Berlin/Potsdam/Rom. Es ist ein Millionengeschäft, bei dem der Tod verzweifelter Menschen billigend in Kauf genommen wird: das Schlepper- und Schleuserunwesen. Von Anfang 2015 bis einschließlich März 2017 wurden laut Bundesregierung durch Bundes- oder Landesbehörden 4595 Schleuser „festgestellt“, davon 3370 im Jahr 2015, 1008 im Jahr 2016 und bereits 217 im laufenden Jahr. Zugleich wurden in diesem Zeitraum 23.666 „geschleuste Personen“ erfasst – 16.725 im Jahr 2015, 5937 im vergangenen Jahr und 1004 im ersten Quartal dieses Jahres. Seit Juni 2015 beteiligt sich Deutschland auch durchgehend an der Marinemission EU NAVFOR Med – Operation „Sophia“ im südlichen und zentralen Mittelmeer. Kernauftrag der Einheiten des europäischen Verbands ist es, zur Aufklärung von Schleusernetzwerken in dieser Seeregion beizutragen. Bislang wurden drei der Schleusung Verdächtige durch eine deutsche Einheit an Bord genommen und anschließend den italienischen Behörden übergeben. Weitere 43 Personen konnten später im Nachgang zu einer Seenotrettung, die die deutsche Marine im Mittelmeer durchgeführt hatte, von den italienischen Behörden „als der Schleusung verdächtigt“ identifiziert werden.
Diese Zahlen nannte die Bundesregierung am 11. Mai in ihrem zwölfseitigen Papier „Erkenntnisse zu sogenannter Schleusertätigkeit“. Eine Kleine Anfrage hatte dazu die Fraktion der Linken gestellt.
Hauptherkunftsländer der nach Deutschland „geschleusten Personen“ waren den Regierungsangaben zufolge im Jahr 2015 Syrien (7560 Menschen) vor Afghanistan (2329) und dem Irak (2289), im Jahr 2016 Afghanistan (1206) vor dem Irak (955) und Syrien (930) und im laufenden Jahr Syrien (210) vor dem Irak (115) und Russland (78). Außerdem wurden in den Jahren 2015 und 2016 sowie im ersten Quartal 2017 laut Regierung insgesamt 318.598 „unerlaubt eingereiste Personen ohne Verbindung zu einer Schleusungshandlung festgestellt“.
Die Aufstellung der Regierung verdeutlicht auch, dass die meisten unerlaubten Übertritte über die Staatsgrenze zur Bundesrepublik Deutschland per Zug (2015: 68.466/2016: 30.063/bis einschließlich März 2017: 3632) erfolgten. In der Statistik dahinter finden sich die illegalen Einreisen mit Pkw und Flugzeug.
Lassen Sie uns nun einen Blick auf die Fluchtrouten im Mittelmeer werfen. Vor Kurzem nannte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees, UNHCR), Filippo Grandi, aktuelle Zahlen. Demnach hätten seit Jahresbeginn bis Anfang Mai mehr als 43.000 Menschen Sizilien und Kalabrien über die Zentralroute erreicht. Rund 1150 Flüchtlinge seien dabei umgekommen, so der UNHCR-Chef. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl spricht sogar von 1364 Toten.
Im vergangenen Jahr starben laut UNHCR 5022 Männer, Frauen und Kinder bei dem Versuch, das Mittelmeer zu durchqueren, die meisten Opfer forderte die zentrale Fluchtroute. Im Jahr 2015 waren es 3.771 dokumentierte Todesfälle gewesen. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen berechnete, dass 2016 jeder 41. Geflüchtete bei der Bootsüberfahrt nach Italien ums Leben gekommen sei. 2015 sei es statistisch gesehen lediglich jeder 276. Bootsinsasse gewesen.
Und wie steht es im Mittelmeerraum um die Bekämpfung des Schleusertums? Laut Bundesregierung wurden seit Beginn von EU NAVFOR Med – Operation „Sophia“ sechs „der Schleusung verdächtige Personen“ unmittelbar von den Marinesoldaten an Bord genommen und an die italienischen Behörden übergeben. Weitere 106 Personen wurden im Nachgang zu einer Rettung auf hoher See von den italienischen Behörden der Schleusung verdächtigt. Bescheidene Resultate! Erfreulicher sieht die Statistik – wir blicken auf die deutsche Marine – da schon auf einem anderen Gebiet aus, der Seenotrettung.
