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Strasbourg (Frankreich)/Baden-Baden. Mit seiner im Jahr 2015 erstmals ausgestrahlten Dokumentation „Die Welt danach“ hat der in Israel geborene Filmemacher Ilan Ziv einen „Ermittlungsversuch zum politischen und militärischen Desaster des Krieges gegen den Terror“ gewagt. Der Zweiteiler ist jetzt auf arte erstmals in Deutschland zu sehen. Der heute in den USA lebende Regisseur untersucht in seiner filmischen Arbeit die tragische Metamorphose eines Krieges, der zunächst „nur“ die westlichen Werte verteidigen wollte, inzwischen aber selbst zu einer Bedrohung für den Westen geworden ist. Ziv erinnert daran, dass vor dem 11. September 2001 al-Qaida rund 400 überzeugte Anhänger hatte; gut 16 Jahre später sind Zehntausende militante Dschihadisten über riesige Gebiete zwischen Ostasien, dem Atlantik und Afrika verstreut. Europa wird immer wieder von Terrorangriffen erschüttert, und die Beziehungen mit muslimischen Minderheiten und muslimischen Ländern sind angespannt. Zudem hat der Krieg zum Aufstieg ultranationalistischer und fremdenfeindlicher Gruppen in ganz Europa und in den USA geführt. Der Dokumentarfilmer lässt in „Die Welt danach“ zahlreiche Politiker, Sicherheitsberater und Generäle aus den USA, Frankreich, Großbritannien und Israel zu Wort kommen, die erhellende und teilweise auch verstörende Einblicke in einen Kampf bieten, den wohl keine Seite gewinnen kann.

Ausgelöst durch den 11. September 2001 starteten die USA eine Militärkampagne gegen den militanten Islamismus und nannte dieses Vorgehen prätentiös „Krieg gegen den Terror“. Dies hatte weitreichende Folgen. Dazu Ilan Ziv: „Indem die Bush-Administration ihre Reaktion auf Osama Bin Ladens Septemberangriffe einen ,Krieg‘ nannte, ohne jedoch den Feind genauer zu benennen, hat sie für die USA und den gesamten Westen einen Kurs vorgegeben, von dem es kein Abweichen mehr gab. Jede Entscheidung vertiefte das Scheitern und weitete den Krieg aus.“

Die erste Schlacht in ihrem „Krieg gegen den Terror“ führten die Vereinigten Staaten in Afghanistan. Dort setzte die Regierung George W. Bush auf einen Regimewechsel und – damit einhergehend – auf einen erfolgreichen Wiederaufbau (ähnlich dem in Deutschland oder Japan nach Ende des Zweiten Weltkrieges).

Ursprünge und Ziele des radikalen Islam lange Zeit ignoriert oder verkannt

Der erste Teil der Dokumentation „9/11: Die Welt danach“ befasst sich mit der Entstehungsgeschichte dieses Krieges und verdeutlicht, welch fatale Konsequenzen es hatte, die Ursprünge und Ziele des radikalen Islam nicht zu kennen.

Nach Ansicht von Ziv führten (und führen) die USA und der Westen in Afghanistan einen Krieg gegen lokale aufständische Stammeskämpfer – und tappten dabei in dieselbe Falle, in die auch schon die Kolonialmächte des letzten Jahrhunderts geraten waren. Der Regisseur erläutert: „Der Einmarsch in Afghanistan führte zu zahlreichen, weltweit versprengten Terrorzellen. Und er wurde zum Präzedenzfall. Die vage Definition von Terrorismus verbreitete sich und wurde nun nicht mehr nur auf al-Qaida, sondern auf jeden angewandt, der anti-amerikanisch eingestellt war.“

Die Brandbeschleuniger Guantánamo und Abu Ghraib

Der Krieg in Afghanistan und die Mehrdeutigkeit des unscharfen Terrorismusbegriffs hatten eine unvorhergesehene „praktische“ Konsequenz: Die Frage, wie man Terroristen erkennen und juristisch behandeln sollte, gewann plötzlich an Bedeutung und bestimmte fortan die Qualität des Konflikts. Der Verlauf des „Krieges gegen den Terror“ hing jetzt nicht mehr nur vom militärischen Kampf vor Ort ab, sondern zusätzlich auch von der in Washington formulierten Rechtsdefinition.

