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London/Berlin. Ist das nun ein einmaliger Glücksfall für die Sicherheitsbehörden? Oder doch nur eine Schimäre, die falsche Fährten legen und Ermittler und Strafverfolgungsbehörden in die Irre führen soll? Fast zeitgleich sind in der zweiten Märzwoche in London und in Berlin Datenträger aufgetaucht, die personenbezogene Angaben zu rund 22.000 Mitgliedern der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) enthalten. Der britische Fernsehsender sky NEWS teilte am 9. März mit, ein „enttäuschter Ex-Angehöriger“ des IS habe ihm die Dschihadisten-Listen auf einem elektronischen Speichermedium zugespielt. Zwei Tage zuvor, am 7. März, hatte bereits ein Rechercheverbund aus Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR über entsprechende IS-Dokumente berichtet, die das Bundeskriminalamt erhalten hat.

Die gut 22.000 Dokumente stammen überwiegend aus den Jahren 2013 und 2014 und wurden von der sogenannten „General-Grenz-Verwaltung“ der Terrorbewegung „Islamischer Staat“ angelegt. Da es zahlreiche Dopplungen in dem Material gibt, sei allerdings die Anzahl der tatsächlich vom IS registrierten Kämpfer erheblich niedriger, schreibt der WDR in einer Pressemitteilung.

WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung konnten selber „entsprechende und als ,geheim‘ eingestufte Dokumente“ einer journalistischen Prüfung unterziehen.

Verwendungswünsche „Kämpfer“ und „Selbstmordattentäter“

Nach einer ersten Auswertung kommt das Rechercheteam um Georg Mascolo, Volkmar Kabisch und Georg Heil zu dem Ergebnis, dass das Material „wenige Tausend Einzelpersonen“ betrifft, darunter „mindestens 100 Deutsche“. In 23 Spalten werden die Neuankömmlinge beim „Islamischen Staat“ außer nach biografischen Details, Kontaktdaten von Angehörigen, Schleusern und Bürgen, auch nach speziellen Fähigkeiten und ihrer beabsichtigten Tätigkeit bei der Terrormiliz gefragt. So könnten die Einreisenden beispielsweise angeben, ob sie als Kämpfer oder als Selbstmordattentäter eingesetzt werden wollen, berichtet das Rechercheteam.

Das Bundeskriminalamt (BKA) erklärte mittlerweile in einer Stellungnahme, dass es sich „mit hoher Wahrscheinlichkeit um authentische Papiere“ handele. Zuvor hatten Sicherheitsbehörden bereits die Angaben der deutschen Eingereisten mit vorliegenden eigenen Erkenntnissen abgeglichen. Nach Informationen des Verbundes von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung haben inzwischen auch Sicherheitsbehörden mehrerer europäischer Staaten Zugriff auf Teile der internen IS-Datensätze.

Bislang etwa 130 Islamisten aus Deutschland in Syrien und im Irak umgekommen

Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte am 8. März in Berlin, dass die dem BKA vorliegenden IS-Dokumente dabei helfen könnten, deutsche Kämpfer der Terrormiliz zu überführen. Mit den vom BKA als echt eingestuften Papieren biete sich eine „große Chance“, die Beteiligung Deutscher an Aktivitäten des „Islamischen Staates“ besser nachzuweisen. Bisher gestalteten sich die Verfahren mitunter recht schwierig, weil die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nur schwer belegbar ist.

Wie das Bundesministerium des Innern mitteilte, sind bislang mehr als 800 Islamisten aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak gereist, um dort auf der Seite des IS zu kämpfen. Etwa ein Drittel von ihnen soll mittlerweile wieder zurückgekehrt sein. Zu 70 Personen habe man Erkenntnisse, dass sie sich aktiv an Kämpfen beteiligt hätten, so das Ministerium. Etwa 130 Islamisten aus Deutschland sollen in Syrien und im Irak ums Leben gekommen sein.

Echtheitsdebatte unter Experten der Terrorszene hält an

Unter Wissenschaftlern und Terrorismus-Experten ist seit Bekanntwerden der Datenlieferung eine Debatte über die Echtheit der Papiere entbrannt.

