Kabul/New York/Brüssel/Berlin. Der 5. September hat den Lauf der Dinge noch einmal verändert. An diesem Donnerstag starben bei einem Anschlag auf einen Kontrollposten im Zentrum der afghanischen Hauptstadt Kabul ein Dutzend Menschen, unter den Opfern zwei NATO-Soldaten – ein Amerikaner und ein Rumäne. Zu der Tat bekannten sich die radikalislamischen Taliban. Es war der vierte große Angriff der Regierungsgegner innerhalb von fünf Tagen. US-Präsident Donald Trump sagte daraufhin am Wochenende die Friedensverhandlungen mit den Taliban, die bereits seit einem Jahr Gespräche mit den USA über eine Beilegung des rund 18 Jahre dauernden Konflikts führen, frustriert ab. US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad hatte noch kurz zuvor versichert, man habe sich „grundsätzlich“ auf ein Abkommen mit dem Gegner geeinigt. Dazu hätte auch ein Truppenabzug der Amerikaner gehört. Jetzt wurde bekannt, dass die Bundeswehr ebenfalls von einer Reduzierung der westlichen Truppen in Afghanistan betroffen gewesen wäre.
Eine Vereinbarung der USA mit den Taliban hätte auch Auswirkungen auf die deutsche Truppenpräsenz am Hindukusch gehabt. Dies berichtete am 25. September die Deutsche Presse-Agentur (dpa). Nach dpa-Informationen war vorgesehen, dass im Zuge eines Abkommens mit den Aufständischen nicht nur das US-Militär, sondern auch alle anderen NATO-Partner ihre Truppenpräsenz in Afghanistan deutlich reduzieren. Hätten die USA beispielsweise 30 Prozent ihrer Soldaten abgezogen, so hätten demnach auch Deutschland und andere Bündnispartner bis zu 30 Prozent ihrer Soldaten zurück in die Heimat verlegt.
Die Bundeswehr beteiligt sich momentan (Stand 23. September) mit 1191 Soldaten an der „Resolute Support Mission“ am Hindukusch. Zu dem Kontingent gehören 102 Frauen, 77 Kontingentangehörige sind Reservisten. Das aktuelle Mandat des Deutschen Bundestages für die Beteiligung der Bundeswehr an der „Resolute Support Mission“ in Afghanistan, das am 31. März 2020 endet, sieht eine personelle Obergrenze von 1300 Soldaten für diesen Auslandseinsatz vor.
Zurzeit sind Schätzungen zufolge zwischen 13.000 und 14.000 US-Soldaten in Afghanistan stationiert. Rund 8500 davon waren zuletzt an dem NATO-Ausbildungseinsatz „Resolute Support“ beteiligt. 4500 bis 5500 GIs unterstützen unter anderem an der Seite der afghanischen Sicherheitskräfte direkt den Anti-Terror-Kampf im Land.
Präsident Trump hatte kurz vor dem Stopp der Verhandlungen angekündigt, die Zahl der US-Truppen in Afghanistan im Fall eines „Deals“ mit den Taliban „in einem ersten Schritt auf 8600 Mann“ verringern zu wollen. In diesem Zusammenhang hatte auch US-Sondergesandter Khalilzad in Aussicht gestellt, dass die USA „innerhalb von 135 Tagen rund 5000 Soldaten von fünf Stützpunkten in Afghanistan“ abziehen könnten. Die Reduzierung der NATO-Truppen war vor allem als konstruktiver Beitrag zum Friedensprozess und als Zeichen des guten Willens an die Taliban gedacht.
Trump hatte sich unmittelbar nach dem Anschlag von Kabul am 8. September auf Twitter geäußert: „Wenn sie [die Taliban] während dieser äußerst wichtigen Friedensgespräche keinen Waffenstillstand vereinbaren können und sogar zwölf unschuldige Menschen töten, dann haben sie wahrscheinlich ohnehin nicht die Macht, ein bedeutsames Abkommen auszuhandeln. Wie viele Jahrzehnte wollen eigentlich sie noch kämpfen?“ Zugleich hatte er in einer weiteren Twitter-Nachricht verraten, ein Geheimtreffen in seinem Sommersitz Camp David mit hochrangigen Talibanführern und Afghanistans Staatspräsident Ashraf Ghani geplant zu haben, das nun ebenfalls hinfällig sei.
Der Abschluss eines Friedensabkommens scheint nach der Entscheidung des amerikanischen Präsidenten, die Verhandlungen zwischen Vertretern der US-Regierung und Vertretern der Taliban in der katarischen Hauptstadt Doha auf Eis zu legen, in weite Ferne gerückt.
