München/Berlin. Wie viele Soldaten und Zivilangestellte der Bundeswehr und der NVA mit Radaranlagen zu tun hatten, dabei teilweise der Hochfrequenz- und der Röntgenstrahlung der Geräte ausgesetzt waren und später an Krebs erkrankten, wird sich wohl nie genau ermitteln lassen. Der Spiegel beispielsweise schätzte vor Kurzem, dass „Tausende frühere Bundeswehr-Mitarbeiter Krebs bekommen haben“. Bereits im Juni 2006 hatte der Deutsche Bundeswehr-Verband in seiner Mitgliederzeitschrift Die Bundeswehr darüber berichtet, dass zum damaligen Zeitpunkt die Streitkräfte bei 679 von 3500 Stellern eines Entschädigungsantrags den Zusammenhang einer Krebserkrankung mit ihrer dienstlichen Tätigkeit anerkannt hatten. Jetzt hat auch ein an Krebs erkrankter früherer Radarmechaniker der deutschen Luftwaffe nach jahrelangem Kampf gegen Bürokratie und Sachverständigentum einen Sieg vor Gericht errungen. Die Bundeswehr muss nach einem Urteil des 15. Senats des Bayerischen Landessozialgerichts das Nierenkarzinom des Mannes als Schädigungsfolge seines Militärdienstes anerkennen.
Mit der am Donnerstag dieser Woche (7. Mai) bekanntgegebenen Entscheidung wurde das bereits am 19. November 2014 verkündete Urteil (L 15 VS 19/11) des Bayerischen Landessozialgerichts rechtskräftig. Eine Revision wurde nicht zugelassen.
Die Richter bestimmten: „Die Beklagte [Anm.: Bundesrepublik Deutschland] wird verurteilt, das Nierenkarzinom und den aus der operativen Behandlung resultierenden Verlust der linken Niere, der Milz und eines Dickdarmteils infolge eines Nierenkarzinoms sowie das Schilddrüsenadenom und die Schilddrüsenüberfunktion als Folgen einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen.“
Der Kläger war als Berufssoldat bei der Bundeswehr als Radarmechaniker – zuletzt als Radarmechanikermeister – tätig und dabei auch am F-104 G Starfighter eingesetzt. An den Maschinen betreute er unter anderem das analoge Navigations- und Feuerleitradar NASARR (North American Search and Ranging Radar), das in den Jahren 1961 bis 1966 von einem europäischen Konsortium in Lizenz der US-Firma Autonetics gebaut worden war.
Im November 2002 beantragte der Mann, der im März 2004 die Bundeswehr verließ, die Feststellung von Schädigungsfolgen nach dem Soldatenversorgungsgesetz für eine Erkrankung der Schilddrüse und ein Nierenzellkarzinom. Die beklagte Bundesrepublik Deutschland lehnte dies mit Bescheid 2003 und Beschwerdebescheid 2008 ab, weil der Kläger bei seiner Tätigkeit als Radarmechaniker zwar Röntgenstrahlung und radioaktiver Leuchtfarbe ausgesetzt gewesen sei, die Gesamtdosis der Strahlenbelastung aber für die gesundheitliche Schädigung nicht ausreiche. Ein Ursachenzusammenhang sei nicht wahrscheinlich.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Augsburg wurde ein Gutachten nach Paragraf 109 SGG (Sozialgerichtsgesetz) eingeholt, das die Ansprüche des Klägers stützte. Das Sozialgericht lehnte jedoch den Anspruch des Klägers im Jahr 2011 ab, weil dieser nach den vorliegenden Strahlenmessungen der Beklagten „nur im oberen Bereich des Oberkörpers einer Strahlung ausgesetzt gewesen sei und eine Schädigung der Niere daher nicht durch die Strahlung verursacht worden sein“ könne.
Das Bayerische Landessozialgericht hat die Entscheidung des Augsburger Sozialgerichts und der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, das Nierenzellkarzinom und die daraus resultierenden Folgen sowie das Schilddrüsenadenom nun endlich als Wehrdienstschädigung anzuerkennen.
