Berlin. „Totgesagte leben länger“: Dieses Sprichwort beschreibt – vertraut man den aktuellen Informationen aus Sicherheitskreisen – wohl trefflich den augenblicklichen Zustand der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS). Zwar sind die Dschihadisten seit Wochen in ihren Kerngebieten im Irak und in Syrien auf dem Rückzug. Dafür aber demonstrieren sie weiterhin mit verheerenden Auslandsattentaten, vor allem in westlichen Ländern, ihre unberechenbare Schlagkraft. Am Montag dieser Woche (2. Mai) diskutierte ein international besetztes Symposium des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) in Berlin über die globale Bedrohung durch den IS, über Herausforderungen und Auswirkungen für und auf Sicherheitsbehörden und Gesellschaft.
Presseberichten zufolge hatte die Extremistenmiliz Ende März im Irak bereits rund 40 Prozent ihres eroberten Gebietes verloren, in Syrien rund 20 Prozent. Mehr als 10.000 IS-Kämpfer sollen bis zu diesem Zeitpunkt schon getötet worden sein. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis das „Kalifat des Schreckens“ untergeht. Aber: Es gibt für uns keine Entwarnung! Experten wie Peter Neumann, Direktor des Internationalen Zentrums für Radikalisierungsstudien (International Centre for the Study of Radicalisation, ICSR) am Londoner King’s College, sind sich sicher, dass der Terror des sogenannten „Islamischen Staates“ die Welt noch lange drangsalieren wird. Auch wenn der IS im Irak und in Syrien bezwungen werden sollte, „müsste man sich noch Jahrzehnte mit den Folgen“ der Aktivitäten dieser Dschihadistenorganisation befassen, fürchtet Neumann.
Der ICSR-Gründer und Experte für islamistischen Terrorismus zählte zu den zahlreichen „Hochkarätern“ des Berliner Symposiums. Mit Neumann diskutierten am Montag in der Hauptstadt weitere ausgewiesene Kenner der Materie aus Politik, Wissenschaft, dem Bereich der Sicherheitsbehörden und der Medien über die globale Bedrohungssituation durch die Terrorbewegung „Islamischer Staat“.
Am BfV-Symposium nahmen etwa 300 Zuhörer teil. In seiner Eröffnungsrede sprach Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesamtes, über die „Dimension und Szenarien des islamistischen Terrorismus in Deutschland und Europa“. Er erklärte: „Die globale Agenda des IS richtet sich gegen westliche – und damit auch gegen deutsche – Interessen. An den Anschlägen in Paris und Brüssel waren dort aufgewachsene Islamisten, Rückkehrer aus Kriegsgebieten und angebliche Flüchtlinge beteiligt. Diese Verzahnung zeigt das hochkomplexe Vorgehen des islamistischen Terrorismus in Europa. Wir müssen künftig multiple Anschlagsszenarien einkalkulieren – durch mehrere Zellen, gegen verschiedene Ziele und möglicherweise über mehrere Tage.“
Der IS sei nicht nur verantwortlich für einen globalen Terror, er sei auch mitursächlich für eine bislang ungeahnte Flüchtlingswelle, so Maaßen weiter. Dieser Flüchtlingsstrom stelle die Sicherheitsbehörden in Europa vor immense Herausforderungen. Er sei außerdem ein Push-Faktor für die Angriffe von Rechtsextremisten und führe so zu Verwerfungen in demokratischen Gesellschaften.
Wie Neumann und andere Experten, die im Verlaufe der Veranstaltung vor trügerischen Hoffnungen warnten, so riet auch der BfV-Präsident dringend dazu, die aktuellen Gebietsverluste des IS im Irak und in Syrien richtig zu bewerten. Die Dschihadisten seien längst nicht besiegt. Sie versuchten derzeit vielmehr, in anderen Regionen Fuß zu fassen – etwa in Afghanistan, in Nigeria, in Mali, im Jemen oder in Libyen.
Hinzu käme ein Strategiewechsel seit dem Terroranschlag auf die Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 in Paris. So seien die Anschlagserien am 13. November 2015 in Paris und am 22. März 2016 in Brüssel erste „multiple Attentate mit Kriegswaffen“ gewesen, urteilte Maaßen. Beim IS gehe es um Terrorismus als Teil einer asymmetrischen militärischen Konfrontation. Nun sei es für die erfolgreiche Bekämpfung dieses islamistischen Terrors umso wichtiger, einen „nationalen und internationalen Erkenntnisaustausch“ zu führen. „Den grenzüberschreitend agierenden Tätergruppen müssen wir durch eine vertiefte internationale Kooperation der Sicherheitsbehörden begegnen“, forderte Maaßen einmal mehr auch bei diesem Symposium.