Allerdings gibt es auch etliche sicherheitspolitische Analysten, die die Entscheidung Trumps als „vorübergehende Maßnahme“ einstufen. So sagte beispielsweise der im pakistanischen Karatschi lebende Sicherheitsexperte Ali K. Chishti der Deutschen Welle: „Wie wir den US-Präsidenten kennen, ist es höchstwahrscheinlich eine Botschaft an die Taliban, dass Gewalt und Gespräche nicht zusammenpassen können. Ich glaube, dass alle Konfliktparteien ein Friedensabkommen wollen.“ Der ehemalige Stellvertretende Verteidigungsminister Afghanistans Ahmad Tamim Asi sprach ebenfalls mit der Deutschen Welle – seine Einschätzung: „Ich denke, es ist ein taktischer Schritt von Trump, um die Talibanführung zu zwingen, die Gewalt zu reduzieren und einen Waffenstillstand zu verkünden.“
Die Taliban und die Amerikaner verhandeln seit Juli 2018 miteinander. Die neunte Verhandlungsrunde hatte am 23. August dieses Jahres in Doha begonnen. Es hätte die letzte sein sollen.
Oder ist man gar schon wieder klammheimlich an den Verhandlungstisch zurückgekehrt? Am 26. September beantwortete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach einem Vortrag an der Columbia University (School of International and Public Affairs, SIPA) in New York City noch einige Fragen seiner Zuhörerschaft. Zum Themenkomplex „Afghanistan“ führte der Norweger aus: „Unsere militärische Präsenz in Afghanistan soll dort die Voraussetzungen für eine politische Lösung schaffen. Allerdings werden wir in dem Land nicht länger als nötig bleiben. Deshalb haben auch die NATO und ich die Bemühungen der USA um eine politische Lösung sehr begrüßt – ich spreche von den Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban. Diese Verhandlungen haben in enger Abstimmung mit allen NATO-Verbündeten stattgefunden, weil wir uns in Afghanistan ja auch gemeinsam engagieren.“
Dann sagte Stoltenberg überraschenderweise: „Und wir haben auch die Wiederaufnahme der Friedensgespräche begrüßt, denn sie wurden vor einigen Wochen beendet.“ Meinte der Generalsekretär den Stopp, den der amerikanische Präsident ausgerufen hatte? Es darf spekuliert werden!
Stoltenberg jedenfalls schloss seine Ausführungen zu Afghanistan an der Columbia SIPA mit der Forderung: „Um ein Ergebnis zu erzielen, ein Abkommen, müssen die Taliban echte Kompromissbereitschaft zeigen und ein Abkommen schließen, das glaubwürdig dafür sorgt, dass Afghanistan nicht wieder zu diesem ,sicheren Hafen für den Internationalen Terrorismus‘ wird. Deshalb glauben wir auch, dass ein gutes Geschäft wichtiger ist als ein schnelles.“
Man müsse auch sehen und verstehen, so der NATO-Chef in New York weiter, dass sich die militärische Präsenz des Bündnisses in Afghanistan bereits grundlegend verändert habe. Es sei noch nicht lange her, dass die NATO mehr als 140.000 Soldaten für eine große Kampfoperation in Afghanistan gestellt habe. Jetzt gehörten nur noch rund 16.000 Soldaten zu einer Mission, die sich hauptsächlich auf die Ausbildung und Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte konzentriere. Es sei nun an den Afghanen, an vorderster Front gegen die Taliban zu kämpfen.
Stoltenberg fasste zusammen: „Wir werden also in Afghanistan bleiben, aber wir werden dann auch für eine politische Lösung arbeiten. Wir sind fest davon überzeugt, dass unsere militärische Präsenz dabei helfen kann, die Voraussetzungen für eine politische Lösung zu schaffen. Die Taliban müssen verstehen, dass sie auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen können – sie müssen sich an den Verhandlungstisch setzen und echte Kompromisse eingehen. Aber um diese Bedingungen zu schaffen, müssen wir unsere militärische Präsenz in Afghanistan beibehalten.“
Dass die direkten Verhandlungen der USA mit den Radikalislamisten nicht nur Zustimmung finden, ist bekannt. Peter Winkler, seit 1991 in der Auslandredaktion der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und seit 2011 US-Korrespondent des Blattes in Washington, schrieb am 8. September: „Der Friedensplan, den der amerikanische Sondergesandte Zalmay Khalilzad mit Vertretern der Taliban in monatelangen Verhandlungen in Doha zusammengezimmert hatte, war vielen Beteiligten suspekt. Die plötzliche Kehrtwende Präsident Trumps erschien in ihren Augen nicht wie ein Scheitern, sondern wie das Ziehen der Notbremse.“
Und in der Tat fehlte und fehlt es nicht an Kritikern, die den Dialog mit den Aufständischen grundsätzlich für falsch halten. John Bolton etwa, bis zum 10. September Trumps Sicherheitsberater, war stets davon überzeugt, dass man den Taliban nicht trauen dürfe (Bolton, ein außenpolitischer Hardliner, wurde am 10. September von Trump entlassen, pocht nun aber immer noch darauf, dass er von sich aus seinen Rücktritt angeboten habe). Nicht wenige Diplomaten und Militärs erinnern immer wieder an die Erfahrungen und Fehler, die die Regierung Obama im Irak gemacht hatte – der damals übereilte, vor allem politisch bedingte Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 hatte in letzter Konsequenz mit zum Entstehen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ und zur Ausbreitung dieses IS im Irak und in Syrien beigetragen.
