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New York/München/Berlin/Brüssel. Der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, fordert von der Europäischen Union die Übernahme einer größeren Rolle in der Weltpolitik. Zurzeit sei die EU sicherheits- und außenpolitisch handlungsunfähig, sagte er am vergangenen Samstag (14. Januar) dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb). Der frühere Botschafter Deutschlands in Washington und London sieht die EU auch mit Blick auf den designierten US-Präsidenten Donald Trump künftig stärker auf sich gestellt. Ischinger trat in dem Gespräch mit dem rbb INFOradio jedoch Befürchtungen entgegen, dass die USA unter Trump ein Bündnis wie die NATO aufkündigen könnten. Die Gefahr einer solchen Entwicklung sehe er „bei unter zehn Prozent“. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine rationale amerikanische Administration […] auf die Idee kommt, so zu handeln; denn nichts wäre für das weltpolitische Ansehen der USA so desaströs negativ, wie wenn die USA seit einem halben Jahrhundert bestehende Bündnisgarantien infrage stellen würden.“ Wenn sich der Spitzendiplomat in diesem Punkt denn mal nicht irrt! Trump erklärte jedenfalls jetzt in einem Interview mit der BILD-Zeitung und der Londoner Times, was er beispielsweise von der Allianz hält. Die NATO sei „obsolet“ – überflüssig, so der neue amerikanische Präsident. Das am gestrigen Montag (16. Januar) erschienene Interview mit dem in wenigen Tagen mächtigsten Mann der westlichen Welt schlug in Europa hohe Wellen …

Wolfgang Ischinger, der die Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference, MSC) seit 2008 leitet, zeichnete gegenüber dem rbb kein gutes Bild der EU. Er verwies auf den Syrienkonflikt und urteilte schonungslos: „Wir haben in diesem Jahr erlebt, dass Europa, das doch Hunderttausende Flüchtlinge aufnehmen musste, vollkommen an den Spielfeldrand gedrängt worden ist, als es um die Frage ging, wer entscheidet eigentlich über Krieg und Frieden?“ Die Europäer jedenfalls hätten weder „Sitz noch Stimme“ bei den Verhandlungen zu Syrien gehabt.

Als Konsequenz fordert Ischinger Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik: „Wenn wir nicht in die Kreisklasse abgedrängt werden wollen, dann müssen wir zeigen, dass wir handeln können, und dass wir auch gemeinsam entscheiden können. Dann muss man mit Mehrheitsentscheidung anfangen in der Außenpolitik und darf nicht eine Lage weiterlaufen lassen, in der jeder der 28, der ein kleines Wehwehchen hat, jede Entscheidung in der Außenpolitik mit einem Veto verhindern kann.“

Vielleicht zwingt Donald Trump, der am kommenden Freitag (20. Januar) um 12 Uhr Ortszeit an der westlichen Front des US-Kapitols zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt werden soll, die Europäer bald auf einen neuen, geschlossenen außen- und sicherheitspolitischen Generalkurs?

Rüstungsausgaben aller NATO-Mitgliedstaaten kommen wohl auf den Prüfstand

In seinem Interview mit Bild und Times bezeichnete Trump die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel als „katastrophalen Fehler“. Der Europäischen Union sagte er nach dem Austritt Großbritanniens schwere Zeiten voraus („Wenn Sie mich fragen, es werden weitere Länder austreten“), der Zustand der EU sei ihm aber nicht sehr wichtig. Er deutete an, die Sanktionen gegen Russland einer Neubewertung unterziehen zu wollen (…“mal sehen, ob wir ein paar gute Deals mit Russland machen können“). Und er räumt ein, Putin und Merkel gleichermaßen zu vertrauen: „Zunächst einmal vertraue ich beiden – doch schauen wir mal, wie lange das anhält; vielleicht hält das überhaupt nicht lange an.“

Wirklich verstörend sind Trumps Bemerkungen über das transatlantische Bündnis. Auf die Frage, ob er verstehen könne, warum Osteuropäer Putin und Russland fürchteten, antwortete der künftige US-Präsident: „Sicher. Na klar, ich weiß das. Ich meine, ich verstehe, was da vor sich geht, ich sage seit Langem: Die NATO hat Probleme. Sie ist obsolet, weil sie erstens, wie Sie wissen, vor vielen, vielen Jahren entworfen wurde. Zweitens zahlen die Länder nicht das, was sie zahlen müssten. Ich kam massiv unter Druck, als ich sagte, die NATO sei obsolet. Sie ist aber obsolet, weil sie sich nicht um den Terrorismus gekümmert hat. Ich war also zwei Tage lang unter Druck, dann fingen sie an zu sagen, Trump hat recht. Und jetzt – es war auf der Titelseite des ,Wall Street Journal‘ – haben sie eine ganze Abteilung, die sich ausschließlich mit Terrorismus befasst. Das ist gut. Die andere Sache ist, dass die Länder nicht ihren fairen Anteil bezahlen. Also, wir sollen diese Länder schützen, aber viele dieser Länder zahlen nicht, was sie zahlen müssten. Das ist sehr unfair gegenüber den Vereinigten Staaten. Abgesehen davon ist mir die NATO aber sehr wichtig.“

