menu +

Nachrichten


Osnabrück/Brüssel. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht als größte Gefahr für den Frieden die Unberechenbarkeit der internationalen Politik. In einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) sagte der Norweger mit Blick auf den 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs am kommenden Sonntag: „Heute ist das größte Risiko die Unvorhersehbarkeit. Anders als im Kalten Krieg können wir uns heute nicht mehr auf eine klare Bedrohung konzentrieren.“ Im Kalten Krieg seien die Sowjetunion und der Warschauer Pakt die Gefahr für den Westen gewesen. In dieser Konfrontation habe eine gewisse Stabilität gelegen. Das habe sich völlig geändert. Stoltenberg erklärte: „Heute stehen wir vor viel komplexeren Herausforderungen.“ Diese reichten von der aggressiveren Haltung Russlands bis hin zu Cyber-Angriffen, Terrorismus, chemischen Angriffen wie im englischen Salisbury, aber auch Desinformations- und Propaganda-Attacken auf westliche Demokratien.

Die Militärallianz NATO müsse deshalb auf alles vorbereitet sein, sagte Stoltenberg im Gespräch mit NOZ-Politikredakteurin Marion Trimborn. Im Interview, das in der heutigen Dienstagsausgabe der Tageszeitung erscheint, versichert er zugleich: „Die NATO kann das, denn sie basiert auf Dialog und notfalls Verteidigung.“ Die Geschichte habe gelehrt, dass der Frieden nicht als ein garantiertes Gut betrachtet werden dürfe. „Denn dann vergessen wir, diesen Frieden zu verteidigen.“

Vor dem Hintergrund des Kriegsendes vor einhundert Jahren gab Stoltenberg zu bedenken: „Was wir alle aus der europäischen Geschichte gelernt haben, ist, dass die Kosten des Krieges höher sind als der Preis des Friedens. Es ist gut, dass wir Institutionen wie die NATO, die EU und die Vereinten Nationen haben, die dafür sorgen, Krieg zu verhindern und den Frieden zu wahren.“

Erster Weltkrieg – mehr als neun Millionen tote Soldaten

Am 11. November 1918 hatten die Alliierten und das Deutsche Reich nach vier Jahren erbitterter Kämpfe einen Waffenstillstand geschlossen. Mit dem Akt im Wald von Compiègne bei Paris war die Niederlage der Mittelmächte besiegelt. 1919 folgte der Versailler Friedensvertrag, der Deutschland die alleinige Kriegsschuld zuschrieb.

Im Ersten Weltkrieg starben deutschen Historikern zufolge mehr als neun Millionen Soldaten. Unter den Opfern waren rund zwei Millionen Soldaten aus Deutschland, fast 1,5 Millionen aus Österreich-Ungarn, mehr als 1,8 Millionen aus Russland, annähernd 460.000 aus Italien. Frankreich hatte rund 1,3 Millionen, Großbritannien rund 750.000 militärische Todesfälle zu beklagen. Hinzu kamen etwa 78.000 Tote aus den französischen sowie 180.000 Tote aus den britischen Kolonien. Die USA verloren nach ihrem Kriegseintritt im April 1917 auf den europäischen Schlachtfeldern rund 117.000 Mann.

Bei Kriegsende 1918 gab es in Deutschland rund 2,7 Millionen physisch und psychisch versehrte Kriegsteilnehmer. Der schreckliche Anblick von Entstellten und Verstümmelten mit Prothesen gehörte noch lange zum Alltag der Nachkriegsjahre.

Friedensprozess in Syrien unter Aufsicht der Vereinten Nationen

Auf die Frage Trimborns, ob der Syrienkrieg, einer der aktuell größten Konflikte, mit früheren kriegerischen Konstellationen in Europa vergleichbar sei, antwortete Jens Stoltenberg: „Europa war in der Vergangenheit das, was der Nahe Osten heute ist. In Europa haben die Staaten jahrhundertelang Kriege geführt, aus religiösen oder ethnischen Gründen – und dann haben sie zum Frieden gefunden. Von den Zeiten der Wikinger bis hin zu den Napoleonischen Kriegen haben sich die skandinavischen Länder bekämpft – heute sind sie beste Freude. Deutsche und Franzosen haben gegeneinander Kriege geführt und sind heute beste Nachbarn. Ich sage: Das ist auch im Nahen Osten möglich. Es ist schwierig und es dauert, aber es ist möglich. Syrien wird nicht immer im Kriegszustand bleiben.“

Der NATO-Generalsekretär machte deutlich, dass er in Syrien einen Friedensprozess unter Aufsicht der Vereinten Nationen befürwortet. „Wir brauchen einen Waffenstillstand, den alle respektieren“, begründete Stoltenberg dies in seinem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung. Er fügte hinzu, dass ein solcher VN-Friedensprozess seiner Meinung nach zwar nicht einfach sein werde, jedoch den einzig gangbaren Weg darstelle. Auch die NATO könne ihren Teil beitragen: „Die Rolle der NATO dabei ist, den Kampf gegen die Terrorbewegung des IS zu unterstützen.“ Langfristig gebe es allerdings keine militärische Lösung für derartige Konflikte, sondern „wir müssen nach friedlichen Lösungen suchen“.