Wie bereits zu Beginn erwähnt, beteiligt sich Deutschland seit Juni 2015 ununterbrochen an der Operation „Sophia“ (die Operation ist nach einem somalischen Mädchen benannt, das am 24. August 2015 an Bord der Fregatte „Schleswig-Holstein“ zur Welt kam). Insgesamt stellen 25 europäische Nationen gemeinsam im Durchschnitt etwa 1200 Soldaten und Zivilisten für diese militärische Krisenbewältigungsoperation.
Kernauftrag der Einheiten des EU-Verbandes ist das Vorgehen gegen kriminelle Schleusernetzwerke vor der libyschen Küste. Dazu werden die Schiffe, Flugzeuge und Hubschrauber auf hoher See und im internationalen Luftraum zwischen der italienischen und libyschen Küste eingesetzt. Sie überwachen das Seegebiet und tragen durch Aufklärungsergebnisse dazu bei, dass ein umfassendes Bild über die Aktivitäten der skrupellosen Schleuser entsteht.
Daneben hat der Verband zwei Unterstützungsaufgaben – Ausbildung der Küstenwache und der Marine Libyens sowie die Embargoüberwachung (wir berichteten). Schließlich sind die Kräfte des EU-Marineverbandes auch zur Seenotrettung verpflichtet.
Diese Verpflichtung ergibt sich für Seefahrer unter anderem aus dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und dem Übereinkommen zum Schutze menschlichen Lebens auf See. Wenn ein Boot in Seenot angetroffen, ein Notruf empfangen wird oder die zuständige Leitstelle einen Auftrag erteilt, sind Seefahrer zur Hilfeleistung verpflichtet. Die EU-Rettungseinsätze im Mittelmeerraum werden von der Seenotleitstelle (Maritime Rescue Coordination Centre, MRCC) in Rom koordiniert. Das MRCC führt Informationen über Schiffspositionen und -kapazitäten und meldet Seenotfälle im Einsatzgebiet, dessen Ausdehnung in etwa der Größe Deutschlands entspricht.
Wie uns das Einsatzführungskommando der Bundeswehr in Potsdam mitteilte, hat die deutsche Marine seit dem 7. Mai 2015 bis (Stichtag) 10. Mai 2017 insgesamt 20.281 Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten können.
Wolfgang Hellmich, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, forderte nun in einem Zeitungsinterview für die Funke-Mediengruppe angesichts der dramatischen Berichte über gesunkene Flüchtlingsboote eine Fortsetzung der Seenotrettung. Durch die Beteiligung Deutschlands an der Operation „Sophia“ hätten bislang viele Menschen gerettet werden können, sagte der SPD-Politiker. Es müsse jedoch auch stärker auf die Leistungsfähigkeit der Besatzungen und ihrer Schiffe geachtet werden. „Da werden oft die Grenzen erreicht oder sogar überschritten“, warnte Hellmich. Das aktuelle Bundestagsmandat für den Marineeinsatz, das vom 7. Juli vergangenen Jahres stammt, läuft am 30. Juni aus.
Wie das bundeswehr-journal vom Einsatzführungskommando auch erfuhr, haben im Zeitraum 7. Mai 2015 bis 28. Juni 2015 an der rein nationalen Seenotrettung im Mittelmeer folgende Schiffe der Bundeswehr teilgenommen: Tender „Werra“, Einsatzgruppenversorger „Berlin“, Fregatte „Hessen“ und Fregatte „Schleswig-Holstein“.
An dem Einsatz EU NAVFOR Med beteiligten sich seit dem 29. Juni 2015: Tender „Werra“, Tender „Rhein“, Einsatzgruppenversorger „Berlin“, Einsatzgruppenversorger „Frankfurt am Main“, Korvette „Ludwigshafen am Rhein“, Minenjagdboot „Datteln“, Minenjagdboot „Weilheim“, Fregatte „Schleswig-Holstein“, Fregatte „Augsburg“ und Fregatte „Karlsruhe“. Eine beachtliche Liste …
Lassen Sie uns abschließend beim Thema „Seenotrettung“ noch einen Aspekt betrachten, der im Vorfeld einer Mandatsverlängerung zu heftigen Diskussionen führen könnte. Bereits am 21. Dezember vergangenen Jahres hatte die Bundestagsfraktion der Linken in einer anderen Anfrage zur Operation „Sophia“ Bedenken geäußert. Die Abgeordneten wollten wissen, ob denn nicht die von der Bundeswehr mitgetragene EU-Operation im Mittelmeer Schleuserbanden erst recht auf lange Sicht in die Hände spiele.