Während Fachleute wie der Extremismus-Forscher Peter Neumann vom King’s College (London) oder der Dschihad-Experte Will McCants vom Brookings Institute (Washington) die Dokumente für authentisch halten, zweifeln andere – wie der Forscher Charlie Winter von der Georgia State University (Atlanta) – an der Formularvorlage und an den verwendeten Symboliken. Dalia Ghanem-Yazbeck vom Carnegie Middle East Center im libanesischen Beirut etwa glaubt, die Dokumente seien „nicht so ausgereift“, wie andere zuvor publizierte IS-Papiere. Allerdings sei die unglaubliche Masse rekrutierter Personen beeindruckend.

Richard Barrett, ein ehemaliges ranghohes Mitglied des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 (Secret Intelligence Service, SIS), sagte zu dem Datenleck, dieses wäre eine „absolute Goldmine an Informationen“, sollte es tatsächlich echt sein.

Attentäter von Paris hinterließen in den IS-Dokumenten ebenfalls Spuren

Wie die deutschen Journalisten weiter herausfanden, enthalten die Akten der Terrorbande „Islamischer Staat“ auch die Namen mehrerer Attentäter von Paris. So berichtet der WDR in seiner Pressemitteilung, dass in den Papieren des IS auch die Namen von Samy Amimour, Fouad Mohamed Aggad und Ismael Omar Mostefai auftauchen. Die drei Terroristen waren am 13. November 2015 an dem Massaker in der französischen Hauptstadt beteiligt. Bei ihrer Einreise in den Bereich des IS in den Jahren 2013 und 2014 hätten sie lediglich angegeben, für die Bewegung kämpfen zu wollen. Auf dem Personalbogen hätte – wie bereits erwähnt – auch der Einsatz als Selbstmordattentäter angekreuzt werden können.

An anderer Stelle finde sich auch der Name des mutmaßlichen Kopfes der Terrorgruppe, Abdelhamid Abaaoud, teilte der WDR mit. Abaaoud habe offenbar mit seinem Kampfnamen „Abu Umar al-Baljiki“ als Bürge für die Einreise eines weiteren französischen Islamisten in den IS fungiert. Den Einreisebogen von Abaaoud selbst habe man bei einer ersten Analyse nicht in den Unterlagen entdecken können, so die Journalisten.

Einreisewelle im Dezember 2013 über die Türkei nach Syrien

Bemerkenswert sei auch eine offenkundige Einreisewelle französischer Dschihadisten, die am 18. Dezember 2013 gemeinsam in das Herrschaftsgebiet des „Islamischen Staates“ einreisten. Dazu der WDR: „Mindestens 14 Männer mit ihren Familien überquerten an jenem Tag mit demselben Schleuser und mit der Bürgschaft eines einzigen marokkanisch-stämmigen Dschihadisten die türkisch-syrische Grenze. Einer aus der Gruppe, Fouad Mohamed Aggad, mordete später im Pariser Bataclan. Damals starben allein in dem Konzerthaus 90 Menschen.“

Neben Abaaoud gehen französische Sicherheitsbehörden von einem weiteren Hintermann der Pariser Anschläge aus. Dieser soll sich während der Attentate in Syrien aufgehalten haben. Zu ihm suchten – so berichteten Zeugen später – einige Attentäter noch während der Tat telefonisch Kontakt: Abu Suleyman al-Faransi, alias Charaffe el-Mouadan. Auch sein Einreisebogen findet sich den Recherchen des Verbundes zufolge in den hochbrisanten Dokumenten.


Video-Hinweis: Das Video des britischen Nachrichtensenders sky NEWS informierte die Öffentlichkeit am 9. März 2016 über die Existenz der angeblichen IS-Dokumente, die die Personendaten von rund 22.000 Angehörigen der Terrorbewegung enthalten sollen. Die Daten stammen offenbar von Staatsbürgern 51 verschiedener Länder, so der Sender.
(Video: sky NEWS)

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Zu unserem Bildmaterial:
1. Teil der Dokumente aus dem Bereich der Terrororganisation „Islamischer Staat“, die angeblich dem britischen Nachrichtensender sky NEWS zugespielt worden sein sollen.
(Videostandbild: Video sky NEWS)

2. Abdelhamid Abaaoud, der Kopf der Pariser Terrorserie vom 13. November 2015. Er taucht in den IS-Dokumenten unter seinem Kampfnamen „Abu Omar Al-Beljiki“ auf.
(Bild: amk)


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