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Hamburg/Berlin/Erbil (Irak). Auf nordirakischen Waffenmärkten werden derzeit offenbar Sturmgewehre und Pistolen aus Bundeswehrbeständen angeboten, die aus offiziellen Lieferungen der Bundesregierung an die kurdische Autonomieregierung stammen könnten. Ein Team des NDR und WDR entdeckte dafür Belege in der kurdischen Autonomieregion; das Erste zeigte den Beitrag am vergangenen Donnerstag (21. Januar) in den Tagesthemen. Die Reporter – Volkmar Kabisch, Georg Heil und Amir Musawy – waren in den Städten Erbil und Suleimaniya auf mehrere Sturmgewehre des Typs G3 und auf eine Pistole vom Typ P1 mit eingravierter Abkürzung „Bw“ für „Bundeswehr“ gestoßen. Offenbar, so ihre Recherchen, verkaufen Peschmerga-Kämpfer ihre Dienstwaffen, weil sie wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage im Land seit Monaten keinen Sold mehr erhalten haben.

Das Reporterteam fand heraus, dass G3-Sturmgewehre, Baujahr 1986, auf den Waffenmärkten im Nordirak zu einem Preis zwischen 1450 und 1800 US-Dollar angeboten werden. Die Pistole P1 des deutschen Herstellers Walther lag im Schaufenster eines Waffengeschäftes in Suleimaniya, der zweitgrößten Stadt im irakischen Kurdengebiet, aus. Sie wurde für 1200 US-Dollar angeboten und war noch in einem Karton mit deutscher Beschriftung originalverpackt.

Laut Bundesministerium der Verteidigung hat die Armee des kurdischen Autonomiegebiets im Irak – Peschmerga – bislang rund 20.000 Sturmgewehre und 8000 Pistolen aus den Beständen der Bundeswehr erhalten.

Kurdische Autonomieregierung schuldet ihren Bediensteten Gehälter und Sold

In Berlin hatten die Journalisten von NDR und WDR zu Beginn ihrer Recherchearbeiten einen früheren Peschmerga-Kämpfer getroffen. Der Mann, der noch bis vor Kurzem im Fronteinsatz gegen die Terrorgruppierung des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) gestanden haben will, lebt jetzt mit seiner Familie als Asylbewerber in Deutschland.

Der Kurde erzählte, seine Dienstwaffe – eine Kalaschnikow – verkauft zu haben, um die Flucht nach Europa zu finanzieren. Angesichts ausstehender Soldzahlungen seit etwa fünf Monaten habe der Mann für sich und seine Familie keine Perspektive mehr im Nordirak gesehen, berichten die Autoren des Filmbeitrages. Der ehemalige Peschmerga-Angehörige habe zudem eingeräumt, dass viele seiner Kameraden Ähnliches planen würden oder bereits nach Deutschland geflohen seien.

Offiziellen Stellen in der kurdischen Autonomieregierung sei das Problem desertierter Peschmerga bekannt, so die Filmemacher. Der Gouverneur der Provinz von Kirkuk, Nadschmaldin Karim, habe ihnen gegenüber im Interview erklärt, die kurdische Regierung sei mangels finanzieller Mittel nicht in der Lage, Staatsbedienstete – darunter auch die Peschmerga – regelmäßig zu bezahlen.

Keine Hinweise auf einen „systematischen Missbrauch“ der deutschen Waffen

Die Bundesregierung hatte 2014 damit begonnen, die Peschmerga im Nordirak für ihren Kampf gegen den IS unter anderem mit Sturmgewehren, Maschinengewehren und Panzerabwehrraketen auszurüsten (wir berichteten). Außerdem wurden und werden Bundeswehrsoldaten in den Nordirak entsandt, um die Peschmerga zu trainieren.

Aktuell plant die Bundesregierung weitere Lieferungen von Waffen an die kurdischen Streitkräfte, die nächste voraussichtlich gegen Ende des ersten Quartals 2016.

Jens Flosdorff, Leiter des Presse- und Informationsstabes und Sprecher des Verteidigungsministeriums, erklärte am gestrigen Freitag (22. Januar) in der Regierungspressekonferenz in Berlin: „Es spricht derzeit viel dafür, dass zumindest zwei der in dem Bericht erwähnten Waffen aus einer deutschen Lieferung aus dem Jahre 2014 stammen.“ Allerdings gebe es überhaupt keinen Anhaltspunkt und keinerlei Hinweise auf einen „systematischen Missbrauch“ der gelieferten Waffen.

