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Straßburg (Frankreich)/Hamburg. Vor mehr als einem Jahr annektierte Russland die ukrainische Halbinsel Krim. International löste dieser Bruch des Völkerrechts Entsetzen aus. Ulrich Kühn, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (IFSH) an der Universität Hamburg, schrieb im Mai in seinem Beitrag für ein „Russland-Dossier“ der Bundeszentrale für politische Bildung: „Die Annexion der Krim und der darauf folgende Krieg in der Ukraine stehen sinnbildlich für den fast vollständigen Zusammenbruch kooperativer Sicherheitsstrukturen in Europa. Was in mühsamer diplomatischer Kleinstarbeit über viele Jahrzehnte errichtet wurde, erodiert seit nunmehr 15 Jahren zunehmend.“ Über die aktuelle Situation äußerte sich vor Kurzem auch der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, der Rumäne Ioan Mircea Paşcu. Er bezog sich dabei auf einen aktuellen Parlamentsbericht über die Schwarzmeerregion und deren Bedeutung für Europa …

Das Parlament und Gremien wie der Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten haben sich längere Zeit schon ausführlich mit der „strategisch militärischen Lage im Schwarzmeerraum“ befasst. In einem zwölf Seiten starken Dokument (erschienen am 21. Mai) wird nun unter anderem „mit Besorgnis“ festgestellt, dass „die rechtswidrige Annexion der Krim zu einer einschneidenden Veränderung der strategischen Landschaft im Schwarzmeerraum und den angrenzenden Gebieten“ geführt habe. Weiter wird „warnend“ darauf hingewiesen, dass sich „Russland durch die Besatzung der gesamten Halbinsel Krim eine zentrale Ausgangsbasis in Richtung Westen (Balkan-Halbinsel, Transnistrien und Donaumündung) und Süden (östlicher Mittelmeerraum) mit ständigen Marinespezialkräften“ geschaffen habe.

Durch die Krim-Annexion sei Russland zudem in den Besitz eines „Kaliningrads im Süden“ gelangt – ein weiterer Außenposten, der direkt an NATO-Gebiet grenze.

Sicherheitsstrategie für Europa muss überarbeitet werden

In dem Bericht vertreten die Europaparlamentarier ferner die Überzeugung, dass die „Veränderung der geostrategischen Landschaft, die sich wandelnde militärische Lage im Schwarzmeerraum und die gewaltsame Annexion der Krim durch Russland auf größere und systemische Herausforderungen für die Sicherheitsarchitektur Europas, die auf den für die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges geltenden Normen basiert, hindeuten“.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten müssten deshalb nun, so der Parlamentstext weiter, diesen Herausforderungen mit einem sicherheitspolitischen Konzept begegnen und ihre Außen- und Sicherheitspolitik entsprechend neu ausrichten. Dies müsse sich in einer überarbeiteten Sicherheitsstrategie für Europa, in der Strategie für maritime Sicherheit in Europa und in der Schwarzmeerstrategie der EU niederschlagen.

Ein „erhebliches Risiko“ stelle auch der verstärkte Druck dar, der von Russland an den EU-Ostgrenzen auch auf Rumänien, Polen und die baltischen Länder ausgeübt werde.

Juni-Plenum des Europäischen Parlaments verabschiedete Resolution

Die Beziehungen zwischen der EU und Russland waren eines der Hauptthemen des Juni-Plenums des Europäischen Parlaments im französischen Straßburg.

Am Mittwoch dieser Woche (10. Juni) forderten dort die Abgeordneten mit einer Entschließung die Europäische Union auf, eine einheitliche Position zur rechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland zu beziehen. Die EU müsse einen Plan entwickeln, um der aggressiven und spaltenden Politik des Kremls entgegenzutreten, so die Kernforderung.

Am nächsten Tag appellierten die Parlamentarier an die Union und an den Europäischen Auswärtigen Dienst in einer Resolution (basierend auf dem zuvor bereits zitierten Bericht), eine umfassende Sicherheitsstrategie für die Region des Schwarzen Meeres auszuarbeiten.

Russlands stärkt auf der Krim seine militärische Offensivposition

Ioan Mircea Paşcu, Vizepräsident des Europäischen Parlaments und Mitglied der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion (er vertritt dort die rumänische Partidul Social Democrat), nahm am 11. Juni in einem Interview mit dem Mediendienst des EU-Parlaments kurz Stellung zu der Thematik „Schwarzmeerregion“. Wir haben den Text übersetzt.