Auch in NATO-Kreisen wurde und wird befürchtet, dass es im Fall eines raschen Truppenabzugs aus Afghanistan wieder zu einer Destabilisierung des Landes und zu Rückschritten bei Demokratie und Menschenrechten kommen könnte.
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer etwa warnte am 14. September in Leipzig bei einer Veranstaltung der Frauen-Union vor einem übereilten Abzug der Bundeswehr. Sie verwies zur Begründung insbesondere auf die Lage afghanischer Frauen. „Meine Sorge ist, dass wenn wir zu früh aus der Verantwortung herausgehen, dass wir dann innerhalb kurzer Zeit die alten, schrecklichen Bilder sehen werden.“ Dann könne es dazu kommen, dass in Afghanistan wieder Frauen gesteinigt und gehängt würden und Mädchen nicht mehr in die Schule dürften, so die Ministerin ahnungsvoll.
Die Stimmen, die Trump überwiegend wahltaktisches Kalkül für die Gespräche mit dem Gegner attestieren, werden lauter. Dem Präsidenten sei es bislang – so ist zu hören – offensichtlich vor allem darum gegangen, vor der nächsten Wahl im November 2020 seine Soldaten nach 18 Jahren aus dem Kriegsland abzuziehen. Sogar US-Außenminister Mike Pompeo hatte bereits bestätigt, dass Trump mit einem gestaffelten Truppenabzug auf der Basis eines Friedensplans sein Wahlversprechen wahr machen wolle, diesen längsten „heißen“ Krieg der Vereinigten Staaten zu beenden. Und damit bei den Wählern im kommenden Jahr massiv zu punkten!
Vor rund drei Wochen nun hat Trump erklärt, er betrachte die Verhandlungen mit den Taliban als „tot“. Wie tot, wird man sehen. Denn es ist zum aktuellen Zeitpunkt noch völlig unklar, ob die Friedensverhandlungen vorerst nur ausgesetzt sind und ein Friedensabkommen vielleicht doch noch möglich ist (wir erinnern uns an Stoltenbergs Bemerkungen in New York), oder ob „der Deal endgültig Geschichte“ ist (so formuliert es Rainer Hermann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung). Warten wir ab, was der „Dealmaker“ im Weißen Haus jetzt vorhat …
Zum Bildangebot:
1. Unsere Symbolaufnahme entstand am 10. Juli 2019 bei einer Rettungsübung von Kräften der „Resolute Support Mission“ in der Nähe von Mazar-e Sharif. An der Übung nahmen auch Bundeswehrsoldaten des Personnel-Recovery-Teams teil. Zu den Hauptaufgaben dieser „Kampfretter“ gehört vor allem die Bergung Verwundeter und deren Ausflug aus dem Kampfgebiet.
(Foto: Andrea Bienert/Bundeswehr)
2. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg besuchte im Zeitraum 23. bis 26. September 2019 New York. Er nahm dort an der 74. Sitzung der Vollversammlung der Vereinten Nationen teil. An der Columbia Universität stellte er sich nach einer Rede speziellen Fragen zum Bündnis und zu Themen wie dem Einsatz in Afghanistan. Die Aufnahme zeigt Stoltenberg an der Columbia University/School of International and Public Affairs, SIPA.
(Foto: NATO)
3. Stoltenberg traf in New York am Rande der Vollversammlung der Vereinten Nationen auch mit Zalmay Khalilzad (links) zusammen. Der US-Sondergesandte, der bis vor Kurzem noch für die Vereinigten Staaten in Doha die Verhandlungen mit den Taliban geführt hat, informierte den NATO-Generalsekretär über die bisherigen Ergebnisse dieser Gespräche.
(Foto: NATO)