Er teilte auch mit, dass „täglich bis zu vier“ Hinweise auf mögliche islamistische Attentate in Deutschland bei den Sicherheitsbehörden eingingen. Die entsprechenden Informationen kämen auch von ausländischen Diensten. Es gehe darum, so der Verfassungsschutzpräsident, nun „die Spreu vom Weizen“ zu trennen. Hierzu würden hervorragende Analysten benötigt sowie eine intensive internationale Zusammenarbeit.
Nach Angaben Maaßens sind derzeit rund 800 Personen aus Deutschland in die Kampfgebiete nach Syrien ausgereist. In Deutschland selbst zählen die Behörden zurzeit etwa 8650 Salafisten (Anm.: Der religiöse Salfismus ist eine Strömung innerhalb des Islam und Teil des fundamentalistischen Spektrums; dschihadistische Salafisten wollen die Gesellschaft unter ausdrücklicher Einbeziehung von Gewaltanwendung verändern.)
Am Montagvormittag sprachen bei der Veranstaltung in der Hauptstadt zunächst US-Botschafter John B. Emerson („The Global Campaign Against ISIL“) und Staatssekretärin Emily Haber vom Bundesinnenministerium („Islamistischer Terrorismus als Herausforderung für unsere offenen Gesellschaften“). Rob Bertholee, Leiter des niederländischen Inlands- sowie Auslandsgeheimdienstes (Algemene Inlichtingen- en Veiligheidsdienst, AIVD), befasste sich danach mit der europäischen Dimension der Terrorabwehr („Counter Terrorism in a European context“). Gerhard Conrad, Leiter des europäischen Analysezentrums INTCEN (EU Intelligence Analysis and Situation Centre; ein Organ des Europäischen Auswärtigen Dienstes), erläuterte den Beitrag seiner Behörde „zum Lageverständnis auf europäischer Ebene“.
Es folgten am Nachmittag des Symposiums die beiden Foren zu den Themenkomplexen „Die sicherheitspolitische Dimension – Gefährdungslage und Terrorismusabwehr“ und „Die gesellschaftspolitische Dimension – Radikalisierung und Integration“.
Es diskutierten im Forum 1 miteinander: Thomas Haldenwang (Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz), Guido Müller (Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes), Holger Münch (Präsident des Bundeskriminalamtes), Prof. Dr. Peter Neumann (Direktor des ICSR) und Georg Mascolo (Leiter Rechercheverbund NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung). Im Forum 2: Catrin Rieband (Ständige Vertreterin der Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz), Prof. Dr. Volker Perthes (Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik), Ahmad Mansour (Psychologe), Dr. Asiem El Difraoui (Politologe und Mitbegründer der Candid Foundation Berlin) und Nicolas Hénin (Publizist).
Zwischen den beiden Foren, die übrigens von Rolf Clement (sicherheitspolitischer Korrespondent des Deutschlandfunks) moderiert wurden, äußerte sich auch Bundeskanzleramtschef Peter Altmaier.
Der Bundesminister für besondere Aufgaben sagte in seiner Keynote: „Wir werden die globale Bedrohung durch den Terror nur bewältigen können, wenn wir sowohl innerhalb Deutschlands wie auch innerhalb Europas und weltweit eine bessere und intensivere Zusammenarbeit der Nachrichtendienste, der Polizei und der Staatsanwaltschaften zustande bringen.“ Altmaier versicherte, die Bundesregierung werde sich für eine Beschleunigung des internationalen Datenaustauschs zwischen den Sicherheitsbehörden einsetzen. Europa sei noch weit davon entfernt, dass vorhandene Daten in verantwortlicher Weise für die Behörden nutzbar gemacht werden könnten. In den nächsten Monaten wolle man einen besseren Informationsaustausch erreichen.
Video-Hinweis: Das YouTube-Video von phoenix zeigt Bundeskanzleramtsminister Peter Altmaier bei seiner Rede am 2. Mai 2016 anlässlich des Berliner Symposiums des Bundesamtes für Verfassungsschutz zum Thema „Der ,Islamische Staat‘ – eine globale Bedrohung“. phoenix ist der Ereignis- und Dokumentationskanal von ARD und ZDF.
(Video: phoenix)
Die Aufnahme zeigt den Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, bei seiner Rede am 2. Mai 2016 zur Eröffnung des Berliner Symposiums.
(Foto: Bundesamt für Verfassungsschutz)