Steinmeier: „Transatlantische Beziehungen bleiben das Fundament des Westens“

Die politischen Reaktionen in Deutschland folgten unmittelbar. Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der am Montag in der belgischen Hauptstadt Brüssel am ersten Treffen des Rats für Auswärtige Angelegenheiten in 2017 teilgenommen hatte, gewährte nach der Sitzung Einblicke. Es sei ein ganz besonderes europäisches Außenministertreffen gewesen, sagte er am 16. Januar. Hauptsächlich deswegen, weil „ein tragendes Thema in all unseren Diskussionen der Präsidentenwechsel in den USA war“. Dann empfahl ein nachdenklicher Steinmeier: „Vergleicht man die Positionen des designierten Präsidenten und die seiner zukünftigen Außen- und Verteidigungsminister, dann erkennt man bei der neuen US-Regierung noch keine gemeinsame außenpolitische Linie. Da gibt es noch eine ganze Reihe von widersprüchlichen Signalen. Wir müssen jetzt darauf warten, dass das in nächster Zeit in ein einheitliches Konzept gegossen wird.“

Zum Schluss beschwor der deutsche Außenminister den Schulterschluss der Europäer: „Mit Blick auf so manche Ungewissheiten ist heute vielleicht dem einen oder anderen noch einmal klar geworden, wie wichtig es ist, dass Europa beieinandersteht und gemeinsame Positionen vertritt. Das liegt aus außenpolitischen Gründen nahe, aber auch mit Blick auf das, was in Europa und in den Mitgliedstaaten der EU gegenwärtig zu sehen ist: Weil die Fliehkräfte innerhalb der Gesellschaften wachsen, ist es umso notwendiger, dass wir geschlossen zusammenstehen.“ Vor allen Dingen habe man bei der Tagung des Rats festgestellt, dass die transatlantischen Beziehungen auf keinen Fall an Wert verlieren dürften. Die transatlantischen Beziehungen blieben das Fundament des Westens. „Wir müssen daran arbeiten, dass dieses Fundament intakt bleibt“, forderte Steinmeier.

Arnold: „Starke europäische Verteidigungsunion als Ergänzung zur NATO“

Zu den Interview-Äußerungen Trumps nahm auch der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, Stellung. Die NATO als „obsolet“ zu bezeichnen sei eine klare Verkennung der aktuellen sicherheitspolitischen Realitäten in Europa. Die Aussage stehe auch in direktem Kontrast zu den jüngsten Statements der zukünftigen US-Minister für Äußeres und Verteidigung, die gerade die herausragende Bedeutung der NATO unterstrichen und zugleich die Bündnisverpflichtungen der USA untermauert hätten, gab der CDU-Politiker zu bedenken. Seine Gespräche mit Senatoren im US-Kongress hätten ihm zudem klare Signale der uneingeschränkten Bündnissolidarität der USA vermittelt, berichtete Hardt. „Diesen Aussagen messe ich großes Gewicht bei.“ Er hoffe nun, möglichst bald nach Amtsantritt der neuen Administration Klarheit über den tatsächlichen Kurs zu erhalten. Dies sei gerade auch für die östlichen Bündnispartner in der NATO von vitaler Bedeutung.

SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold fordert nach den Äußerungen des künftigen US-Präsidenten ein Zusammenrücken der Europäer für ihre eigene Verteidigungsfähigkeit. Arnold sagte der in Düsseldorf erscheinenden Rheinischen Post: „Die europäischen NATO-Partner müssen im Bündnis mehr tun – ganz unabhängig von Trump. Jeder andere amerikanische Präsident hätte auch mehr von uns verlangt. Aber keiner würde die NATO in der Substanz infrage stellen, wie Trump es tut.“ Darin liege allerdings nun auch eine Chance, meinte der Sozialdemokrat. „Auch die osteuropäischen NATO-Länder merken jetzt, dass wir eine starke europäische Verteidigungsunion als Ergänzung zur NATO benötigen. Deutschland und Frankreich sollten den Motor bilden, dies umzusetzen.“

Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen), Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, befasste sich in einem Statement ebenfalls mit den denkwürdigen Aussagen Trumps. Trittin warnte: „Trump erklärt auch die NATO für obsolet. Er will damit höhere Rüstungsausgaben erzwingen. Europa, das heute schon gut dreimal so viel für Rüstung ausgibt wie Russland, soll dies weiter steigern. Das sind Mittel, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft in Europa fehlen werden. Europa muss aber genau in diesen Zusammenhalt investieren. Europa braucht einen Green New Deal; um den von Trump gewünschten Zerfall der EU zu verhindern.“

Mehrheit befürchtet Verschlechterung der deutsch-amerikanischen Beziehungen

Nach Meinung der meisten Bundesbürger kann Donald Trump der Würde des amerikanischen Präsidentenamtes nicht gerecht werden. Einer forsa-Umfrage im Auftrag des Magazins stern zufolge hält eine breite Mehrheit von 84 Prozent den unberechenbaren Milliardär für charakterlich ungeeignet für dieses Amt, darunter mehrheitlich (53 Prozent) auch die Anhänger der AfD. Nur zehn Prozent der Befragten glauben, dass er dafür die charakterliche Eignung habe.