Der 15. Senat stützte sich dabei auf das erstinstanzlich eingeholte Gutachten, das im Einklang mit den Vorgaben des am 2. Juli 2003 veröffentlichten Berichts der „Expertenkommission zur Frage der Gefährdung durch Strahlung in früheren Radareinrichtungen der Bundeswehr und der NVA“ (Radarkommission) stehe. Das Nierenzellkarzinom sei hinreichend wahrscheinlich auf die Strahlenexposition des Klägers als Radarmechaniker zurückzuführen. Seine Schilddrüsenerkrankung sei im Sinne einer sogenannten Kannversorgung als Folge einer Wehrdienstschädigung anzuerkennen.
Der Senat des Bayerischen Landessozialgerichts hatte sich auch ausführlich mit den Einwendungen der Beklagten gegen das Gutachten auseinandergesetzt und dabei kritisch Stellung zu dem prozessualen Vorgehen der Beklagten insgesamt genommen. Es kommt einer schallenden Ohrfeige gleich, wenn der Senat in seinem Urteil der Bundeswehr vorwirft, durch „irreführende“ und „nachweislich falsche“, ja „fast groteske“ Argumentationen und Behauptungen zu dem Verfahren beigetragen zu haben.
Dem seitens des Dienstherrn aufgebotenen Leiter der Strahlenmessstelle der Bundeswehr schreibt das Bayerische Landessozialgericht den bitteren Vermerk „wahrheitswidriger Vortrag“ ins Stammbuch. Der darauf auch noch folgende Hinweis der Richter spricht Bände: „Ob und inwieweit angesichts eines derartigen Verhaltens auch weitere Angaben der Beklagten nicht nur in diesem gerichtlichen Verfahren genauerer Nachprüfung bedürfen, sei an dieser Stelle mangels Entscheidungserheblichkeit dahingestellt.“
Besonders erzürnt hat den Senat offenbar die unverhohlene Voreingenommenheit des Bundes gegenüber dem auf Antrag des Klägers bestellten Sachverständigen. Dazu heißt es in dem Urteil aus München: „Wenn die Beklagte bereits vor Erteilung des Gutachtensauftrags dem Gericht […] mitgeteilt hat, dass sie mit der Einholung eines Gutachtens bei Prof. Dr. G. ,nicht einverstanden‘ sei, da er ,sehr spezielle Ansichten‘ vertrete, zudem […] das Gericht darüber informiert hat, dass die Bundeswehr ,diesem Gutachten nicht folgen‘ werde, und schließlich mit Schreiben der ,Schwerpunktgruppe Radar‘ […] diesem Sachverständigen pauschal jegliche fachliche Eignung abgesprochen hat, sind diese Einwände nicht ansatzweise nachvollziehbar und nicht auf Fakten gestützt.“ Vielmehr beruhten diese Einwände ausschließlich auf sachfremden Unterstellungen, Mutmaßungen und subjektiven Meinungsäußerungen von Vertretern der Beklagten, wie sie in einem gerichtlichen Verfahren keinen Raum haben könnten, so das Gericht weiter.
Der „Vollständigkeit halber“ wies der Senat an dieser Stelle auch darauf hin, dass der Sachverständige Mitglied der Radarkommission war. „Ihm angesichts dieser Berufung fehlende Sachkenntnis zu unterstellen, überrascht und würde auch die Kompetenz der Beklagten in Gestalt des Bundesministeriums der Verteidigung, das die Radarkommission eingesetzt hat, massiv infrage stellen.“
Die heftige Kritik des Bayerischen Landessozialgerichts gipfelt schließlich in der Bemerkung: „Die Vorwürfe und Vorhaltungen der Beklagten entbehren […] jeglicher sachlicher Grundlage und können nur auf rein subjektiven Gründen beruhen. […] Es liegt der Eindruck sehr nahe, dass die Beklagte die einschlägigen Vorgaben des Berichts der Radarkommission falsch darstellt, um berechtigte Ansprüche des Klägers abzuwehren.“
Von den rund 2950 Fällen einer Schädigung durch Radarstrahlung, die bislang durch die Bundeswehrverwaltung bearbeitet wurden beziehungsweise werden, weisen 42 Fälle eine Bearbeitungsdauer von zehn Jahren oder mehr auf. 15 dieser Fälle sind noch nicht abgeschlossen (die Bearbeitungsdauer umfasst in allen diesen Fällen auch die Dauer der Gerichtsverfahren). Diese Zahlen nannte die Bundesregierung am 12. Februar dieses Jahres auf eine parlamentarische Anfrage der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen hin. Sie sei bestrebt, versicherte die Bundesregierung, die Verfahrensdauer in allen Radarfällen möglichst kurz zu halten.