Konkret fragte die Linke: „Inwiefern kann die Bundesregierung Berichte bestätigen, denen zufolge Schleuser seit Beginn der Operation vermehrt auf weniger beziehungsweise gar nicht mehr hochseetaugliche Boote zurückgreifen oder davon absehen, die Boote mit einer für die Überfahrt bis Italien ausreichenden Treibstoffmenge auszustatten oder eigenes Personal im Vorfeld einer Entdeckung durch ausländische Schiffe von den Booten abziehen und diese führerlos lassen beziehungsweise nicht dafür ausgebildeten Flüchtlingen überlassen? Inwiefern hält sie solche Berichte für plausibel, und welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?“
Die Regierungsantwort überrascht auch jetzt noch: „Die Schleuser kalkulieren die im Seegebiet vor der libyschen Küste fahrenden Schiffe in ihren Modus Operandi mit ein, da alle Schiffe nach internationalem Seerecht verpflichtet sind, Seenothilfe zu leisten.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Die Bundesregierung sieht mit Sorge, wie Schleuser ihr Geschäftsmodell auf die Seenotrettung durch die verschiedenen Akteure ausrichten. Zunehmend werden zu viele Menschen auf nicht seetaugliche Boote mit völlig unzureichender Ausstattung verbracht und damit verstärkt gefährdet, bereits innerhalb der libyschen Territorialgewässer in Seenot zu geraten und ihr Leben zu verlieren.“ Wie die Bundesregierung weiter ausführt, sei damit auch seit Oktober 2016 die Notwendigkeit gewachsen, die „libysche Küstenwache zu befähigen, Seenotrettungen im Einklang mit internationalem Recht und internationalen Standards durchzuführen und zugleich Schleuseraktivitäten möglichst frühzeitig zu verhindern“.
Die 1986 gegründete Organisation Pro Asyl, die sich als „selbstbestimmte und unabhängige Stimme für die Menschenrechte und den Schutz von Flüchtlingen in Deutschland und Europa“ versteht, hat zu der momentanen Entwicklung im Mittelmeer eine klare Meinung. Der Einsatz der Kriegsschiffe sorge nicht dafür, dass niemand mehr die Flucht antrete, sondern lediglich dafür, dass die Fluchtrouten länger, teurer und gefährlicher würden.
Am kommenden Freitag (26. Mai) soll während des Kirchentages in Berlin unter dem Motto „#FluchtGedenken“ eine Schweigeminute abgehalten werden, um auf das Sterben im Mittelmeer aufmerksam zu machen. Dazu soll auf allen Veranstaltungen des Kirchentags und bei der zentralen Gedenkveranstaltung auf dem Washingtonplatz um 12 Uhr für eine Minute Stille herrschen. Dazu aufgerufen haben kirchliche und nichtkirchliche Organisationen, die in der Flüchtlingshilfe aktiv sind.
Die Aufnahme zeigt gerettete Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos. Die Menschen hatten das Ägäische Meer – aus der Türkei kommend – in einem seeuntauglichen Boot überquert und nur mit Mühe die Küste erreicht.
(Foto: Achilleas Zavallis/UNHCR)
Unser Großbild auf der START-Seite zeigt Bootsflüchtlinge im Mittelmeer, die vom europäischen Marineverband EU NAVFOR Med entdeckt und gerettet wurden.
(Foto: European External Action Service/EU NAVFOR Med)
Kleines Beitragsbild: Eine Gruppe afghanischer und syrischer Flüchtlinge im Mittelmeer kurz vor ihrer Rettung. Die Menschen hatten die östliche Route über die Türkei durch die Ägäis nach Griechenland gewählt. In der Nähe der Insel Lesbos war ihr großes Schlauchboot untergegangen.
(Foto: Ivor Prickett/UNHCR)