Über das populäre Bild von der Wehrmacht
2020
Paderborn/München/Berlin. Es waren zwei Wanderausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS), die sich in den Jahren 1995 bis 1999 und 2001 bis 2004 um die Wahrheit bemühten. Dass auch ganz gewöhnliche Wehrmachtssoldaten in den Feldzügen des Adolf H. Kriegsverbrechen begangen hatten, war bis zur Eröffnung dieser Geschichtsschau in Hamburg am 5. März 1995 – dem 50. Jahrestag des Kriegsendes – zumeist nur unter Zeithistorikern eine akzeptierte Tatsache. Bis dahin war in Deutschland, West wie Ost, das Verhältnis zur Vergangenheit von „strategischer Amnesie“ geprägt gewesen. So hatte die deutsche Journalistin und Publizistin Caroline Fetscher einmal im Tagesspiegel die Generationenlüge von der „sauberen Wehrmacht“ bezeichnet. Es war die Lüge, die getarnt als Mythos lange Zeit überdauerte und in unzähligen west- und ostdeutschen Familien sorgsam gepflegt wurde …
Die Wehrmachtsausstellung des HIS – die erste Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ und die überarbeitete zweite Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 bis 1944“ – sahen fast eineinhalb Millionen Besucher. Laut Fetscher war das historische Projekt „ein zentraler Aufklärungsschub für Deutschland, eine breitenpädagogische Großleistung“ gewesen.
Wirkt das bis heute nach? Die Autoren des Buches „So war der deutsche Landser …“ haben da so ihre Zweifel. Denn vor der historisch-kritischen Aufarbeitung der Wehrmachtsvergangenheit hatten sich offenbar schon mächtige Nachkriegsinszenierungen derart in der Gesellschaft festgesetzt, dass sogar eine „breitenpädagogische Großleistung“ wie die Wehrmachtsausstellung mittlerweile an Wirkkraft eingebüßt hat. Dies zumindest ist das Fazit eines zweitägigen Workshops im Juli 2016, der sich intensiv mit der „populären und populärwissenschaftlichen Darstellung der Wehrmacht“ befasste.
Veranstalter der Fachtagung in München war der „Arbeitskreis Militärgeschichte e.V.“, ihn unterstützten damals das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr sowie der Verlag Ferdinand Schöningh.
Im Schöningh-Verlag erschienen ist auch das Buch „So war der deutsche Landser …“, herausgegeben von Jens Westemeier (Westemeier ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universitätsklinik der Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen/Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin). Die Publikationen beruht im Wesentlichen auf Vorträgen des Münchener Workshops aus dem Jahr 2016.
Als Fazit der enthaltenen Buchbeiträge lässt sich sagen: Das gesellschaftliche, populäre Bild der Wehrmacht ist auch 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiterhin positiv besetzt. Im Selbstbild deutscher Familien werden die Kriegsteilnehmer – Väter und Großväter – überwiegend als „anständige Soldaten“ gezeichnet.
Fachleute aus dem In- und Ausland – unter ihnen Historiker, Medienexperten, Museumsleiter, Musik- und Literaturwissenschaftler sowie Pädagogen und Publizisten – zeigen in diesem Gemeinschaftswerk, dass trotz gegenteiliger Ergebnisse und Argumente der Geschichtswissenschaft die Legende von der „sauberen Wehrmacht“ weiterlebt. Sie haben dabei untersucht, mit welchen Mitteln dies – etwa über Fach- und Sachbücher, Romane, Spielfilme, Fernsehdokumentationen oder Neue Medien – geschieht und dabei herausgearbeitet, wie in den Medien die „Faszination Wehrmacht“ zum verkaufsfördernden Selbstzweck wird. Ein Mythos, mit dem sich gutes Geld verdienen lässt!
