistan-Kenner sind das reinste Kontrastprogramm zu den Augenwischereien der Generalität. So beschreiben Regierungsbeamte und Mitarbeiter der NATO den Versuch, eine afghanische Armee aufzubauen, als „eine lange anhaltende Katastrophe“. Ryan Crocker, von Juli 2011 bis Juli 2012 Botschafter der USA in Afghanistan, etwa meinte, die afghanische Polizei sei ineffektiv, „nicht weil sie waffenmäßig oder personell unterlegen ist“, sondern „weil sie bis hinunter auf die Patrouillenebene korrupt sind.“ Victor Glaviano, der von 2007 bis 2008 als US-Berater mit der afghanischen Armee zusammenarbeitete, bezeichnete die Soldaten als „klauende Narren“, die regelmäßig die vom Pentagon gelieferte Ausrüstung geplündert hätten. Er beklagte, dass die afghanischen Truppen zwar „schöne Gewehre besaßen, aber nicht gewusst hatten, wie man sie benutzt“. Sie hätten undiszipliniert gekämpft und Munition verschwendeten, weil sie „ständig schießen wollten“.
Andere Beamte beschreiben in den Interviews die afghanischen Sicherheitskräfte schlichtweg als inkompetent, unmotiviert, schlecht ausgebildet, korrupt und von Deserteuren und Infiltration durchsetzt.
Am Spätnachmittag des 14. August konnte die Bilanz der afghanischen Streitkräfte nur noch als desaströs bezeichnet werden. Um 17:16 Uhr MESZ meldete die amerikanische Nachrichten-Website The Long War Journal: „Fünf der sieben Armeekorps Afghanistans sind besiegt – das 203. Korps in Gardez/Provinz Paktia, das 205. Korps in Kandahar/Provinz Kandahar, das 207. Korps in Herat/Provinz Herat und das 217. Korps in der Nordprovinz Kunduz.“ Knapp zwei Stunden später, um 19:18 Uhr MESZ, hörte auch das 209. Korps in Mazar-e Sharif auf zu existieren.
Auch die Soldaten des „209.“ ergaben sich den Taliban oder hatten zuvor bereits panisch die Flucht angetreten. Die Auflösungserscheinungen des „Shaheen“-Verbandes („Falcon“-Verbandes) hatten damit begonnen, dass sich Korps-Befehlshaber General Khanullah Shuja am 9. August nach ersten Angriffen der Taliban auf die Stadt beim Verteidigungsministerium in Kabul krankmeldete und zur Behandlung in die Hauptstadt fliegen wollte (später floh Shuja außer Landes). Sein Nachfolger, Generalmajor Zabihullah Mohmand, zog später ebenfalls die Flucht vor, als sich der Fall der Stadt Mazar-e Sharif abzeichnete.
US-Präsident Joe Biden verteidigt trotz des rasanten Vormarsches der Taliban den Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan weiterhin vehement. „Ein weiteres Jahr oder fünf weitere Jahre US-Militärpräsenz hätten keinen Unterschied gemacht, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht halten kann oder will“, so lautete am gestrigen Samstag ein Statement aus dem Weißen Haus. Ein endloses amerikanische Engagement inmitten eines Bürgerkriegs in einem anderen Land sei für ihn nicht akzeptabel gewesen, erklärte Biden.
