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Berlin/Brüssel/London. Der frühere Verteidigungsminister Thomas de Maizière soll Deutschland im sogenannten NATO-Reflexionsprozess zur Stärkung der politischen Zusammenarbeit innerhalb des Bündnisses vertreten und dabei – gemeinsam mit dem Amerikaner Wess Mitchell – federführend die Beratungen einer Expertengruppe leiten. Dies teilte die NATO am gestrigen Dienstag (31. März) mit. Die aus je fünf Männern und fünf Frauen bestehende Expertenrunde soll unter dem Patronat von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenbergs bis zu einem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im kommenden Jahr Vorschläge für einen stärkeren Zusammenhalt der Mitgliedstaaten ausarbeiten.

Der Reflexionsprozess ist beim Jubiläumsgipfel zum 70. Bestehen der NATO in London im Dezember vergangenen Jahres von den Staatsoberhäuptern auf den Weg gebracht worden. Als Initiator gilt der deutsche Außenminister Heiko Maas, der nach massiver Kritik des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im Vorfeld des Gipfels die Geburtstagsfeier an der Themse (3. und 4. Dezember) gefährdet sah.

Macron hatte am 7. November in einem Interview mit der englischsprachigen Wochenzeitung The Economist ein düsteres Bild vom Zustand der NATO gezeichnet und besonders die Türkei und die USA scharf kritisiert. Auch die Bundesregierung war dabei nicht gut weggekommen.

Über den „Hirntod der NATO“ und strategische Herausforderungen der Zukunft

Macron hatte vor allem mit Blick auf die Geschehnisse in Syrien das „unkoordinierte, aggressive“ Vorgehen Ankaras gerügt. An die Adresse der Weißen Hauses gerichtet hatte er beklagt: „Wir finden uns das erste Mal mit einem amerikanischen Präsidenten wieder, der unsere Idee des europäischen Projekts nicht teilt.“ Die deutsche Sparpolitik schließlich hatte der französische Präsident als falsch bewertet, es brauche stattdessen „mehr Expansion und mehr Investitionen“.

Emmanuel Macrons Zustandsbeschreibung gipfelt in dem provokanten Satz: „Was wir gerade erleben, ist für mich der Hirntod der NATO“. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zwar postwendend geantwortet und versichert, dies sei keinesfalls ihre Sicht, vielmehr sei und bleibe die NATO „Eckpfeiler unserer Sicherheit“. Doch die Sinnkrise der Allianz war nach der „Hirntod-Diagnose“ offenkundig.

Der Reflexionsprozess soll nun – so die Zielvorgaben aus Brüssel – Empfehlungen zur Stärkung der Einheit innerhalb der Allianz aussprechen, Vorschläge für eine Stärkung der politische Rolle des Bündnisses unterbreiten und die Abstimmung insgesamt unter den Alliierten verbessern.

In einem Pressebeitrag des Bundesministeriums der Verteidigung heißt es zum demnächst beginnenden „Reflexionsprozess“: „Der Reflexionsprozess wird einen strategischen Blick auf die Herausforderungen werfen, vor denen die Allianz militärisch, politisch und technologisch steht – dies aber auch im Hinblick auf den inneren Zusammenhalt der NATO angesichts der zunehmenden Erosion der globalen Ordnung. Gleichzeitig soll das Gremium einen Beitrag zur Stärkung des transatlantischen Verhältnisses leisten.“ Um Sicherheit und Freiheit in Deutschland und Europa zu gewährleisten, blieben das transatlantische Band und die US-Sicherheitsgarantien für Europa weiterhin die zentralen Elemente.

Ein überzeugter Transatlantiker an der Seite de Maizières

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Außenminister Heiko Maas haben am heutigen Mittwoch (1. April) bereits den Verteidigungs- und den Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages über den bevorstehenden Start des NATO-Reflexionsprozesses informiert.

Die Expertengruppe um den ehemaligen Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière besteht aus Anja Dalgaard-Nielsen (Dänemark), Hubert Védrine (Frankreich), John Bew (Großbritannien), Marta Dassù (Italien), Greta Bossenmaier (Kanada), Herna Verhagen (Niederlande), Anna Fotyga (Polen), Tacan Ildem (Türkei) sowie Wess Mitchell (Vereinigte Staaten). De Maizières Ko-Vorsitzender Mitchell leitete bis Februar 2019 die Europa-Abteilung im US-Außenministerium und war in dieser Funktion auch für die NATO zuständig. Der 43-Jährige hat in Berlin promoviert und bezeichnet sich als „überzeugten Transatlantiker“.

Verteidigungsexpertin der SWP sieht drei mögliche Optionen

Claudia Major, Verteidigungsexpertin der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), hatte sich kurz nach dem Bündnisgipfel von London mit dem Thema „Die NATO und Europas Verteidigung: Veränderung über Institutionen hinweg denken“ und dem kommenden Reflexionsprozess („der das Bündnis zusammenschweißen soll“) befasst. Sie hat drei Optionen für diesen Prozess der Selbstbesinnung ausgemacht.