Populärwissenschaftliche Publikationen zur Wehrmacht, zur Waffen-SS und zum Zweiten Weltkrieg zählen nach wie vor zu den auflagenstärksten Titeln des deutschen Buchmarktes. Ihre Erzählmuster scheinen sich seit den 1950er-Jahren nicht wesentlich geändert zu haben: Die Wehrmacht wird als hochprofessionelle Armee dargestellt, ihre Generäle als geniale Strategen, die einfachen Soldaten als tapfere Landser. Kriegsverbrechen und Holocaust werden ausgeblendet. Oder wie Hannes Heer, Initiator und verantwortlich für die inhaltliche Gesamtleitung der ersten Wehrmachtsausstellung (1995 bis 1999), es einmal auf den Punkt gebracht hat: „Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei.“
Im Sommer 2016 hatte auch die Politikwissenschaftlerin Isabell Trommer mit „Rechtfertigung und Entlastung: Albert Speer in der Bundesrepublik“ ein Buch veröffentlicht, das Aufsehen erregte. Die in der Wissenschaftlichen Reihe des Fritz Bauer Instituts erschienene Studie untersucht die Wahrnehmung Speers, des früheren NS-Rüstungsorganisators und verurteilten Kriegsverbrechers, in der deutschen Öffentlichkeit von den 1960er-Jahren bis in die Gegenwart. Im Mittelpunkt stehen dabei Rechtfertigungsdiskurse, die nicht nur den Umgang mit Speer selbst geprägt haben, sondern auch viel über das Verhältnis der Bundesrepublik zum Nationalsozialismus und die Grundzüge ihrer politischen Kultur verraten. Ein Kritiker schrieb über Trommers „Speer-Buch“: „Die Arbeit überzeugt durch die minutiöse Rekonstruktion der Erklärungs- und Rechtfertigungsdiskurse, die eben nicht nur für einzelne Protagonisten wie Speer, sondern für die vielen Millionen ,Verstrickten‘ charakteristisch waren und noch immer sind, und deren Rückbindung an zeitgenössische Trends und Muster im Umgang mit der NS-Vergangenheit.“
Auch Isabell Trommer hat den Band, der das Ansehen der Wehrmacht hinterfragt, gelesen. Sie beruhigt uns, wenn sie in der Süddeutschen Zeitung über „So war der deutsche Landser …“ schreibt: „Gegenwärtig macht [Herausgeber Westemeier] eine Entwicklung aus, die ,schon überwunden geglaubte Mythen über die Wehrmacht und die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg wiederbelebt‘, doch für diese These finden sich nur wenige Belege.“ Und weiter heißt es in ihrer Rezension: „Populäre Bilder der Wehrmacht bleiben gewiss wirksam, wie Westemeier an anderer Stelle schreibt, oder finden neue Formen; von einer allgemeinen Renaissance der Legende muss man deshalb nicht ausgehen.“
Vielleicht helfen gegen das beharrliche Verdrängen der beschämenden Wahrheit und die hingebungsvolle Pflege der trügerischen Legende auch immer wieder mutige, engagierte Vorhaben wie etwa die Herausgabe einer unbequemen Publikation. Gemeinsam mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand stellt das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) am 30. Januar den neuesten Band aus der Reihe „Krieg der Moderne“ vor. Der Titel: „Die Wehrmacht – Krieg und Verbrechen“, von Michael Epkenhans und John Zimmermann.
Epkenhans ist Historiker mit Schwerpunkt „Militär- und Marinegeschichte“, Zimmermann ist Offizier und Militärhistoriker am ZMSBw. Im Klappentext ihrer Arbeit heißt es: „Der Zweite Weltkrieg wurde von der Wehrmacht als verbrecherischer Angriffs-, Raub und Vernichtungskampf geführt. Adolf Hitler weihte die Heeresführung frühzeitig in seine Expansions- und Vernichtungspläne ein. Die Soldaten verübten nicht nur zahlreiche Kriegsverbrechen, insbesondere auch in Osteuropa, sie waren auch aktiv und wissentlich am Holocaust beteiligt. Entsprechend schwer fiel es der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Erbe der Wehrmacht zu finden.“
Über die aufrüttelnde Wehrmachtsausstellung der Jahre 1995 bis 2004 sagte Caroline Fetscher einst: „Die Ausstellung fiel in eine Epoche, in der Zeitzeugen wie Eltern und Großeltern Auskunft geben konnten. Auch darum war sie ein Glücksfall, für das Gedächtnis und Gespräch einer Gesellschaft.“ Hoffen wir das auch für das Buch von Epkenhans und Zimmermann. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hans-Peter Bartels, wird es an diesem Donnerstag präsentieren.
Bildhinweise: Das Cover des Buches „So war der deutsche Landser …“ zeigt im oberen Bereich eine Kampfszene aus Stalingrad vom 7. Oktober 1942, im unteren Bereich ein Aufnahme aus dem Film „08/15“.
(Bild oben: PK Wehrmacht, Bundesarchiv/Verlag Ferdinand Schöningh;
Bild unten: Ullsteinbild)