Herr Paşcu, wie wichtig ist der Schwarzmeerraum für die Sicherheitsinteressen der Europäischen Union und wie hat die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland die Lage insgesamt verändert?
Ioan Mircea Paşcu: Vor der rechtswidrigen Annexion der Krim gab es in Sewastopol lediglich eine Basis der russischen Flotte. Außerdem waren dort noch zu Verteidigungszwecken einige kleinere Einheiten stationiert. Jetzt – innerhalb eines Zeitraumes von gut einem Jahr – ist dort eine militärische Schlagkraft konzentriert, die sich massiv auf den Nahen Osten, den Balkan, Zentraleuropa oder andere Gegenden auswirken kann. Unser Bericht über die strategische militärische Lage im Schwarzmeerraum nach der Krim-Annexion durch Russland will nun das Bewusstsein der Europäischen Union für die Bedeutung dieser Region schärfen. Der Bericht kommt außerdem zu einem Zeitpunkt, an dem wir unsere Verteidigungs- und Sicherheitsstrategien nachjustieren müssen. Die Stationierung russischer Flottenkräfte auf der Krim, der Ausbau der militärischen Infrastruktur auf der Halbinsel und die Modernisierung der Schwarzmeerflotte insgesamt durch Russland ist eine große Herausforderung für unsere Sicherheit. Diese gesamte Entwicklung darf auch keinesfalls von der NATO unterschätzt oder, was viel schlimmer wäre, ignoriert werden.

Sanktionen, Dialogbereitschaft und Sicherheitsgarantien

Steht uns, nach allem, was geschehen ist und wie sich die Dinge entwickeln, ein neuer Kalter Krieg bevor?
Paşcu: Nein, keinesfalls. Dafür ist die Intensität der Wechselbeziehung zwischen der EU und Russland einfach zu stark. Anders als noch als zu Zeiten der Sowjetunion ist heute das Verhältnis des Westens zu Moskau viel komplexer. Die Frage, die sich uns jetzt stellt, ist, wie wir auf ein aggressives Russland reagieren sollen.

Nach der Annexion der Halbinsel Krim hat die EU harte Sanktionen gegen Russland verhängt – Einreiseverbote, Kontensperrungen, Wirtschaftssanktionen. Die Staats- und Regierungschefs der führenden Industrienationen haben jetzt im Juni bei ihrem Gipfeltreffen im G7-Format auf Schloss Elmau noch strengere Maßnahmen gegen Russland beschlossen, sollte die Lage in der Ostukraine weiter eskalieren. Welche Möglichkeiten verblieben dem Westen danach eigentlich noch, um weiter auf die Krise reagieren zu können?
Paşcu: Die Sanktionen sollten nach wie vor Bestand haben, gleichzeitig aber sollten auch die Dialogkanäle mit Russland offenbleiben und genutzt werden. Außerdem sollen und müssen weiterhin die Sicherheitsgarantien – kurz „strategic reassurance“ oder „Rückversicherung“ – für die östlichen Mitgliedsländer der EU und NATO gelten. Einige Leute würden liebend gerne die Kooperation mit Russland fortsetzen. Das wäre sicherlich nicht unvernünftig. Aber wie soll das gehen, ohne dass sich Russland dadurch ermutig fühlte, wie bisher weiterzumachen und möglicherweise künftig sogar noch mehr zu riskieren?

Braucht die „europäische Sicherheit“ einen kompletten Neustart?

Kehren wir zum Schluss noch einmal kurz zu Ulrich Kühn und seiner Analyse des Ukrainekrieges und der europäischen Sicherheitsarchitektur zurück. Der IFSH-Mitarbeiter ist der Meinung: „Das grundsätzliche Problem ist, dass es nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht gelang, gemeinsam mit Russland eine Sicherheitsarchitektur zu errichten, die gleichermaßen den westlichen wie auch den russischen Macht- und Sicherheitsinteressen entspricht.“ Die europäische Sicherheit brauche folglich einen Neustart, rät er. Mittelfristig jedenfalls sei der derzeitige Zustand für keine der Seiten haltbar.

Kühn sieht drei Möglichkeiten: „Der Westen kann sich grundsätzlich entweder für eine vorsichtige Wiederannäherung an Russland, für eine kollektive Eindämmung Moskaus oder für eine möglichst geschickte Kombination aus beiden Strategien entscheiden.“


Die beiden Fotos zeigen:
1. Die ukrainische Fregatte „Hetman Sahajdatschny“ (U130) im Juli 2012 in Sewastopol auf der Krim. Ihr Heimathafen war bis März 2014 die ukrainische Marinebasis in Sewastopol. Seit der Annexion der Halbinsel ist das Schiff im ukrainischen Hafen Odessa stationiert.
(Foto: Alexxx Malev)

2. Ioan Mircea Paşcu, Vizepräsident des Europäischen Parlaments.
(Foto: Europäisches Parlament/Europäische Union)


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