Flosdorff erinnerte die Medienvertreter auch noch einmal daran, dass die deutsche Unterstützung für die irakischen Kurden („die mit 90.000 Peschmerga an einer 1000 Kilometer langen Frontlinie dem IS gegenüberstehen und wirklich einen aufopferungsvollen Kampf führen“) eine „existenzielle Bedeutung“ hat. Damit sei auch klar, dass die Kurden „ein überragendes Eigeninteresse daran haben, dass sich solche Vorfälle nicht in der Art manifestieren, dass es zu einem systematischen Missbrauch oder Verlust von Waffen kommt“.

Der Ministeriumssprecher räumte aber auch ein: „Bei der großen Zahl von Waffen in diesem unübersichtlichen Gebiet und in dieser unübersichtlichen Konstellation in einem heiß umkämpften Konfliktgebiet kann niemand eine vollständige Kontrolle garantieren. Man kann aber erwarten, dass alles, was im Rahmen der Möglichkeiten liegt, unternommen wird, um solche Vorkommnisse zu vermeiden und zu verhindern.“ Die kurdische Regionalregierung sei darüber hinaus „bei jeder Gelegenheit“ auf die hohe Bedeutung der Waffen-Endverbleibserklärung für die Bundesregierung hingewiesen worden, versicherte er.

Auswärtiges Amt um rasche und konsequente Aufklärung bemüht

Martin Schäfer, Sprecher des Auswärtigen Amtes, bestätigte dies bei der Pressekonferenz in der Hauptstadt ebenfalls. Die Regionalregierung von Irak-Kurdistan habe immer wieder zugesichert, dass sie das gelieferte Material ausschließlich für den Kampf gegen den IS verwenden und nicht weitergeben wolle. Wenn es jetzt Hinweise darauf geben sollte, dass im Einzelfall deutsche Waffen in die falschen Hände geraten seien oder gar zum Verkauf angeboten würden, dann müsse dies rasch und konsequent aufgeklärt werden, so Schäfer.

Man habe deshalb auch „für den heutigen frühen Nachmittag den Vertreter der Regionalregierung ins Auswärtige Amt gebeten“, teilte Schäfer danach der Presserunde mit. Er betonte: „Wir erwarten, dass die Regionalregierung Kurdistans und die verantwortlichen Peschmerga diesen Vorwürfen unverzüglich und konsequent nachgehen und solche Praktiken, sofern sie sich bestätigen lassen, sofort und umfassend eingestellt werden.“

Linke und Grüne kritisieren erneut heftig die Politik der Bundesregierung

Die Opposition im Deutschen Bundestag fordert mittlerweile einen sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen an die Militäreinheiten der irakischen Kurden, die Peschmerga.

So verlangt Jan van Aken, Abgeordneter der Linksfraktion im Parlament und Experte für Waffenexporte, von der Regierung umgehende Aufklärung: „Ich will wissen, wie viele deutsche Waffen schon auf dem Schwarzmarkt gelandet sind.“ Es sei nicht auszuschließen, dass letztlich auch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ oder andere Islamistengruppen in den Besitz von Bundeswehrwaffen gelangen könnten, warnte der Politiker.

Die sicherheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Agnieszka Brugger, verurteilte den Verkauf deutscher Waffen auf Schwarzmärkten im Nordirak ebenfalls. „Unsere Befürchtungen haben sich leider bestätigt“, sagte sie der Mitteldeutschen Zeitung (Samstagsausgabe, 23. Januar). Es sei hochriskant, in ein Krisengebiet immer noch mehr Waffen zu liefern. Brugger fordert: „Die Bundesregierung muss spätestens jetzt diese gefährliche, fahrlässige Politik und ihre gespielte Blauäugigkeit beenden. Die Menschen im Irak brauchen nicht noch zusätzliche Waffen, sondern eine umfassende politische und wirtschaftliche Unterstützung.“

SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold will die von NDR und WDR aufgedeckten Fälle nicht dramatisieren. In einem Gespräch mit der Berliner Zeitung bezeichnete der Bundestagsabgeordnete mögliche Weiterverkäufe von Waffen aus Bundeswehrbeständen im Nordirak als Einzelfälle. Arnold: „Das ist kein Massenphänomen, das sind Einzelfälle.“ Man habe außerdem immer gewusst, dass die Waffenlieferungen in den Nordirak „nicht ohne Risiko“ seien. Allerdings blieben die deutschen Waffenlieferungen an die Kurden für den Kampf gegen den IS „alternativlos“.