Erstens: eine technische Lösung. Hier würden sich die Verbündeten auf praktische Fragen konzentrieren, meint Major. Ziel wäre es, die von Macron angesprochenen und von vielen Alliierten zumindest ansatzweise geteilten Probleme in einen internen Prozess zu übersetzen, zu kanalisieren und damit zu entschärfen. Bei diesem Ansatz ginge es mehr um „Problemeinhegung“ und Glaubwürdigkeitswahrung als darum, die politisch-strategischen Streitthemen offen anzugehen. Die Leiterin der SWP-Forschungsgruppe „Sicherheitspolitik“: „Der NATO fehlt es kaum an Formaten, sondern vielmehr an der Bereitschaft einzelner Staaten, sich abzusprechen.“ Denjenigen, die die Meinungsverschiedenheiten beilegen möchten, bliebe zudem die Hoffnung, dass diese sich von selbst lösen. Beispielsweise durch die Wahl eines US-Präsidenten Ende 2020, der Europa freundlicher gesinnt ist als Trump.

Zweitens: der politische Fokus. Major erläutert: „Die Alliierten würden [hierbei] ernsthaft über strategische Prioritäten, Probleme und die Zukunft der NATO diskutieren und versuchen, ihre Differenzen zu klären. Frankreich hat bereits Themen vorgeschlagen: strategische Stabilität in Europa; die Definition der NATO-Aufgaben mit Bezug auf Terrorismus, Russland und China; Rechte und Pflichten von Alliierten. Hier ginge es nicht mehr bloß um die Verbesserung von Abläufen, sondern um politische Grundsätze.“ Die Forscherin macht aber auch darauf aufmerksam: „Solche Debatten können die Unterschiede zwischen den Alliierten noch schärfer hervortreten lassen, die Fragmentierungstendenzen verstärken und die NATO letztlich lähmen. Vielen Staaten erscheint das geradezu fahrlässig für ein Verteidigungsbündnis, das sie als ihre Lebensversicherung ansehen.“

Die dritte Option: ein gemeinsames Nachdenken von Europäern und Nordamerikanern über die Zukunft von Europas Verteidigung. Alleine die Veränderung der geostrategischen Weltlage („mehr USA in und für Asien bedeutet weniger USA in Europa“), das Schrumpfen einer gemeinsamen transatlantischen Werte- und Interessenbasis oder nachteilige Entwicklungen in Europa wie der Brexit erfordern nach Ansicht von Claudia Major unverbrauchte Antworten auf neue Herausforderungen. Sie gibt zu bedenken: „Die NATO mit den USA gelten derzeit als Europas Lebensversicherung, doch wenn sich die Rahmenbedingungen fundamental ändern, muss die gesamte Verteidigung Europas neu gedacht werden.“ Dies würde bedeuten: „Ein über die Institutionen hinausgehender Reflexionsprozess mit politischem Mandat wäre Neuland. Um ihn zum Erfolg zu führen, bräuchte es frische, kreative Ideen. Diese könnten von einer ebenso frischen und kreativen externen Expertengruppe kommen, die Ideen aus Europa, den USA und Kanada einbindet und Europas Verteidigung 2030 skizziert.“

„Und wenn Du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis“

Der außenpolitische Experte der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Jürgen Trittin nahm am heutigen Mittwoch Stellung zur „Allianz im Krisen-Modus“. Mit Hinweis auf die Kritik des französischen Staatspräsidenten Macron warnte Trittin: „Die Krise der NATO ist unübersehbar. Die USA treffen unilateral Entscheidungen, die NATO-Partner tragen die Konsequenzen – sei es im Iran, sei es in Syrien, sei es im Sahel. Die Türkei bricht in Nordsyrien das Völkerrecht, gefährdet französische und amerikanische Soldaten und bittet anschließend die NATO-Partner um Unterstützung.“

Die Einberufung einer „Reflexionsgruppe“ um den ehemaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière folge der Logik „Wenn Du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis“, kritisierte der Bundestagsabgeordnete. Dadurch würden aber nicht die handfesten Interessengegensätze innerhalb des Bündnisses verschwinden.


Die Aufnahme zeigt NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg beim Jubiläumsgipfel im Dezember 2019 in London. Hier beauftragten ihn die Mitgliedstaaten mit der Bildung eines Gremiums für den sogenannten „Reflexionsprozess“. Der frühere deutsche Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière soll den Reflexionsprozess zur Stärkung der politischen Zusammenarbeit innerhalb der NATO vorantreiben. De Maizière wird die Expertenrunde – insgesamt bestehend aus fünf Männern und fünf Frauen – gemeinsam mit dem Amerikaner Wess Mitchell leiten. Generalsekretär Stoltenberg trägt die Gesamtverantwortung für das Projekt der Standort- und Kursbestimmung.
(Foto: NATO)

Kleines Beitragsbild: NATO-Gipfel am 3. und 4. Dezember 2019 in London – Beratung der Staats- und Regierungschefs der Bündnisstaaten. Die Idee zu einem NATO-Reflexionsprozess war hier von Außenminister Heiko Maas eingebracht worden.
(Foto: NATO)


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