Soweit es zu längeren Bearbeitungszeiten gekommen sei, sei dies in der Regel auf komplexe Einzelfälle mit zeitaufwändigen Sachverhaltsermittlungen zurückzuführen. Eine große Anzahl von Einzelverfahren sei darüber hinaus im Zusammenhang mit konkurrierenden Risikofaktoren (beispielsweise Alkohol- und Nikotinabusus) zugunsten der Antragsteller einer erneuten Überprüfung unterzogen worden.
Der im Jahr 2001 gegründete Verein „Bund zur Unterstützung Radargeschädigter“ hält die Art und Weise, wie Bundeswehr und Wehrverwaltung mit den Betroffenen umgehen, für inakzeptabel. Vorsitzender Dietmar Glaner erinnert immer wieder an ein Versprechen des früheren Verteidigungsministers Rudolf Scharping, der vor gut 14 Jahren den Geschädigten eine „schnelle, großherzige, unbürokratische Lösung“ zugesichert hatte. Bis jetzt jedoch seien die verantwortlichen Stellen ihrer Fürsorgepflicht nur unzureichend nachgekommen.
Teilweise zögen sich Antragsverfahren der betroffenen Bundeswehr- und NVA-Angehörigen bereits mehr als zehn Jahre, in Einzelfällen sogar bis zu 30 Jahren hin, beklagt Glaner. Man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es noch keinem Verteidigungsminister gelungen sei und wahrscheinlich auch nicht gelingen werde, die Ministerialbürokratie dem politischen Willen zu unterwerfen. Offensichtlich überwiege dort das Interesse, eine Mitverantwortung für die gesundheitlichen Schädigungen durch Radarstrahlen strikt abzulehnen, um ja keine versorgungsrechtlichen Anpassungen vornehmen zu müssen. „Die Radarstrahlenproblematik in der Bundeswehr ist eine unendliche Geschichte“, empört sich die Interessenvertretung.
In der ersten Februarwoche dieses Jahres fand ein Bundeswehr-Fachsymposium „Radar“ mit namhaften externen Wissenschaftlern statt. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob es „seit der Veröffentlichung des Radarkommissionsberichts 2003 neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verursachung von Erkrankungen durch Radarstrahlung gibt, die eine Veränderung der derzeitigen Entschädigungspraxis angezeigt erscheinen lassen“.
Sobald die Veranstaltungsergebnisse vorliegen, sollen sie im Hinblick auf ihre Bedeutung für mögliche gesetzliche Ansprüche ausgewertet werden. Man darf gespannt sein …
Unser Bildmaterial:
1. Figur der Justitia – Darstellung am historischen Stadthaus der niederländischen Gemeinde Appingedam.
(Foto: amk)
2. Starfighter des Jagdgeschwaders 74 im Juni 1965; das kleine Bild zeigt einen Mechaniker an der NASARR-Radarnase.
(Starfighter-Foto: Berretty/Bundesarchiv)
Kleines Beitragsbild: Bayerisches Landessozialgericht in der Ludwigstraße in München.
(Foto: Andreas Praefcke)
So ist die Bundeswehr: schön alles unter den Teppich schieben. Darum hat die auch das Rechtsproblem.