Eine Umfrage zum „Politbarometer“ des ZDF, durchgeführt von der Mannheimer Forschungsgruppe „Wahlen“ im Zeitraum 10. bis 12. Januar, kam zu folgendem Resultat (siehe dazu auch unsere beiden Infografiken): 55 Prozent der Deutschen befürchten, dass sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen unter einem Präsidenten Trump verschlechtern werden, lediglich zwei Prozent gehen von einer Verbesserung aus, und 39 Prozent erwarten, dass sich durch den Amtswechsel nicht viel ändern wird. Hatten im November kurz nach dem Sieg Trumps noch 78 Prozent gemeint, das er als US-Präsident gemäßigtere Positionen einnehmen werde als im Wahlkampf, so glauben das jetzt nur noch 59 Prozent. Damals waren 20 Prozent davon ausgegangen, dass er bei seinen radikalen Wahlkampfpositionen bleiben wird, inzwischen sind es 33 Prozent.

Donald Trump – ein „Totengräber der Nachkriegsordnung“?

Heftige Reaktionen löste Trump mit seinem BILD/The Times-Interview auch bei den Kommentatoren europäischer und deutscher Medien aus. Ein Beitrag des Bielefelder Westfalen-Blattes hat mit seiner ungeschminkten Bewertung dabei unsere besondere Zustimmung gefunden.

In dem Kommentar heißt es: „Dass [Trump] Angela Merkel, die Regierungschefin des traditionell wichtigsten Verbündeten in Kontinentaleuropa, auf eine Stufe mit dem russischen Brandstifter Wladimir Putin stellt, schlägt dem Fass den Boden aus. Der künftige US-Präsident meldet sich als ,Führer der freien Welt‘ ab, bevor er das Amt übernommen hat.“

Trump positioniere sich als Totengräber der Nachkriegsordnung und stelle die transatlantische Wertegemeinschaft infrage, urteilt das Westfalen-Blatt. Darauf zu setzen, dieser Mann werde sich irgendwie einhegen lassen, grenze an Wunschdenken. Die Warnung lautet konkret: „Wenn sich die Europäer gegeneinander aufbringen lassen und erlauben, dass sich das hässliche Haupt des Nationalismus wieder erhebt, geht der Kontinent düsteren Zeiten entgegen. Die Staaten der alten Welt werden dann zum Spielball von Trump und Putin, die rücksichtslos ihre Großmachtinteressen durchsetzen. Dagegen hilft nur ein geeintes und starkes Europa. Die Antwort auf die Spaltversuche muss ein entschiedenes Zusammenrücken der Europäischen Union sein.“


Zu unserem Bildmaterial:
1. Wolfgang Ischinger leitet seit dem Jahr 2008 die Münchner Sicherheitskonferenz (Munich Security Conference, MSC). Die Aufnahme vom 6. Februar 2015 zeigt ihn zusammen mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen.
(Foto: Olaf Kosinsky/Skillshare.eu/unter Lizenz CC BY-SA 3.0 de; vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode)

2. Das Hintergrundbild der Infografik „Trump hat im Wahlkampf viele radikale Positionen vertreten – als US-Präsident wird er …“ zeigt den US-Milliardär am 19. März 2016 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Fountain Hills/US-Bundesstaat Arizona.
(Foto: Gage Skidmore/unter Lizenz CC BY-SA 3.0; vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode)
(Datenquelle: Mannheimer Forschungsgruppe „Wahlen“ für die Sendung „Politbarometer“ des ZDF am 13. Januar 2017; Datenerhebung im Zeitraum 10. bis 12. Januar 2017)

3. Das Hintergrundbild der Infografik „Die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA unter Trump werden sich eher …“ zeigt den kommenden 45. Präsidenten der USA am 8. Februar 2016 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Manchester/US-Bundesstaat New Hampshire.
(Foto: Marc Nozell/unter Lizenz CC BY 2.0; vollständiger Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/legalcode)
(Datenquelle: Mannheimer Forschungsgruppe „Wahlen“ für die Sendung „Politbarometer“ des ZDF am 13. Januar 2017; Datenerhebung im Zeitraum 10. bis 12. Januar 2017)

Kleines Beitragsbild: Ausgabe der BILD-Zeitung vom 16. Januar 2017 mit dem Trump-Interview.
(Foto: mediakompakt)


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