Führung der Peschmerga droht Waffendealern mit empfindlichen Strafen

Der Fernsehbeitrag von Kabisch, Heil und Musawy zeigt Wirkung, auch wenn letztendlich die Beweislage für nordirakische Schwarzmarktgeschäfte mit Bundeswehrwaffen in größerem Stil dünn blieb (die Recherchen in den beiden Großstädten Erbil und Suleimaniya förderten ja lediglich „mehrere“ ältere G3-Sturmgewehre und eine verpackte P1-Pistole zutage).

Immerhin sorgte der Film des Reporterteams für eine umgehende Reaktion der Bundesregierung. Und der Termin, den wohl ein Vertreter der kurdischen Regionalregierung in der Angelegenheit am gestrigen Freitagvormittag im Auswärtigen Amt wahrnehmen musste, hat anscheinend diplomatischen Druck aufgebaut.

Denn bereits am heutigen Samstag (23. Januar) berichtete der kurdische Fernsehsender Rûdaw in seinem Onlineportal, dass das Streitkräfteministerium der Regionalregierung inzwischen eine eigene Untersuchung eingeleitet habe. Ein Ministeriumssprecher kündigte an, dass jeder Militärangehörige, der seine Waffen nicht für den Kampf gegen den IS nutze, sondern zweckentfremde, mit einem Verfahren vor einem Militärgericht zu rechnen habe.

„Wenn wir herausfinden sollten, dass ein ehemaliger Peschmerga-Kämpfer seine Waffe verkauft und das Land verlassen hat, so werden wir sogar Interpol für dessen Ergreifung einschalten“, kündigte der Sprecher an. Das Peschmerga-Ministerium habe die Waffenmärkte in Erbil und in Suleimaniya außerdem ausdrücklich vor dem An- und dem Verkauf von Waffen aus Bundeswehrbeständen gewarnt.

Rûdaw Media Network ist zwar ein privatrechtlicher Fernsehsender. Aber das Unternehmen, das seinen Sitz in Erbil hat, steht der Demokratischen Partei Kurdistans (Partiya Demokrat a Kurdistanê, PDK) und Nechirvan Barzani nahe. Dieser ist der Neffe des derzeitigen Präsidenten der irakischen Kurdenregion, Masud Barzani, der auch die PDK führt. Nechirvan Barzani ist zudem seit 2012 Ministerpräsident der kurdischen Regionalregierung. Die Botschaft des Rûdaw-Beitrages dürfte sich demnach vor allem an die Partner in Deutschland richten.


Unsere Bildsequenz:
1. Den Beitrag „Bundeswehrwaffen auf dem Schwarzmarkt im Nordirak“ von Volkmar Kabisch, Georg Heil und Amir Musawy zeigte das Erste am 21. Januar 2016 in seinen Tagesthemen.
(Videostandbild: Quelle Tagesthemen/ARD)

2. Reporter Amir Musawy auf einem Waffenmarkt bei Erbil im Nordirak, in Händen ein G3-Gewehr.
(Foto: NDR, WDR)

3. Auf diesem Bild ist unter anderem die eingravierte Abkürzung „Bw“ für „Bundeswehr“ zu sehen. Das deutsche Sturmgewehr hatte das ARD-Rechercheteam zusammen mit „mehreren“ anderen G3-Sturmgewehren vor den Toren Erbils entdeckt.
(Videostandbild: Quelle Tagesthemen/ARD)

4. Peschmerga-Kämpfer im Januar 2016 bei der Kampfmittelausbildung, im Vordergrund ein Instrukteur der Bundeswehr. Einige der Kurden (links) sind mit dem Sturmgewehr G3 ausgerüstet.
(Foto: Sergio Rangel/982nd Combat Camera Company Airborne/U.S. Army)


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