Generalsekretär setzt auf Kooperation und Klarheit und warnt vor Naivität

Ein weiterer Schwerpunkt des NOZ-Interviews mit Stoltenberg behandelt die immer wieder auftretenden Spannungen zwischen dem Bündnis und Russland. Der NATO-Generalsekretär versicherte: „Wir wollen keine Konfrontation mit Russland, sondern Dialog.“ Sonst könnten die Streitigkeiten nicht beigelegt werden, sagte der norwegische Politiker, der auf rund 20 Jahre Gesprächserfahrung mit Russland in verschiedenen Funktionen als Minister und Ministerpräsident seines Landes verweisen kann. „Von deutschen Politikern wie Willy Brandt und Helmut Schmidt haben wir aus den Zeiten des Kalten Krieges gelernt, dass wir mit Russland reden müssen.“

Stoltenberg warnte aber, gleichzeitig müssten die NATO-Staaten „vereint und entschlossen auftreten, damit Russland uns nicht missversteht und uns nicht falsch einschätzt. Und damit die russische Regierung nicht glaubt, sie könnte NATO-Mitglieder wie Litauen oder Lettland genauso behandeln wie die Ukraine und Georgien und Moldawien. Es ist an Russland zu entscheiden, wie sich unser Verhältnis entwickelt.“

Russland hatte im März 2014 mit der Annexion der Krim, die zur Ukraine gehörte, scharfe Kritik von der NATO ausgelöst, die die Annexion für illegal hält und nicht anerkennt. Stoltenberg betonte einmal mehr, dass sich auch Großmächte an die Regeln halten müssten: „Es ist sehr gefährlich, wenn wir die Idee durchgehen lassen, dass ein Staat eine Einflusssphäre um sich herum besitzt. Das würde ja bedeuten, dass Großmächte über kleine Nachbarn und deren Grenzen entscheiden können.“

Jens Stoltenberg setzt auf Kooperation und Klarheit: „Trotz aller politischen Spannungen gelingt es uns, politische Lösungen mit Russland zu finden, etwa bei Visafragen oder beim Thema Energie und Umwelt – nicht trotz der NATO, sondern wegen der NATO. Das heißt aber nicht, naiv zu sein.“

NATO-Russland-Rat in Brüssel mit Themenschwerpunkt „INF-Vertrag“

Wie wichtig der Dialog der Allianz mit Moskau ist, wurde erst wieder am 31. Oktober bei einer Tagung des NATO-Russland-Rates in Brüssel deutlich. Bei dem Treffen auf Botschafter-Ebene im Hauptquartier des Bündnisses ging es vor allem um den bilateralen INF-Vertrag, den US-Präsident Donald Trump wegen „mutmaßlicher Missachtung durch Russland“ nun aufkündigen will.

Der im Dezember 1987 zwischen der damaligen Sowjetunion und den Vereinigten Staaten geschlossene INF-Vertrag (INF Treaty) hatte dazu geführt, dass bis 1991 alle atomaren landgestützten Mittelstreckenwaffen mit Reichenweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern vernichtet werden mussten und keine neuen Systeme mehr entwickelt und getestet werden durften (INF: Intermediate-Range Nuclear Forces/INF Treaty: Treaty Between The United States Of America And The Union Of Soviet Socialist Republics On The Elimination Of Their Intermediate-Range And Shorter-Range Missiles). Die USA und Russland beschuldigen sich seit etwa fünf Jahren wechselseitig, gegen das Vertragswerk zu verstoßen.

Über den momentanen Status berichtete – aus deutscher Perspektive – vor wenigen Tagen erst Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Am Rande ihres Truppenbesuches beim NATO-Manöver „Trident Juncture 18“ sagte sie: „Wir bedauern, dass die USA den INF-Vertrag infrage stellen.“ Gleichzeitig sei es „sehr bedauerlich“, dass Russland bei dem Treffen in Brüssel nicht in der Lage gewesen sei, glaubwürdig nachzuweisen, dass es den Vertrag einhalte. Entscheidend sei nun, dass alle NATO-Mitglieder in die Beratungen über den INF-Vertrag einbezogen würden. „Der INF-Vertrag ist enorm wichtig für die Rüstungskontrolle, aber er ist auch enorm wichtig für die Sicherheit Europas“, so die Ministerin. Von der Leyen forderte: „Es muss alles getan werden, um den Vertrag zu retten – oder ihn modifiziert zu erhalten.“

Das 2002 gegründete Forum „NATO-Russland-Rat“ gilt als das wichtigste Gremium für Gespräche zwischen dem westlichen Militärbündnis und Moskau. Wegen des Ukrainekonflikts war der Dialog zwischen Juni 2014 und April 2016 ausgesetzt worden. Danach gab es – einschließlich der Gespräche am 31. Oktober – wieder acht Treffen.


Unser Symbolbild zeigt die Flaggen Russlands und der NATO.
(Foto: NATO)

Kleines Beitragsbild: Generalsekretär Jens Stoltenberg am 3. Oktober 2018 in Brüssel beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister.
(Foto: NATO)


Kommentieren

Bitte beantworten Sie die Frage. Dies ist ein Schutz der Seite vor ungewollten Spam-Beiträgen. Vielen Dank *

OBEN