In der Mitteilung des Präsidenten heißt es wörtlich: „In den vergangenen 20 Jahren, in denen unser Land in Afghanistan Krieg geführt hat, hat Amerika seine besten jungen Männer und Frauen entsandt, fast eine Billion Dollar investiert, mehr 300.000 afghanische Soldaten und Polizisten ausgebildet, sie mit modernster militärischer Ausrüstung ausgestattet und ihre Luftwaffe im Rahmen des längsten Krieges in der Geschichte der USA unterhalten. Ein weiteres Jahr oder fünf weitere Jahre der US-Militärpräsenz hätten keinen Unterschied gemacht, wenn das afghanische Militär sein eigenes Land nicht halten kann oder will.“
Biden weiter : „Als ich mein Amt antrat, erbte ich ein Abkommen, das mein Vorgänger [Anm.: Donald Trump] ausgehandelt hatte – und zu dem er sogar die Taliban am Vorabend des 11. September 2019 nach Camp David einlud. Dies alles versetzte die Taliban in die stärkste militärische Position seit 2001 und setzte den US-Truppen eine Frist bis zum 1. Mai 2021. Kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt reduzierte mein Vorgänger die amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan noch auf ein Minimum von 2500 Mann.“ Und: „Als ich Präsident wurde, stand ich demnach vor der Wahl: Entweder ich halte mich an die Abmachung, mit einer kurzen Verlängerung, um unsere Streitkräfte und die unserer Verbündeten sicher aus dem Land zu bringen, oder ich verstärke unsere Präsenz und schicke noch mehr unserer Truppen in den Kampf in einem Bürgerkrieg eines anderen Landes. Ich war der vierte Präsident, der eine amerikanische Truppenpräsenz in Afghanistan leitete – zwei Republikaner, zwei Demokraten. Ich kann nicht und ich werde nicht diesen Krieg an einen fünften US-Präsidenten weitergeben.“
Zum Schluss noch eine berufene Stimme zur dramatischen Entwicklung in Afghanistan. Der Historiker Heinrich August Winkler blickt mit großer Sorge auf die Entwicklung in dem zentralasiatischen Land. Der 82-Jährige sagte der Heilbronner Stimme (Samstagausgabe): „Wir müssen mit einem schrecklichen Ende rechnen, das ältere Beobachter an das Jahr 1975 zurückdenken lassen wird. Ich kann mich lebhaft erinnern an die Bilder von den Hubschrauberflügen der Amerikaner, mit denen sie dann noch einige ihrer südvietnamesischen Verbündeten aus dem belagerten Saigon zu retten versuchten. Man muss kein Pessimist sein, um zu befürchten, dass sich solche Szenen im Kabul von 2021 wiederholen könnten.“
Winkler gilt als einer der wichtigsten deutschen Zeithistoriker. Im Bundestag hatte er am 8. Mai 2015 die Hauptrede zum 70. Jahrestag des Kriegsendes gehalten. Die Leipziger Buchmesse ehrte ihn 2016 mit dem Preis zur Europäischen Verständigung. Die Auszeichnung galt seinem vierbändigen Opus magnum „Geschichte des Westens“, das er 2015 mit dem Band „Die Zeit der Gegenwart“ abschloss. Winkler lehrte von 1972 bis 1991 als Professor in Freiburg, danach an der Humboldt-Universität in Berlin.
In seinem Interview mit der Heilbronner Stimme führte er weiter aus: „Der islamistische Terrorismus ist seit 9/11 eine Bedrohung, mit der die Welt leben muss. Der transatlantische Westen wird zudem herausgefordert durch den Aufstieg der Volksrepublik China zur Weltmacht und die autoritäre Stabilisierung Russlands unter Putin. Weitere Machtzentren sind hinzugekommen. Die Macht des Westens hat, verglichen mit der Zeit um die Jahrtausendwende, erheblich abgenommen.“
Winklers abschließendes Urteil fällt für die Vereinigten Staaten und den Westen wenig schmeichelhaft aus. Im Gegenteil! Der Historiker kritisiert: „In Afghanistan haben die USA nie ernsthaft ein ,Nation-building‘ versucht. Das haben sie den Europäern und vor allem den Deutschen überlassen, die damit überfordert waren und sich sicherlich auch manche Illusion mit Blick auf die Umformbarkeit einer zutiefst traditionell geprägten Gesellschaft gemacht haben. Beim Irakkrieg haben sich die USA unter George W. Bush, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und den anderen neokonservativen Akteuren dem Wunschdenken hingegeben, sie könnten dort die Demokratie mit militärischen Mitteln – gewissermaßen im Tornister der GIs – einführen.“
Zu unserer Bildauswahl:
1. Taliban-Kämpfer am 14. August 2021 in Mazar-e Sharif.
(Fotoquelle: Twitter)
2. Ein markanter Ort im Camp Marmal war der Ehrenhain der Bundeswehr für die gefallenen Kameraden. Im Zentrum des Ehrenhains: ein 27 Tonnen schwerer Findling aus dem nahegelegenen Marmal-Gebirge. Der Ehrenhain wurde mittlerweile Stück für Stück nach Deutschland gebracht. Voraussichtlich Ende 2022 soll die Gedenkstätte dann im leicht verkleinerten Maßstab an einem eigens vorgesehenen Platz im „Wald der Erinnerung“ auf dem Gelände der Henning-von-Tresckow-Kaserne nahe Potsdam wiedererrichtet werden. Dort befinden sich bereits die Ehrenhaine aus den ehemaligen afghanischen Feldlagern Kunduz, Faizabad, OP North und Kabul. Die Gedenkstätten für die Toten des Einsatzes am Hindukusch haben so in der Heimat einen würdevollen Platz erhalten.
(Foto: Sabine Oelbeck/Bundeswehr)
3. Übergabe von Camp Marmal und des angrenzenden Flugfeldes am 7. Juni 2021 an die Afghanen. Die Aufnahme zeigt den Kontingentführer des deutschen Einsatzkontingents „Resolute Support“, Brigadegeneral Ansgar Meyer, und General Mohammed Saheer Nasari als Vertreter einer Delegation des afghanischen Verteidigungsministeriums.
(Foto: Torsten Kraatz/Bundeswehr)
4. Prof. em. Dr. Heinrich August Winkler am 19. Juni 2014 bei der Außenpolitischen Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin.
(Foto: Stephan Röhl/Wikipedia/Wikimedia Commons/unter Lizenz BY-SA 3.0 –
vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/
5. Die Grafik der amerikanischen Nachrichten-Website The Long War Journal zeigt die Lage in Afghanistan im Laufe des 14. August 2021. Rechts aufgelistet die zu diesem Zeitpunkt in die Hände der Taliban gefallenen Städte. Mazar-e Sharif sollte die Verlustliste am späten Samstagnachmittag noch ergänzen. Die rot eingefärbten Provinzen waren zum Zeitpunkt der Grafikerstellung bereits in der Hand der Regierungsgegner, nur noch wenige Provinzen waren umkämpft, kaum noch Provinzen unter Regierungskontrolle.
(Bildschirmfoto: Quelle The Long War Journal; grafische Bearbeitung: mediakompakt)
6. bis 10. Bildmaterial aus dem Bereich des Kurznachrichtendienstes Twitter, das den Vormarsch der Taliban im August 2021 dokumentiert. Auf zwei Aufnahmen sind auch einige Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte (mit Helm) zu sehen, die offenbar die Seiten gewechselt haben.
(Fotoquelle: Twitter)
Kleines Beitragsbild: Das Symbolfoto „Taliban auf dem Vormarsch“ stammt vom Propagandakanal „Islamic Emirate of Afghanistan – alemarah“. Die Aufnahme vom 13. Juni 2021 zeigt, so der Begleittext von Alemarah Media, Kämpfer nach ihrer erfolgreichen Ausbildung im „Abdullah bin Mubarak Jihad Training Camp“.
(Foto: Alemarah Media)
Es werden sicherlich noch tausende Kommentare und Analysen zu den Ereignissen in Afghanistan in der nächsten Zeit zu lesen und zu hören sein.
Fest steht auf jeden Fall: Eine komplette, gut ausgerüstete Armee (etwa 300.000 Soldaten) desertiert oder läuft über. Niemand stellte sich meines Wissens den Taliban entgegen. Dies kann doch nur bedeuten, dass das zu erwartende Emirat für die Bevölkerung – von einer nicht kampfwilligen Minderheit vielleicht abgesehen – keinen Schrecken darstellt. Hören wir auf, andere Länder und Regionen dieser Welt mit unseren Maßstäben zu betrachten.
Der Einsatz in Afghanistan hat die westliche Welt sicherlich vor noch mehr Terroranschlägen geschützt und den Afghanen 20 Jahre lang die Gelegenheit gegeben, sich ihre Staatsform auszusuchen.
Afghanistan hat sich durch die Passivität seiner Soldaten und seiner Bevölkerung für eine Staatsform entschieden. Hören wir auf, uns selbst zu bemitleiden und uns gegenseitig die Schuld zu geben.