Der zweite Teil von „9/11: Die Welt danach“ schildert die US-Entscheidung, die Genfer Konvention für Gefangene auszusetzen und einen „Sonderweg in die Dunkelgrauzone“ zu beschreiten. Ziv zeigt, wie dadurch Aufstände erst angeheizt wurden und sich der Kampf gegen den Terrorismus schließlich zum Dauerzustand ausweitete.

Auslieferungen, Geheimlager (Black Sites) und Folter waren nur einige der neuen Taktiken, mit denen die amerikanischen Dienste – allen voran die CIA – ein geheimes Programm einleiteten, welches sich rasch von Afghanistan bis Guantánamo und von dort bis in den Irak ausbreiten sollte. Mit verheerenden Langzeitfolgen: Experten bezeichnen mittlerweile das Foltergefängnis Abu Ghraib im Irak und das Gefangenenlager Guantánamo als zwei Hauptfaktoren für den Ausbruch von Rebellionen und deren Übergreifen auf ganze Regionen.

Kreislauf der Gewalt führt zur Destabilisierung der weltpolitischen Ordnung

Ein Kampf, der 2001 als vorrangig gegen al-Qaida geführte Kampagne begonnen hatte, ist 16 Jahre später zu einem globalen Dauerkrieg mutiert. Dieser umfasst direkte Kampfeinsätze der amerikanischen Streitkräfte, gezielte Tötung durch Drohnen oder militärische „Stellvertreter-Einsätze“ im gesamten Nahen Osten, in Afrika und in Ostasien.

Der „Krieg gegen den Terror“, so belegt es die Dokumentation von Ilan Ziv, ist nach wie vor ein expandierender Konflikt mit Terrorgegenschlägen, die die westlichen Gesellschaften erzittern lassen. Der Filmemacher warnt: „Dieser Kreislauf der Gewalt führt zur Destabilisierung der weltpolitischen Ordnung und unserer heutigen Demokratien, für deren Erhalt der Krieg ursprünglich begonnen wurde.“


Randnotiz                                  

„9/11: Die Welt danach“, Dokumentarfilm in zwei Teilen von Ilan Ziv, 2015 (Originalsprache Französisch), deutsche Erstausstrahlung jetzt auf arte. Die Sendetermine:
– Teil 1 „Die Kriegserklärung“: Dienstag, 23. Mai 2017 (20:15 bis 21:10 Uhr) und Freitag, 16. Juni 2017 (09:20 bis 10:15 Uhr);
– Teil 2 „Spirale der Gewalt“: Dienstag, 23. Mai 2017 (21:10 bis 22:05 Uhr) und Freitag, 16. Juni 2017 (10:15 bis 11:25 Uhr).
Alle Angaben ohne Gewähr.


Zu unserem Bildlauf:
1. Fahndungsaufruf in New York nach den Terroranschlägen des 11. September 2001.
(Foto: ARTE France/Zadig Productions)

2. George W. Bush, 43. Präsident der Vereinigten Staaten.
(Foto: ARTE France/Zadig Productions)

3. Die unmittelbaren militärischen Reaktionen der USA auf „Nine-Eleven“ führten in vielen Ländern der arabischen Welt zu wüsten antiamerikanischen Demonstrationen.
(Foto: ARTE France/Zadig Productions)

4. Der Krieg der Vereinigten Staaten in Afghanistan gegen al-Qaida und die Taliban führte im Laufe der Jahre zu enormen Verlusten bei den amerikanischen und verbündeten Truppen und innerhalb der afghanischen Zivilbevölkerung. Die Aufnahme zeigt den Abtransport eines verletzten US-Soldaten.
(Foto: ARTE France/Zadig Productions)

5. Häftling in Guantánamo: Die Entscheidung Washingtons, die Genfer Konvention für Gefangene des „Krieges gegen den Terror“ auszusetzen, hatte weitreichende, schlimme Folgen. Experten bezeichnen die menschenunwürdigen Verhältnisse in dem US-Lager für einen Hauptgrund, warum der internationale Terrorismus sich wie ein Flächenbrand ausdehnte und der Kampf gegen den radikalen Islam zu einem Dauerzustand wurde.
(Foto: ARTE France/Zadig Productions)

Kleines Beitragsbild: Eine Gruppe Aufständischer im Irak.
(Foto: ARTE France/Zadig Productions)


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